Irak: Journalist:innen Marlene F. und Matej K. immer noch in Haft

29. April 2022

Die deutsche Journalistin Marlene F. und der slowenische Journalist Matej K. wurden am 20. April im Şengal auf dem Rückweg vom êzîdischen Neujahrsfest Çarşema Sor vom irakischen Militär festgenommen. Seitdem sind sie vermutlich in einem Gefängnis in Bagdad und können keinen Kontakt zu Anwält:innen oder der Öffentlichkeit aufnehmen. Die Festnahme steht im Zusammenhang mit der militärischen Eskalation gegen die êzîdische Selbstverwaltung im Şengal, wo sowohl die irakische als auch die türkisch Regierung unabhängige Berichterstattung verhindern wollen.

Die beiden jüngst festgenommenen Journalist:innen Marlene F. und Matej K. sind seit mehreren Monaten zu Recherchezwecken im Norden des Iraks. Sie dokumentieren die aktuelle gesellschaftliche Situation von Ezid:innen im Şengal vor dem Hintergrund des Genozid-Feminizids, den der „IS“ seit 2014 an den Ezid:innen begeht. Aktuell ist nicht bekannt, wohin die beiden verschleppt wurden, auch das Auswärtige Amt hat nach eigenen Angaben keine Informationen über den Verbleib der beiden Journalist:innen.

Für ihre Recherche besuchten Marlene und Matej zivilgesellschaftliche Institutionen und Projekte. Sie erarbeiteten Dossiers über die aktuelle Lebenssituation in der êzîdischen Selbstverwaltung im Şengal, mit dem Ziel, Menschen in Deutschland darüber zu informieren. Gerade hier sollte die Situation im Şengal von besonderem Interesse sein, ist Deutschland doch das Land, in dem ein großer Teil der êzîdischen Diaspora lebt. Mit ihrer Berichterstattung darüber, wie sich die Bevölkerung nach dem traumatischen Krieg organisiert, um sich der immer noch drohenden Gefahr eines Genozids zu verteidigen leisten die beiden Medienschaffenden einen wesentlichen Beitrag für Menschenrechte und Frieden.

Dass Marlene und Matej gerade am Tage des Neujahrsfests Çarşema Sor, einer der wichtigsten kulturellen êzîdischen Feierlichkeiten, festgenommen wurden, und ihre journalistische Arbeit damit kriminalisiert wird, ist kein Zufall. Denn die êzîdische Bevölkerung ist aktuell bedroht.

Schon letzte Woche kam es immer wieder zu Provokationen des irakischen Militärs in der Autonomieregion im Şengal, vor allem gegen die êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ), die nach der Befreiung der Region vom „IS“ zum Schutz der Bevölkerung aufgebaut wurden.

Die YBŞ ordnen diese aktuellen Eskalationen der irakischen Armee gegenüber den autonomen Selbstverteidigungsstrukturen als Versuch ein, das sogenannte „Şengal – Abkommen“ Stück für Stück durchzusetzen. Dieser Vertrag wurde von der irakischen Zentralregierung und der südkurdischen Regionalregierung beschlossen und legt im Wesentlichen die Zuständigkeiten von Behörden und Verwaltung der Region Şengal fest. In der Fassung dieses Abkommens nahm die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) des Barzani-Clans, gestützt durch die Türkei, eine Führungsrolle ein. Die êzîdische Selbstverwaltung, die einen Großteil der Region verwaltet, wurde von diesen Verhandlungen komplett ausgeschlossen. Dabei ist die Selbstverwaltung in Şengal für Êzîd:innen vor Ort aber auch in einem globalen Kontext, wichtiger Bezugspunkt, um an ihre Geschichte zu erinnern, für Leben in Freiheit, ihre Kultur und ihre Widerstandsfähigkeit.

Dass der Vertrag über die Region ohne die Beteiligung der Selbstverwaltung abgeschlossen wurde, ist der Versuch der irakischen Zentralregierung, vor allem aber auch der PDK, Kontrolle über das Gebiet zu erlangen und die Autonomie der Êzîd:innen einzuschränken und zu entmachten. Denn vor dem Genozid-Feminizid 2014 – bei dem sich bewaffnete Einheiten der PDK vor den vorrückenden Kräften des „IS“ zurückzogen, statt die Êzîd:innen zu verteidigen–, hatte die PDK komplette Kontrolle über die Region.

Die êzîdische Autonomieregierung steht den Machtansprüchen der südkurdischen Regionalregierung im Wege.

Der Angriff auf die Slebstverwaltung ist dabei über die Frage von territorialer Kontrolle hinaus eine ernsthafte existenzielle Bedrohung für die Êzîd:innen. Es gibt noch immer noch viele „IS“-Anhänger*innen im Irak, Syrien und anderen Ländern, die eine Bedrohung für das Leben der êzîdischen Bevölkerung insgesamtsind. Gerade vor dem Hintergrund des schändlichen Verhaltens der PDK-Truppen 2014 wäre eine Eroberung des Şengal katastrophal. Eine Entwaffnung der Selbstverteidigungskräfte würde die vollständige Schutzlosigkeit der êzîdischen Bevölkerung bedeuten.

Der militärische Angriff ist aber nur eine von vielen Maßnahmen, die der irakische Staat gegen die Selbstverwaltung unternimmt. Neben der Umsetzung des Şengal-Abkommens, ist der irakische Staat zurzeit dabei, zwischen Şengal und Rojava eine Mauer zu bauen, wogegen die êzîdische Gemeinschaft Widerstand leistet. Die befreiten Gebiete in Rojava waren während des Angriffs des „IS“ 2014 der einzige Ort, an den sich die Bevölkerung in Sicherheit bringen konnte.

Gleichzeitig ist der Angriff auf Şengal nicht losgelöst von den Angriffen der türkischen Armee sowohl auf die Medya-Verteidigungsgebiete in den Bergen Südkurdistans als auch auf Rojava zu sehen, die zurzeit stattfinden. Denn Rojava und die Medya-Verteidigungsgebiete stehen in enger Verbindung mit der Autonomieverwaltung im Şengal: die kurdische Selbstverwaltung unterstützt den Aufbau eines freien Lebens und es waren ihre Einheiten, die jene Region vom „IS“ befreit haben. Der Versuch der türkischen Regierung, die eng mit der PDK zusammenarbeitet, durch Lufschläge und Chemiewaffeneinsatz auch die kurdische Selbstverwaltung zu zerstören, ist offensichtlich zusammen mit der Eskalation im Şengal koordiniert.

Es ist politisches Kalkül der irakischen Zentralregierung, genau zu diesem Zeitpunkt der Provokationen und Attacken, internationale Medienschaffende durch das irakische Militär festnehmen zu lassen und sie damit daran zu hindern, über genau diese Eskalationen zu berichten. Es geht darum, ein Signal zu senden und die Presse in ihrer Freiheit einzuschränken und damit die Stimmen, die sich für Gerechtigkeit für die êzîdische Bevölkerung einsetzen, zum Verstummen zu bringen. Bereits im Januar diesen Jahres hatte das irakische Militär drei Journalist*innen festgenommen, die in Şengal die zunehmenden Militärbewegungen beobachtet hatten. Ihre Ausrüstung wurde beschlagnahmt, ihr Aufenthalt war zunächst unbekannt.

Marlene F. und Matej K. gefangen zu nehmen und damit an ihrer wichtigen Arbeit für Frieden, Sicherheit und Menschenrechte zu hindern, ist ein Skandal und sollte auch die gebührende politische Aufmerksamkeit bekommen. Auf der Straße, in den Medien aber auch von der Regierung. Außenministerin Annalena Baerbock hat bereits einen offenen Brief erhalten, indem sie und andere Politiker:innen der Regierung dazu aufgefordert werden, sich für die Freilassung von den beiden Journalist:innen einzusetzen. Sie sollte ihrem Versprechen, eine „feministische Außenpolitik“ zu betreiben, nachkommen und alles in Bewegung setzten, damit die beiden frei gelassen werden.

Es geht dabei auch um ein Zeichen für Pressefreiheit und darum, zu verdeutlichen, dass es von politischem Interesse ist, dass die êzîdische Bevölkerung selbstbestimmt und in Frieden leben kann – genau die Werte, für die sich Marlene und Matej einsetzten.

#Bilder: eigenes Archiv.

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