Ein Debattenbeitrag zum Amnesty-Bericht
Angefeuert durch eine Analyse der Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist in den letzten Wochen auch in Deutschland wieder Bewegung in die Debatten um die Solidarität mit dem Befreiungskampf der Palästinenser*innen gekommen. In einem ausführlichen Bericht begründete Amnesty International jüngst, warum die systematischen Menschenrechtsverletzungen des israelischen Staates und die gesetzlich verankerte Ungleichbehandlung der Palästinenser*innen in ganz Palästina als Apartheid bezeichnet werden sollte. Die deutsche Vertretung Amnestys weigerte sich jedoch, diese Analyse zu teilen, setzte eine konsequente Bennenung der israelischen Menschenrechtsverletzungen mit Antisemitismus gleich und erfuhr dabei selbstverständlich die Unterstützung der deutschen bürgerlichen Öffentlichkeit. Im Gegenzug forderten einige palästinensische und palästinasolidarischen Organisationen und Kommentator*innen Amnesty Deutschland auf, den Apartheid-Bericht auch in Deutschland zu verbreiten und die Verurteilung des palästinensischen Befreiungskampfes als pauschal antisemitisch zu beenden. In den unter diesem Vorzeichen gemachten Aktionen und Debattenbeitragen zeigen sich jedoch auch viele Unzulänglichkeiten der palästinensischen und palästinasolidarischen Bewegungen in Deutschland. So benennt zum Beispiel Michael Sappir in seinem Beitrag für das Lower Class Magazine am 12. Februar zwar die Notwendigkeit, den Amnesty Bericht weiterzudenken – Folgen für die konkrete Praxis in Deutschland bleiben aber unbenannt. Im Nachfolgenden beginnen wir deshalb, einige Unzulänglichkeiten der Palästinasolidarität in Deutschland zu benennen und Vorschläge für eine Verbesserung sowohl der politischen Analyse als auch der politischen Praxis in Deutschland zu erarbeiten. Wir verfolgen damit das Ziel, die sich derzeit zu einem Großteil neu formierende, politische palästinasolidarische Bewegung in Deutschland zu stärken und größere Schlagkraft im Kampf für die Befreiung Palästinas vom Mittelmeer bis zum Jordan zu entwickeln.
Zur legalistischen Strategie der Palästinasolidarität in Deutschland
Mit Sicherheit können wir Folgendes grundsätzlich feststellen: In Deutschland formieren sich wieder palästinensische und palästinasolidarische Gruppen und nehmen den Kampf auf. Nach Jahrzehnten des Fraktionismus und der Untätigkeit vieler älterer palästinensischer Organisationen ist allein das bereits eine bemerkenswerte Errungenschaft. Es ist insofern auch zu begrüßen, dass überhaupt Stellung zu den aktuellen Entwicklungen genommen und versucht wird, politische Ausdrücke in Reaktion auf die Kriminalisierung und Verurteilung der eigenen politischen Arbeit zu finden. Die Erfahrungen massiver Repression während der letzten Jahre hat zu dem nachvollziehbaren Wunsch geführt, vor eben diesen Repressionen und vor allem vor dem immer wieder geäußerten Antisemitsmusverdacht geschützt sein zu wollen. Die aktuellen Forderungen an Amnesty Deutschland müssen wir deshalb vor allem in einer Reihe mit zahlreichen anderen Versuchen der letzten Jahre betrachten, mittels derer palästinensische und palästinasolidarische Gruppen versucht haben, der deutschen Repression mit rechtlichen Mitteln zu entgehen und die legalen Räume für die eigene Arbeit zu vergrößern. Wenn wir an die Rechtsstreite um die Auftritte von palästinensischen Revolutionär*innen wie Rasmea Oudeh und Khaled Barakat oder Kampagnen wie die BT3P-Initiative von palästinasolidarischen Aktivist*innen gegen repressive Beschlüsse des deutschen Bundestags denken, so erkennen wir schnell, dass auch die derzeit formulierten Forderungen an Amnesty Deutschland nach einem Bekenntnis zur Apartheid-Analyse mit einer ähnlichen Intention geschehen. Die Koalition „Palästina Spricht“ beispielsweise forderte von Amnesty Deutschland in einer Stellungnahme, endlich eine „sachliche Diskussion zum Nahostkonflikt“ zu ermöglichen. Es scheint hierin die Hoffnung mitzuschwingen, sich schützend hinter dem Apartheidbegriff versammeln zu können und, gedeckt durch die Menschenrechtsorganisation, einen Kampf um die Deutungshoheit in Deutschland zur palästinensischen Frage führen zu können.
Tatsächlich mag es wie ein Erfolg anmuten, wenn gerade in Deutschland – dem Land welches die bedingungslose Solidarität mit Israel und somit die Unterdrückung der Palästinenser*innen zur Staatsräson gemacht hat – eine sich an deutsche Öffentlichkeiten richtende Menschenrechtsorganisation in Bezug auf Israel die Apartheidsanalyse vertreten würde. Womöglich ließen sich so einige der zionistischen Verbrechen prägnant benennen und gar eine gewisse Aufmerksamkeit für die Sache der Palästinenser*innen herstellen. Nicht unwichtig ist es weiterhin, die Willkürlichkeit des gegen die Palästinasolidarität ins Feld geführten Antisemitismusvorwurf zu entlarven sowie die Folgen dieser Kriminalisierung und Repressionen darzustellen. In diesem Licht müssen wir auch die spontanen Aktionen einiger Gruppen bewerten, die vor Büros von Amnesty Deutschland protestierten und im Internet zu gemeinsamen Aktionen aufriefen. Ja, es ist grundsätzlich wichtig, zur Palästina-Frage hier in Deutschland politisch zu handeln und Stellung zu beziehen. Doch lauert in diesen, noch sich zu sehr an der Oberfläche der eigentlichen Sache abarbeitenden Aktionen eine große Gefahr. Und diese Gefahr ist, dass die spontanen Aktionen auf der bürgerlichen Ideologie aufbauen.
Wir müssen benennen, was es bedeutet, dass der Apartheid-Begriff eine Begrifflichkeit aus dem internationalen Recht ist.
Um dieser Gefahr zu entgehen, müssen wir den Begriff der Apartheid und der sich hinter diesem Begriff versammelnden politischen Aktivitäten sezieren. Einige der Unzulänglichkeiten des Apartheid-Begriffes und der Apartheid-Analyse wurden bereits in den Debatten geschildert, andere blieben unbenannt. So sind sich zum Beispiel zahlreiche Gruppen und Kommentator*innen bewusst, dass das Konzept der Apartheid selbst unzulänglich ist, um die historische und gegenwärtige Unterdrückung der Palästinenser*innen durch die Zionist*innen zu beschreiben. In Deutschland wurde in diesem Zusammenhang von einigen wenigen Kommentator*innen darauf hingewiesen, dass Apartheid lediglich als ein Werkzeug des Siedlungskolonialismus in Palästina verstanden werden darf, zum Beispiel von Michael Sappir. In einer englischsprachigen Veröffentlichung kritisierte Nihal al Aasar den Amnesty-Bericht deutlich dafür, zum zionistischen Siedlungskolonialismus und somit auch zur urzionistischen Logik der nötigen Eliminierung der Palästinenser*innen zu schweigen.
Wir müssen darüber hinaus deutlich benennen, was es bedeutet, dass der Apartheid-Begriff eine Begrifflichkeit aus dem internationalen Recht ist. Sich hinter dem Begriff der Apartheid zu versammeln und von dort aus den Kampf zu führen, bedeutet nicht nur, dass möglicherweise die größeren Dimensionen des zionistischen Siedlungskolonialismus ausgeblendet werden. Nein, es heißt vor allem auch, sich hinter einem Begriff aus dem Recht der internationalen Kapitalist*innenklasse zu versammeln. Warum ist diese Erkenntnis wichtig? Weil wir verstehen müssen , dass das internationale Recht vor allem eine Konsolidierung der Widersprüchlichkeiten des internationalen Kapitalismus ist und die historische Funktion erfüllt, die Produktionsweisen auf der ganzen Welt durch größteteils leere zivilisatorische Versprechen an den westlichen Kapitalismus anzugleichen.
Daraus lässt sich eine erste Aufgabe ableiten: Der Irrweg, sich mit Begrifflichkeiten des internationalen Rechtes – oder jedes anderen bürgerlichen Rechtes – zu schützen und mit Hilfe dieses Rechtes zu agieren, kann nicht zu einer tatsächlichen Befreiung führen. Das wiederum heißt aber nicht automatisch, dass legale Räume des bürgerlichen Staates oder der Schutz seiner Institutionen (Amnesty Deutschland als Menschenrechtsorganisation ist eine bürgerliche Institution) nicht ausgenutzt werden sollten; jedoch immer und ausschließlich dazu, um die Widersprüche dieser Bürgerlichkeit zu entlarven und die Illusionenen über den bürgerlichen sozialen Frieden zu zerschlagen.
#Titelbild: Palästinasolidarische Demonstration in Berlin 2021, Archiv des Autors
Über die Unzulänglichkeiten der Palästinasolidarität in Deutschland (Teil 2) - Lower Class Magazine 2. März 2022 - 9:52
[…] Ein Debattenbeitrag zum Amnesty-Bericht. (Teil 2 von 2, Teil 1 findet ihr hier) […]