Ein Teil der Samen -Reflexion über die Europareise der Zapatistas (Teil 2 von 2)

15. September 2022

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Gastbeitrag

Von Thüringer Vernetzung vom Netz der Rebellion

Die indigene Rebell*innen aus Südmexiko, die Zapatistas, haben letztes Jahr eine Delegation von 180 Personen auf Europareise geschickt – um zuzuhören und ihr Wort zu verbreiten. Seit 1983 organisieren sich die Zapatistas unabhängig vom mexikanischen Staat, nachdem dieser die indigene Bevölkerung jahrhundertelang getötet, missachtet und verraten hat. Seitdem haben die Zapatistas ihre eigenen Strukturen aufgebaut, angefangen bei einer autonomen, basisdemokratisch organisierten Regierung bis hin zu eigenen Gesundheits- und Bildungszentren und diversen Kollektivbetrieben. So konnten sie die Lebensbedingungen in ihren Gemeinden stark verbessern. Aktuell sind die Gemeinden wieder einmal stark von Angriffen durch den Staat und seine Paramilitärs betroffen und werden zusätzlich zunehmend von Drogenkartellen bedroht. In diesem Text beschreiben wir, die Thüringen-Vernetzung zur Organisation der Reise, welche Erkenntnisse wir aus dem Besuch von insgesamt 11 Compañeras und Compañeros in der Kommune Walterhausen mitnehmen, welche Fragen sich für uns aufgeworfen haben und wie wir das alles auf die Bewegung von links und unten hier in Deutschland beziehen. (Teil 2 von 2, Teil 1 findet ihr hier)

Individuum – Gemeinschaft – System

Auch bei einer unserer Gesprächsrunden zu Gewalt an Frauen wurde deutlich, wie sehr wir Probleme individualisieren. Übt ein Zapatista-cis-Mann Gewalt aus (verbale, körperliche etc.), so bleibt das weder im Privaten, noch führt es automatisch zu einer Distanzierung von der Person und zu seinem Ausschluss. Es geht vielmehr um eine Distanzierung von dessen Verhaltensweisen, um das kollektive Thematisieren davon, dass dies falsch war. Das macht es leichter für den Einzelnen, selbst Fehler einzugestehen. Dies ist in unserem Umfeld häufig schwieriger, weil uns Mechanismen für diese Bearbeitung fehlen und weil häufig gleich die Angst aufkommt, ein Schuldgeständnis könnte den Verlust des sozialen Umfelds bedeuten.

Auch für die Meinungsbildung ist das Kollektiv die Basis, ob in Chiapas (Südmexiko), um Fragen der Selbstverwaltung zu diskutieren, oder auf der Reise. Vielen von uns fiel auf, wie selbstverständlich die Zapatistas sich bei jeder öffentlich an sie gerichteten Frage kurz untereinander absprachen, wie nahtlos sie gemeinsam dieselbe Geschichte erzählen konnten, wie selten sie individuelle Meinungen äußerten. Für sie ist klar: Ein Standpunkt ist umso wertvoller, je mehr Perspektiven darin eingeflossen sind, je mehr Einzelmeinungen er beinhaltet. Das heißt keineswegs, dass die individuelle Meinung übergangen wird, im Gegenteil: In kleinen vertrauten Gruppen hat jede Meinung Platz, auch die einer schüchternen Person. Aufgabe des Kollektivs ist es, sich einen Standpunkt zu erarbeiten, in dem sich alle abgebildet finden. Wenn dann auf der nächsten Ebene, etwa der Dorfversammlung, die Standpunkte zusammengebracht werden, vertritt niemand mehr eine individuelle Meinung, sie ist in der Meinung der eigenen Gruppe enthalten. So kommen bereits differenziertere, besser durchdachte Meinungen zusammen und es kann leichter gewichtet werden, welche Position wie vielen Menschen wichtig ist, es setzt sich weniger die eloquenteste Person durch.

In den zapatistischen Gebieten funktioniert auch die Ökonomie im Zusammenspiel von Individuum und Gemeinschaft, in relativer Autonomie zum System. Ihre Grundlage ist die Subsistenzlandwirtschaft jeder Familie. Darüber hinaus übernehmen die Compas die anfallenden Aufgaben (als Lehrer*in/Bildungspromotor*in, in einem Landwirtschaftskollektiv, im Gesundheitszentrum, im Rat der guten Regierung, auf der Reise für das Leben, etc.), ohne dafür bezahlt zu werden. Vielmehr kümmert sich die Gemeinschaft darum, dass die Personen und Familien, die dadurch weniger Zeit für die Feldarbeit haben, Unterstützung in der Landwirtschaft oder bei der Ernährung erhalten. So bedeutet Organisation nicht (nur) zusätzliche Belastung, sondern auch mehr Sicherheit, von der Gemeinschaft aufgefangen zu werden. Bezogen auf unsere Realität stellten wir fest: Durch derartige praktische, ökonomische Solidarität könnten wir vielleicht eines der Grundprobleme von politischer Organisation hierzulande angehen: dass häufig nur privilegierte Menschen Zeit und Geld haben, aktiv zu sein, während die meisten nur eines oder nichts von beidem haben. Wie können wir also Strukturen schaffen, in denen wir uns gegenseitig so entlasten, dass wir weniger finanzielle Sorgen und genug Zeit und Energie für politische Organisierung haben? Lässt sich bei uns auch ohne Subsistenz eine starke Kollektivität aufbauen? Wenn unsere Leben so wenig verwoben sind? Wenn die einzelnen Bedürfnisse „simpel“ über den Markt und Geld abgedeckt werden können? In der KoWa wird dies teilweise gelebt – die gemeinsame Ökonomie, die Subsistenzansätze, die unbezahlte kollektive Arbeit, das Fühlen als Gemeinschaft. Wie können wir solche Ansätze auf das Leben außerhalb von Kommunen übertragen und wie können wir diese Gemeinschaften verbinden, um darüber hinaus gemeinsame (ökonomische) Stärke aufzubauen? Dass wir kollektive, finanzielle Mittel brauchen, auf die wir für gemeinsame Projekte einfach zugreifen können, war bei vielen eine Erkenntnis aus der Reise.

Links und unten – drüben wie hier

Die Zapatistas erzählten viel vom Leid ihrer Großeltern – das sie durch unsere Vorfahren erfahren haben. Trotzdem machten sie uns dies nicht zum Vorwurf, sondern betonten den Wunsch nach Gemeinschaft und Verbundenheit – nur, indem wir zusammenhalten, können wir den großen, gemeinsamen Feind, das „System des Todes“, überwinden. Die Unterschiede der Kontexte, Notwendigkeit und Privilegien – das alles wurde deutlich. Aber noch wichtiger sind die Gemeinsamkeiten. Wie schaffen wir es, diese Solidarität aktiv zu leben? Mit dieser Europareise wurde uns Verantwortung übertragen. Sie wurde gemacht, weil die Compas glauben, dass sich etwas ändern kann, dass sich etwas ändern muss. Immer wieder haben sie das deutlich gemacht. „Das ist kein Spaziergang für uns.“ – sie werden die Ergebnisse ihrer Reise evaluieren, aufbereiten, ins hinterste Eck ihrer Gemeinden tragen und Konsequenzen für sich ziehen. Was tun wir nach ihrem Besuch? Was kann die globale Vernetzung bringen, wem bringt sie etwas? Während es wichtig sein wird, den Draht nach Chiapas aufrechtzuerhalten und weiter zu intensivieren, liegt die Verantwortung aber auch hier. Sei es dabei, europäische kapitalistische Unternehmen wie die DB daran zu hindern, schädliche neo-koloniale Großprojekte wie den „Tren Maya“ umzusetzen. Oder dabei, langfristige solide und solidarische Organisierung aufzubauen. Sollten wir dafür viel mehr in Richtung „Organizing“ als Taktik gehen? Ins langsame stetige Aufbauen von solidarischen Strukturen, in Einzelgespräche mit Menschen um uns herum, ins Heraustreten aus bzw. Vergrößern der Blase, ins Entwickeln kollektiver Erzählungen und Kultur? Sollten wir uns auch Ziele für die nächsten 10 Jahre setzen, nicht nur für das nächste halbe Jahr?

„Preguntando caminamos – Fragend schreiten wir voran.“ Dieses altbekannte Zitat der Zapatistas hat sich vielen von uns im Zuge der Reise immer mehr erschlossen, besonders im Rückblick auf die Reisevorbereitungen. Gewohnt, immer 5 Schritte vorauszuplanen, wurden unsere Pläne von den kurzfristigen Änderungen und rassistischen Hindernissen bei der Einreise der Compas regelmäßig über den Haufen geworfen. Wie lernen wir, einen Schritt nach dem anderen zu gehen, das langfristige Ziel vor Augen, aber immer wieder neu zu sehen, wo wir stehen und was es als nächstes braucht? Um diese und andere Fragen beantworten zu können, müssen wir uns untereinander besser kennenlernen. Dass wir in unseren Städten und Dörfern, in unserer Region überhaupt erst einmal voneinander wissen, wo wir stehen und was wir machen. Dass wir uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen.

#Titelbild: Kommune Waltershausen

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