Es ist Krieg in Europa. Zwar nicht, wie man derzeit viel hört, der erste seit 1945, denn der war in Jugoslawien. Aber zumindest der erste, bei dem Deutschland nicht auf Seite der angreifenden Armee mitspielt. Dementsprechend aufgewühlt ist die öffentliche Stimmung und dementsprechend ungern gesehen sind Misstöne, die das Narrativ der deutschen Nation stören. „Wir“ sind endlich auf der richtigen Seite und das soll uns jetzt auch kein Nestbeschmutzer madig machen.
Was also sagen Linke zum Krieg?
„Die größten Verlierer des Krieges sind die Arbeiter, die Armen, die Frauen und die Jugend“, heißt es in einer Stellungnahme mehrerer sozialistischer Parteien aus der Türkei und Nordkurdistan. Die Völker müssen sich nicht zwischen der NATO auf der einen und Russland auf der anderen Seite entscheiden. Vielmehr stehe man auf der Seite der Menschen überall auf der Welt, die sich gegen den Krieg wehren. „Alle Nationalitäten, Arbeiter und Werktätigen unseres Landes müssen sich gegen Krieg, Militarismus und Chauvinismus vereinen.“
In eine ähnliche Kerbe schlägt die Stellungnahme der Kommunistischen Partei Griechenlands: „Die Antwort aus der Sicht der Interessen unseres Volkes liegt nicht darin, sich dem einen oder anderen imperialistischen Pol anzuschließen. Das Dilemma ist nicht USA – Russland oder NATO – Russland. Der Kampf der Arbeiterklasse und des Volkes muss sich einen eigenständigen Weg bahnen, fern von allen bürgerlichen und imperialistischen Plänen.“
Diese Position – so oder so ähnlich formuliert von sehr vielen anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppen weltweit – klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, vernünftig und massentauglich. Wer will schon sein Leben für die jeweilige herrschende Klasse in die Wagschale werfen? Wer, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde für die russischen, deutschen, US-amerikanischen oder ukrainischen Eliten andere einfache Leute anderer Nationalitäten umbringen und sich im Vollzug dieses Verbrechens töten lassen?
Nun braucht aber jeder Krieg das schlachtwillige Fußvolk und die richtige ideologische Vorbereitung der Bevölkerung, an deren Widerwillen er sonst scheitern könnte. „Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muss aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegführenden“, schrieb Rosa Luxemburg. Jede Nation muss ihren Anhängern mitteilen, warum sie für sie im Zweifelsfall sterben sollen. Und so muss die einfache, vernünftige Position diffamiert werden als Verrat am Vaterland, an der Freiheit oder am Menschenleben. Und es muss ein Mythos hegemonial gemacht werden, der die Untertanen zu Heldentaten anspornt.
Der heilige Verteidigungskrieg
Eines der zentralen Elemente dieser Erzählung ist, dass von jeher der Gegner derjenige ist, der angreift. Die Barbarei des Krieges ist so augenfällig, dass sogar die reaktionärsten Regime ihn als letztes Mittel zur Verteidigung verklären müssen.
Als Deutschland in den ersten Weltkrieg zog, betonte Wilhelm der II., es sei Verdienst seiner Regierung gewesen, so lange den Frieden gewahrt zu haben. „Fast ein halbes Jahrhundert lang konnten wir auf dem Weg des Friedens verharren. Versuche, Deutschland kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt einzuengen, haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt“, eröffnete er die berühmte Thronrede vom 4. August 1914. Man habe bis zu letzt das „Äußerste“ abwenden wollen, aber nun: „In aufgedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.“
Hitler hielt unmittelbar nach der Machtübergabe an die deutschen Faschisten eine viel beachtete Friedensrede und wenige Jahre später wurde „zurückgeschossen“. Lyndon B. Johnson erklärte zum Vietnamkrieg, dass die USA dort Krieg gegen eine „kraftvolle Aggression“ des „kommunistischen Expansionismus“ führten. Und Harry S. Truman führte die amerikanischen Truppen in den Koreakrieg, um die „Aggression“ der Kommunisten einzudämmen und „den internationalen Frieden und die Sicherheit“ zu bewahren.
Auch Putin muss seiner eigenen Bevölkerung den Einmarsch in der Ukraine als defensiven Akt verkaufen. In ausschweifenden Reden erklärt er den präventiven Charakter seines Einmarsches in der Ukraine. Das zentrale Motiv seiner Rechtfertigungen sind „diese fundamentalen Bedrohungen, die Jahr für Jahr, Schritt für Schritt grob und ungeniert von unverantwortlichen Politikern im Westen gegen unser Land gerichtet werden. Ich meine damit die Ausdehnung des Nato-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands“, so der russische Autokrat in seiner Kriegserklärung vom 24. Februar.
Putins Medien und seine Think-Tanks ergießen dieses Narrativ in die russische Öffentlichkeit, so wie die unserer Herren das ihre in unsere. Es sind keine schrägen AfD-Komiker, die in Russland diese Erzählung vorantreiben, es ist der dortige Mainstream. Die „konstruktive Destruktion“ sei die neue außenpolitische Doktrin Putins, schreibt ein mit vielen Titeln behangener Professor auf RT. Diese aber sei „nicht aggressiv“. Russland „wird niemanden angreifen oder in die Luft jagen“, doziert er an dem Tag, an dem Russland angreift und in die Luft jagt. Denn: „Mit einer großen Ausnahme. Die Expansion der NATO und der formale oder informelle Einschluss der Ukraine [in das System der NATO] stellt ein Risiko für die Sicherheit des Landes dar, das Moskau einfach nicht akzeptieren kann.“
Nun ist es keine allzu schwere kognitive Leistung aus der historischen Distanz die Propaganda Kaiser Wilhelms oder aus der geographischen Distanz die Wladimir Putins zu entlarven. Aber wie steht es mit der aktuellen „eigenen“?
Kriegsvorbereitung als Friedenssicherung
Die Stimmung in Teilen der deutschen Bevölkerung ist seit dem Einmarsch Russlands gekippt. Noch unmittelbar vor Putins Invasion sprach sich eine Mehrheit in Umfragen gegen Waffenlieferungen in die Ukraine aus – jetzt ist man dafür. Auch das gigantische 100-Milliarden-Paket für die Aufrüstung der Bundeswehr scheint, glaubt man den Umfragen, auf Zustimmung zu stoßen.
Die Ideologie hinter diesem Gesinnungswandel kommt aus den Schreibstuben der Bundesregierung und wird durch die stets heimattreuen Medien in unterschiedliche Nuancen verpackt in die letzten Winkel der Republik gedrückt. Man kann sich die Dosis westliche Selbstvergewisserung ungefiltert als Trommelwirbel bei Springer oder mit eher antipatriarchalen Nuancen bei der taz abholen, am Ende bleibt die selbe Story übrig.
Das zugrunde liegende Geschichtsbild gibt Olaf Scholz vor: „Es gibt kein Zurück in die Zeit des 19. Jahrhunderts, als Großmächte über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg entschieden. Es gibt kein Zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als Supermächte die Welt unter sich aufteilten in Einflusszonen“, erklärte der Bundeskanzler zu Beginn des Krieges dem nach Orientierung dürstenden Publikum. Der Westen hat Werte – Solidarität, Demokratie, Freiheit -, der Feind will Einflusssphären.
Diese Geschichtsphilosophie besagt: Es gibt eine internationale Friedens- und Rechtsordnung, die durch den Westen garantiert wird und die auf Gleichheit, Unabhängigkeit, Souveränität fußt. Der russische Feind ist angetreten, um uns alle, die wir glücklich in diesem Schlaraffenland leben, zu drangsalieren und da wir keine andere Wahl haben, müssen nun auch wir reinen Gewissens zu den Waffen greifen, um uns zu verteidigen. Wobei wir zunächst einmal, denn der Feind hat Atomwaffen, nur zu den Waffen greifen, um sie an die wahren Verteidiger Europas zu verschicken, die Ukrainer. Was später kommt, wird die Zeit zeigen.
„Abschreckung“ ist das Gebot der Stunde. Und „Abschreckung“ bedeutet Aufrüstung. Wer diese nicht will, ist entweder Egoist oder gleich Vaterlandsverräter – vulgo: Putin-Troll. Die Vorbereitung auf die Verteidigung des Vaterlandes muss alle Bereiche der Gesellschaft einbeziehen. Die eben noch als unmittelbar zu vollziehende „Energiewende“ weicht der Notwendigkeit Anlande-Terminals für US-amerikanischen Fracking-Gas zu bauen, denn ohne das Freedom-Gas aus den USA hätte uns der Russe im Kriegsfall im Würgegriff. Die Rückwirkungen der Sanktionen auf die von Inflation und Lohnstagnation gebeutelte Durchschnittsbevölkerung muss euphorisch als „Preis der Freiheit“ in Kauf genommen werden. Noch die letzten Putin-Versteher müssen aus dem Kunst-, Kultur- und Medienbetrieb entfernt werden. Supermärkte listen russische Produkte aus, Restaurants erklären, keine Russen mehr beherbergen zu wollen.
Wer sich dagegen sperrt, wird aus der nationalen Gemeinschaft ausgestoßen. Denn schließlich dient all das der Friedenssicherung und wer gegen Friedenssicherung ist, ist logischer Weise für Krieg und in diesem Fall sogar für einen Krieg, der vom geopolitischen Feind angezettelt wurde. Aber ist dem so?
Imperialistische Konkurrenz
Nicht, wenn man die zwar mit viel Begeisterung vorgetragene, aber keiner auch nur oberflächlichen Betrachtung standhaltende Selbstverklärung des Westens in Frage stellt. Die Welt ist in keinem post-imperialistischen Zustand internationaler Freundschaft, der allein von Schurkenstaaten in Frage gestellt würde. Sie ist immer noch bestimmt durch Konflikte kapitalistischer Nationen, die bisweilen mit den Mitteln der Ökonomie und des Handels, bisweilen durch Verträge und Diplomatie, bisweilen durch Entwicklungshilfe und gelegentlich, aber immer häufiger eben militärisch ausgetragen wird.
Die USA, zusammen mit denjenigen, die in ihrer Führung die sicherste Art der Aufrechterhaltung des eigenen Geschäftsmodells sehen, sind dabei bemüht ihre ererbte Vormachtstellung auf dem globalen Parkett zu erhalten. Andere, allen voran China und Russland, sehen in der seit langem schwelenden Schwächung des US-Imperialismus die Gelegenheit zur eigenen Erweiterung der Einflusszonen. Im Zuge dieses Ringens hat der „Westen“ in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche „souveräne Nationen“ überfallen, Coups unterstützt, Wirtschaftssanktionen gegen sie eingesetzt, um sie gefügig zu machen. Alleine im Fall des Irak mit über einer Million Toten. In Afghanistan waren es über die Jahre ein paar hunderttausend, im Jemen über eine Viertel Million.
Und der russische – eher „lokal“ handlungsfähige – Gegenspieler versuchte sich an der Niederschlagung ihm gefährlicher „Demokratiebewegungen“ in der direkten Umgebung – zuletzt in Kasachstan – oder an der Erhaltung des ihm treu ergebenen Assad-Regimes in Syrien. Gerade in Syrien versuchte sich Russland zugleich an einer anderen Strategie, die mit dem jetzigen Krieg ihr vorläufiges Ende gefunden hat: Der Einbindung der die Süd-Flanke der NATO bildenden Türkei in die eigene imperiale Machtpolitik.
Für Erdogan wie für Putin galt – und das wurde in Syrien durchexerziert -, dass die Hegemonialmacht USA „Freiräume“ gelassen hatte für eigenständige Ambitionen. Die Player mit eher regionaler Strahlkraft versuchten, diese auszuschöpfen. Nicht nur in Syrien, auch an anderen Konfliktherden – Libyen, Armenienkrieg – wurde die eigenständige Gestaltungsmacht der Gegenspieler des US-Imperialismus graduell größer.
Anders allerdings in Osteuropa. Dort blieb der russische Versuch, sich beanspruchte Gebiete zumindest als Vasallenstaaten zu erhalten, in der Defensive. Die NATO-Osterweiterung ist selbstverständlich gegen Russland (und in the long run China) gerichtet, wer das jetzt aus irgendeiner Halluzination heraus bestreitet, muss nur die eigenen Strategiepapiere der NATO lesen. Wozu sonst sollte sie überhaupt existieren?
Die Ukraine hatte dabei von jeher eine besondere Bedeutung und das Ringen um ihre Ost- bzw. Westbindung begleitet sie seit dem Ersten Weltkrieg. Die Vorgeschichte des nun begonnenen Angriffskriegs liegt in der Maidan-Revolution, in deren Zuge die von Moskau abhängige korrupte Figur Janukowitsch durch eine Reihe von ihr Heil im Westen suchenden Machthabern abgelöst wurde.
Putin machte rasch klar, wie die Reaktion Russlands aussehen würde: Unterstützung des bewaffneten Aufstands im Osten der Ukraine, Annexion der Krim. Der Westen machte rasch klar, wie seine Antwort aussehen würde: Verstärkung der Westbindung, Beitrittsperspektive zu EU und NATO, Waffenlieferungen, Ausbildungsmissionen, Wirtschaftskooperationen, Handelsverträge, gemeinsame Militärübungen. Beide Blöcke zerrten an der Ukraine – das als „Selbstbestimmung“ zu verklären, egal von welcher Seite, verkennt alle machtpolitischen Dynamiken. Dann kam der russische Angriffskrieg.
Die meisten Beobachter hätten die Anerkennung der „Volksrepubliken“ noch als strategisch motivierten Schritt vorhergesagt, aber den jetzigen vollständigen Einmarsch in die Ukraine wohl, wie Left-Review-Redakteur Tony Woods in einem Interview attestiert, nicht. „Die russische Entscheidung zum Einmarsch hat mich überrascht und eine Menge an Russland-Analysten versuchen derzeit irgendwie, ihre Ansichten des Putin-Regimes zu reinterpretieren. Ich hatte in den vergangenen zwanzig Jahren viel Kritik an dem Putin-Regime, aber ich dachte nicht, dass es auf fundamentale Art und Weise irrational sei. Kriminell, ja. Aggressiv, ja. Alle Arten anderer Dinge, auf jeden Fall. Aber fundamental irrational, nein. Doch diese Invasion erscheint mir auf fundamentale Art und Weise irrational.“
Man kann daran einiges richtiges finden. Denn nicht aus einer externen Draufsicht, sondern selbst aus der Sicht der in Russland herrschenden Klasse dürfte dieser Einmarsch kaum die gewünschten Resultate zeitigen. Abgesehen von den Schäden an der russischen Ökonomie, hat er zu einem immensen Schulterschluss innerhalb der NATO geführt. Weit davon entfernt, irgendeine Perspektive auf die Installation eines nachhaltig bestehenden Vasallenregimes in der Ukraine zu haben, stärkt er zudem die Westbindung weiterer Nationen, etwa Finnlands. Eine Exitstrategie gibt es nicht.
Zu erwarten ist vielmehr, dass andere, „abgekühlte“ Konfliktherde neue Fahrt aufnehmen. In Syrien wird die zumindest die Türkei versuchen, das fragile Gleichgewicht zu revidieren und sich erhoffen können, von den USA für ihre Bündnistreue mit neuen Zugeständnissen gegenüber den Kurden bedacht zu werden. Andere Konflikte im Osten warten auf Belebung: Georgien, Armenien/Aserbaidschan, Taiwan.
Was wir zu erwarten haben, ist eine Zeit der Militarisierung der zwischenimperialistischen Konflikte – und damit eine Intensivierung jener Propaganda, die es braucht, um die Bevölkerung auf Linie zu bringen. Das wäre in Zeiten einer massenfähigen Arbeiterbewegung schwieriger gewesen, heute ist es eine Leichtigkeit. Aber was können wir unter solchen Voraussetzungen als Linke noch tun?
Eine Bewegung gegen den Krieg aufbauen
Es mag nach nichts klingen, aber die erste Aufgabe ist, sich von der Propaganda nicht irre machen zu lassen. Man steht mit einer konsequent antiimperialistischen Position zwischen dem – zwar marginalisierten, aber in der Linken noch vorhandenen – Block von Anhängern der russischen Invasion und dem mit großer Übermacht in die Debatte drückenden Block von pro-westlichen Imperialismusfans.
Die linke, antimilitaristische (nicht zu verwechseln mit einer pazifistischen) Position ist marginalisiert, aber sie bleibt nichtsdestoweniger die einzige, die Bestand haben kann: No war but class war. Dieser Krieg, genauso wie irgendeinanderer der imperialistischen Mächte, ist nicht unser Krieg, es ist kein Krieg für Befreiung und Sozialismus, sondern einer, in den Menschen für die jeweiligen Interessen kapitalistischer Nationen geschickt werden, um andere zu töten, die von der gegnerischen Nation geschickt werden.
Es sind die einfachen Forderungen, die wir in den Mittelpunkt der Öffentlichkeitsarbeit stellen müssen: Das nationale „Wir“ ist nicht unser „Wir“, sondern das der Herrschenden. „Wir“ haben kein Interesse an Krieg und wir haben an ihm nichts zu gewinnen, so wenig wie das russische oder ukrainische Proletariat. Keine Aufrüstung, keine Zustimmung zu den Maßnahmen der Kriegsvorbereitung – auch wenn sie noch so „defensiv“ daherkommen. Kein Einstimmen in die Kriegsgesänge, den Nationalismus und die Glorifizierung des „heiligen Verteidigungskriegs“. Zusammenschluss aller gegen den Krieg gerichteten progressiven Kräfte.
Die Losung, die eine Linke popularisieren muss, ist die der Revolution. Es gibt keine „Friedensordnung“ im Kapitalismus, die mehr wäre als ein temporäres Kräftegleichgewicht, das im Krieg untergeht, sobald einer der konkurrierenden Mächte die Zeit günstig erscheint.
Diese Losung steht zwar jederzeit in der Gefahr, von den „Pragmatikern“ des „kleineren Übels“ als Utopismus verlacht zu werden, die Wahrheit ist aber, dass wir in allen Belangen sehen, dass diese „Pragmatiker“ nicht in der Lage sind, irgendeine der Krisen zu bewältigen, vor denen die Menschheit steht: Nicht die der Zerstörung aller natürlichen Lebensgrundlagen und nicht die der drohenden Gefahr eines überregionalen Krieges mit im schlimmsten Fall Atomwaffen. Dass das so ist, ist nicht die Schuld der als „Utopisten“ verschrieenen Revolutionär:innen, sondern gerade der „Pragmatiker“, die stets ein System fortführen, das Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg braucht.
Nicht, wer den Umsturz der Verhältnisse organisieren will, verabschiedet sich von der realistischen Lösung der Probleme. Sondern wer in den Trippelschritten des Pragmatismus Mal um Mal mit den Elendsverwaltern des Kapitalismus im Gleichschritt der Alternativlosigkeit in den Abgrund mitläuft.
In dieser Situation können wir als Sozialist:innen und Kommunist:innen nichts anderes tun, als uns in die Tradition stellen, in der wir eben stehen. Als 1914 das deutsche Reich in den heiligen Verteilungsweltkrieg zog, jubelten die Sozialdemokraten mit, das ganze deutsche Volk war in einer hysterischen Kriegsbegeisterung. Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos. Die Losung „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ wurde, so schrieb Rosa Luxemburg, zur Losung: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege.“
Es waren international zunächst sehr wenige Sozialist:innen, die der antimilitaristischen Überzeugung der Arbeiterbewegung treu blieben. Sie hatten Kerker und Ächtung zu befürchten, doch sie blieben ihren Überzeugungen treu. In der Zimmerwalder Konferenz taten sie sich über alle nationalen Grenzen hinweg zusammen und sagten ihren Völkern: „Die Kapitalisten aller Länder, die aus dem vergossenen Blut des Volkes das rote Gold der Kriegsprofite münzen, behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie, der Befreiung unterdrückter Völker. Sie lügen. In Tat und Wahrheit begraben sie auf den Stätten der Verwüstung die Freiheit des eigenen Volkes mitsamt der Unabhängigkeit anderer Nationen.“
Und sie schlossen das Manifest mit dem Aufruf: „Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder vereinigt euch!“
Es dauerte Jahre, bis dieser Schlachtruf erhört wurde und es brauchte die mit Leichen gefüllten Gräberfelder Verduns, um den Hurrapatriotismus aus jenen Hirnen zu spülen, durch die noch keine Kugel geflogen war. Tun wir alles, dass es dieses Mal ohne diesen Erkenntnisprozess geht.
Ernst Petz 3. März 2022 - 15:10
Im Grunde sehr guter Artikel, zumindest die Richtung stimmt.
Was NICHT stimmt, ist die Gewichtung. Sie zitieren Putin, sie zitieren aus seinen Propagandasprüchen, das alles AUCH zurecht – demgegenüber kommt die Langzeitstrategie der USA mE viel zu kurz: da gäbe es unzählige verlogene/-schrobene Zitate, die das belegen, nicht nur die „Notwendigkeit“, gegen – 30 Jahre nicht vorhandene – russischen Aggression vorzugehen, sondern auch jeden Versuch Russlands, sich „in Europa“ zu integrieren, zu vereiteln.
Das gewalttätige Eingreifen der USA in welchen Weltgegenden auch immer, wenn ihre „Interessen“ bedroht erschienen, wird in 2 Zeilen gestreift, statt abgehandelt, die Destabilisierung JEDER fortschrittlichen Regierung in Lateinamerika waren immer Eingriffe in die Gestaltung souveräner Staaten … und sind Legion.
Mit der Ukraine bekamen sie endlich den Hebel in die Hand gedrückt, durch den die Schwächung Europas (EU) endgültig zu erreichen ist.
Es gab nie einen Grund, zB die Gasversorgung als mögliches Mittel der Erpressung wahrzunehmen, Russland war – im Gegensatz zu anderen Handelspartnern – geradezu ein Musterschüler an Vertragstreue. Aber man fand Politiker, die auf den „Erpressungszug“ aufsprangen, Europa (nicht nur die EU, Norwegen zB stellt den hiesigen Nato-Chef) hat sich nach der Trump-Episode wieder willfährigst zum U$-Komplizen gemacht (und das trotz der Biden-Historie). Und das trotz der von den USA durchgeführten Abhörmätzchen europäischer Spitzenpolitiker … die wurden, im Gegensatz zu bloß behaupteten russischen Hackerangriffen, bewiesen. Macht aber nichts, wir sind ja die Guten, ud die USA ohnehin die besten der Guten.
Das alles kann das grundlose Vertrauen in den einzigen Staat, der je Atombomben einsetzte, offenbar nicht erschüttern.
Russland/Putin hatte nie die Möglichkeit, die USA mit atomwaffenbestückten Stützpunkten zu umzingeln, da stehen links wie rechts 2 Ozeane im Weg. Die NATO hat in den verganenen Monaten bewiesen, daß sie Verhandlungen für überflüssig hält und die Eskalationsschraube einfach so lange weiter zugedreht … bis auch der friedlichste, in eine Ecke gedrängte Hund endlich zubeißt.
Dem Fazit Ihres Artikel, dem Appell an die Vernunft der Menschen, die nur zu verlieren haben in diesem System fühle ich zutiefst verbunden – aber er wird leider eine schöne Utopie bleiben: zu viele „Linke“ sind Systemerhalter, zu wenige Linke glauen daran, daß dieses menschenverachtende, profitgeile System je ausgehebelt werden kann (auch dazu gäbe es Beispiele aus Lateinamerika … aber ich wollte eigentlich gar nicht so ausfrührlich reagieren)
Ungterm Strich: Danke für diesen Ihren Kommentar, trotz alledem & alledem.
Yorgui Hartmann 3. März 2022 - 17:19
„konstruktive Destruktion“
erst vor kurzem wollte mir jemand, der sich gerne selbst dem gutbürgerlichen demokratischen udn friedlichen deutschen lager zuordnete, erklären, daß es ein akt der freien meinungsäusserung sei, wenn man jemand anderem die freie meinugnsäusserung verweigert.
das dürfte so in etwa die konkrete praktische umsetzung von „konstruktiver destruktion“ im alltag sein. nietzsche bezeichnete das mal als „umwertung aller werte“.
schöner prägnanter artikel btw 😀
Dossier: Krieg in der Ukraine 5. März 2022 - 12:13
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