„Maskierte Männer und Grenzbeamte treten auf Geflüchtete ein, setzen Schlagstöcke und Elektroschocks ein.“ Vor gut drei Monaten hat die freie, auf der griechischen Insel Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier in einem Beitrag für das medico-Rundschreiben, Zeitschrift der Organisation medico international, mit diesen Worten beschrieben, wie die rechtswidrigen „Pushbacks“ an der bosnischen-kroatischen Grenze meist verlaufen. Es lohnt sich, ihren Text heute noch mal gründlich zu lesen, denn es hat sich nichts geändert.
Bei der Lektüre wird vor allem ein grotesker Kontrast deutlich: Hier eine EU, die ihre Abschottung immer mehr perfektioniert, Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder afrikanischen Ländern im Mittelmeer verrecken lässt oder an Außengrenzen in Polen, Kroatien oder Griechenland zurückprügelt — dort eine EU, deren Mitgliedsstaaten plötzlich, angesichts von mehr als 3,5 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine, eine „Willkommenskultur“ ausrufen und sich als Leuchttürme von Freiheit, Demokratie und Humanismus aufspielen.
Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Jede Solidarität gegenüber Geflüchteten ist zu begrüßen, und das gilt natürlich auch für die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. Aber die Reaktionen auf die Flucht von Millionen von Ukrainer*innen haben die widerliche Doppelmoral und Verlogenheit der EU deutlich gemacht. Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen. Für den großen Rest der Geflüchteten heißt es wie bisher: „Wir müssen draußen bleiben!“
Besonders deutlich wird die Verlogenheit der EU in Polen. In ihrem Beitrag für das medico-Rundschreiben schilderte Franziska Grillmeier ihre Eindrücke von einer Fahrt an die polnisch-belarussische Grenze Ende 2021. Sie berichtete, dass auf einem über 400 Kilometer langen Grenzstreifen, in den sumpfigen Wäldern des Bialowieza-Nationalparks, seit Monaten hunderte Geflüchtete ohne medizinische Versorgung, ausreichend Wasser oder Essen festsitzen, eingekesselt zwischen belarussischen und polnischen Grenzschützer*innen. Die Journalistin zitierte den polnischen Innenminister Mariusz Kaminski, der Anfang September erklärt hatte: „Wir werden nicht zulassen, dass Polen zu einer weiteren Route für den Massenschmuggel von illegalen Migranten in die Europäische Union wird.“
Grillmeiers Bericht entspricht den Schilderungen anderer deutscher Aktivist*innen und Politiker*innen, die an der polnisch-belarussischen Grenze gewesen sind. So Henriette Quade, Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke in Sachsen-Anhalt, die Mitte Januar mit einer Delegation in die dortige Sperrzone gereist war. Im Februar berichtete sie gegenüber junge Welt: „Es gibt dort für die Geflüchteten zwei wesentliche Bedrohungen. Das sind einmal aufgrund der Witterungslage die Kälte, die Nässe und der Hunger. Und es sind Grenzschützer, Polizisten und rechte paramilitärische Gruppen, die, mit Maschinenpistolen und Knüppeln bewaffnet, Jagd auf Menschen machen.“
Wie anders sind die Bilder und Berichte, die nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine aus Polen zu sehen sind. „Ukrainer werden in Polen mit offenen Armen empfangen“, titelte die Deutsche Welle am 19. März auf ihrer Homepage. Polens Regierung habe allen Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland den Aufenthalt bis zu 180 Tagen und den Zugang zu Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und Sozialleistungen versprochen, heißt es da. Natürlich kann man solche Maßnahmen, soweit sie nicht nur heiße Luft sind, nur begrüßen, ebenso wie das große Engagement der Zivilgesellschaft in Polen. Aber die Haltung des polnischen Staates ist heuchlerisch.
Denn an der polnisch-belarussischen Grenze hat sich gar nichts geändert. Weiterhin werden die Geflüchteten, die dort in den sumpfigen Wäldern vegetieren, am Grenzübertritt gehindert. Kerem Schamberger, seit kurzem Referent für Migration und Flucht in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international, war Mitte März mit einer Kollegin in Polen und berichtete ebenfalls in der jungen Welt von seinen Eindrücken. An der polnisch-belarussischen Grenze werde die Lage immer schwieriger, vor allem weil auch auf der belarussischen Seite kaum noch Lebensmittel zur Verfügung gestellt würden. Zudem gebe es nach wie vor Berichte über Gewalt von Seiten des Grenzschutzes auf beiden Seiten.
Schamberger wies auf das „Paradoxe der Situation“ hin, das man begreife, wenn man sich den Twitter-Account des polnischen Grenzschutzes ansehe. „Die veröffentlichen täglich, wie viele Menschen sie aus der Ukraine reingelassen haben, verbreiten Fotos von Soldaten, die das Gepäck der Flüchtlinge tragen“, sagte der Aktivist. „Im nächsten Tweet heißt es dann: Wir haben wieder 50 illegale Einwanderer daran gehindert, über die polnisch-belarussische Grenze vorzudringen.“
„Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“
Schamberger lieferte auch eine Interpretation des geschilderten Paradoxons. Man könne „von einer Repolitisierung und Nutzbarmachung des Flüchtlingsbegriffs“ sprechen. Diejenigen, die momentan aus der Ukraine kämen, seien die „Flüchtlinge des Westens“ und würden willkommen geheißen, „weil sie ins geostrategische Konzept passen“. Schutzsuchende etwa aus Kurdistan oder afrikanischen Ländern gehörten allerdings nicht dazu und würden nach wie vor nicht in die EU gelassen.
Wie nicht anders zu erwarten war, meldeten sich in den Medien recht schnell Journalist*innen zu Wort, die die Unterschiede bei der Behandlung von Geflüchteten rechtfertigten. Der Grundtenor dieser Erklärungen war mal mehr, mal weniger rassistisch. Der Medienunternehmer und frühere Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingard äußerte im ARD-Talk Hart aber fair, Ukrainer*innen gehörten zu unserem Kulturkreis, sie seien Christ*innen – das sei schon etwas anderes als die Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder Somalia.
Noch deutlicher wurde Anfang März Marc Felix Serrao von der reaktionären Neuen Zürcher Zeitung. In seinem Newsletter erklärte er zuerst, es gebe Zeiten, in denen Willkommenskultur „das einzig Richtige“ sei und das sei jetzt der Fall. Das „ukrainische Volk“ habe „jede Hilfe verdient“. Europas Regierungen müssten ihm „alles an Unterstützung zukommen lassen, was unterhalb der Schwelle einer direkten Kriegsbeteiligung möglich ist“. Vor allem gelte dies „für die Frauen, Kinder und Alten, die ihr Land als Flüchtlinge verlassen“. Dann hebt Serrao zu einer Suada an, die in ihrer Widerlichkeit kaum zu übertreffen ist.
Die Ukraine sei „nicht irgendein Land“, vielmehr „ein europäisches Land“, schreibt der Journalist und betont: „Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“ Niemand könne „die Gefahr leugnen, in der sie stecken“. Das sei bei vielen Migranten, „die in der Vergangenheit als vermeintliche Flüchtlinge nach Europa gekommen sind“, aber anders. Serrao: „Während die Männer in Charkiw und Kiew für ihre Heimat kämpfen und dafür sorgen, dass ihre Frauen und Kinder in Sicherheit kommen, waren es in früheren Jahren auffallend oft junge Männer, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen. Ihre Familien ließen sie zurück.“ Menschenverachtender geht es kaum noch. Es ist aber zu befürchten, dass solche Positionen bis weit ins Bürgertum hinein Konsens sind.
Die Doppelmoral der EU fällt vielen hierzulande daher wohl auch kaum auf, entspricht diese doch der Lebenshaltung, die ihnen selbst nur allzu vertraut ist. Darum wird dieses Thema in den bürgerlichen Medien auch nur wenig thematisiert. Immerhin sind immer wieder mal kritische Töne zu vernehmen, so in einem Gastkommentar, den das Portal t-online kürzlich veröffentlichte. Darin ging es um das Verhalten der dänischen Regierung in der Flüchtlingsfrage, die in puncto Verlogenheit das Vorgehen der polnischen Regierung sogar noch toppte.
Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht.
Noch Anfang 2021 hatte die rechts-sozialdemokratische Premierministerin Mette Frederiksen als Ziel ‚null Asylsuchende im Land‘ ausgegeben. Jetzt legte die Regierung eine „beispiellose Kehrtwende“ hin, wie die Politikwissenschaftlerin Carolin Hjort Rapp von der Universität Kopenhagen am 19. März bei t-online schrieb. Seit kurzem erhalten Ukrainer*innen in Dänemark ohne Visum oder Asylantrag eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis: Damit dürfen sie arbeiten gehen, ihre Kinder können Schulen und Kindergärten besuchen. Das regelt ein Sondergesetz, das vom Parlament im Eilverfahren mit breiter Mehrheit beschlossen wurde.
Eine breite Mehrheit im dänischen Parlament hatte im Februar 2016 auch ein Gesetz ermöglicht, das allgemein „Schmuckgesetz“ genannt wird. Flüchtlingen kann seitdem Bargeld und Wertsachen ab einem Wert von 10.000 Kronen, umgerechnet 1340 Euro, abgenommen werden, um ihre Unterbringung mitzufinanzieren. Der Familiennachzug wird erschwert und die Dauer von Aufenthaltsgenehmigungen verkürzt. Mit diesem Gesetz sollten Flüchtlinge explizit abgeschreckt werden. Als die ersten ukrainischen Geflüchteten in Dänemark auftauchten, brachte die Regelung die Behörden in die Bredouille. Blonden, blauäugigen Menschen, die gerade einem Krieg entronnen waren, wollte die Regierung dann doch Schmuck und Geld nicht abnehmen. Sie sollen von dem Gesetz ausgenommen werden.
Zum Schluss sei erneut der Beitrag von Franziska Grillmeier zitiert, die im medico-Rundschreiben Ende 2021 schrieb:
„Für diejenigen, die es noch durch die Grenzkontrollen schaffen, bleibt in den Hochsicherheitslagern auf den griechischen Inseln, in den Haftanstalten in Polen oder in den isolierten Fluchtheimen in Kroatien meist nur das Warten ohne Ziel. In Griechenland allein sitzen im Moment 2400 Menschen in Abschiebeanstalten fest, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen soll. Auch hier hat die Presse keinen Zugang. Aus einer humanitären Krise, die Tausende Menschen 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Richtung Europa fliehen ließ, wurde eine europäische Wertekrise. An den Grenzen ist eine rechtliche Parallelwelt entstanden, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit existiert und durch die gezielte Verunsicherung der lokalen Bevölkerung und Kriminalisierung humanitärer Hilfe möglich gemacht wird.“
Daran hat sich nichts geändert und das wird es auch nicht. Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht. Für sie öffnet sich eine Tür in der Mauer, die hinter ihnen sofort wieder zugeschlagen wird.
#Titelbild: Sandor Csudai