Durch die intergenerationale Weitergabe von Erfahrungen nehmen Familienmitglieder der nachfolgenden Generationen die Ängste und Sorgen ihrer Eltern und Großeltern auf. Ein in der Psychologie bereits beobachtetes Phänomen. Wie passiert das? – Eine kleine Reise durch drei Generationen Gastarbeiter*innen.
„Sie haben gelebt, nur um zu arbeiten.“ Dieser Satz fiel mehrmals während eines Gesprächs mit einem sehr guten Freund, der Ende der 1960er mit seinen Eltern aus Italien nach Deutschland kam. Wir tauschten uns als Nachkommen von Gastarbeiter*innen in Deutschland aus. Vor circa 60 Jahren waren sie nach Deutschland gekommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Im Verlauf des Gesprächs wurde uns beiden klar, dass wir in der Gegenwart diesen jahrzehntelangen existenziellen Kampf unser beider Familien stark nachempfanden und als Teil unserer eigenen Geschichte wahrnahmen. Ihre Erfahrungen und Geschichten sind Teil unserer Identität und prägen unsere Entscheidungen noch heute. Es sind nicht nur die Erzählungen der Großeltern, sondern internalisierte Gefühle der Angst vor dem Verlust der Existenzgrundlage oder dem nicht dazugehören.
Die Forschung zur generationsübergreifenden Weitergabe von Trauma beschäftigt sich mit genau diesem Phänomen. Durch die Übertragung von Stress und Traumata auf die nachfolgenden Generationen erhöht sich die lebenslange Anfälligkeit für Depressionen und andere psychische Erkrankungen. Trauma wird häufig als eine Reaktion auf ein einzelnes Ereignis zurückgeführt. Es kann aber im Zusammenhang mit Migration auch aus einzelnen immer wiederkehrenden negativen Ereignissen entstehen. Der Migrationsprozess besteht aus verschiedenen Phasen, wie das Verlassen der Heimat und der Anpassung an ein neues Land. Während dieses Prozesses kann es ebenfalls zu schweren psychologischen Wunden kommen. Die Weitergabe dieser Wunden auf die nachfolgende Generationen wirkt sich unterschiedlich aus. Zum Beispiel durch das Verhalten, die weitergetragenen Geschichten oder die biologischen Auswirkungen von Stress der Elterngenerationen. Als ein weiterer Ansatz in der psychologischen Forschung wird die Weitergabe aber auch anhand der Ereigniszentralität betrachtet. Also dem Ausmaß indem ein Ereignis, wie die Migration, als ein bedeutender Aspekt der Identität wahrgenommen und in nachfolgende Generationen weitergetragen wird. Eine Studie von israelischen Forscher*innen fand heraus, dass die Erlebnisse der Überlebenden der Shoa besonders in der dritten Generation in die Identität der Familiennachkommen integriert wurden. Studien zeigen auch, dass die Zentralität von Ereignissen bei Menschen mit Migrationsgeschichte eine große Rolle spielt. Die mit der Migration zusammenhängenden Erlebnisse können so in die familiäre Identität integriert werden und haben Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit.
Die erste Generation
Als Kind von türkischen Gastarbeiter*innen machten die Erlebnisse meiner Familie einen großen Teil meiner Identität aus. Die Erzählungen der Familien, die wir bei uns im Umfeld hörten, waren meistens sehr ähnlich: Der Großvater verließ zunächst das Land, um alleine in Deutschland zu arbeiten und Geld in die Heimat zu schicken. Für meine Großeltern ergab sich diese Möglichkeit durch eine Steinfabrik für feuerfestes Material in Westdeutschland, aus deren Anwerbung eine ganze Wohnsiedlung für Arbeiter*innen entstand. Die Ehefrau und die Kinder kamen nach. Falls die Kinder jung waren, gingen sie zur Schule, falls nicht, mussten auch sie ihre Familien unterstützen und konnten ihren Bildungsweg nicht mitbestimmen. Wie meine Mutter, die ebenfalls in der Steinfabrik arbeitete.
Es gab für viele kaum Möglichkeiten sich weiter zu bilden, geschweige denn die nötige Zeit, finanzielle Möglichkeiten oder kognitive Ressourcen. Dementsprechend war die Sprache eine Hürde für ein selbstbestimmtes Leben. Unsere Großeltern benötigen bis heute unsere Hilfe bei Ärzt*innenbesuchen oder bei der Übersetzungen und Beantwortung von Dokumenten. Dass ihre jüngeren Kinder in der Schule diskriminiert wurden und ihnen eine anständige Chance auf Bildung erschwert wurde, unterstützte das Gefühl der Ausgrenzung immens.
Eine Existenz dazwischen
Die zweite Generation sollte es jedoch in Deutschland besser haben. Getrieben von der Sorge um das fehlende Fundament und die wenigen Optionen arbeiteten sie hart, um sich ein lebenswerteres Leben und Sicherheit aufzubauen. Die Existenzängste der ersten Generation wurden in der zweiten Generation weitergeführt und der soziale Druck wurde immer größer. Ein Eigenheim, um endlich anzukommen, und eine gute Schulbildung für die Zukunft der Kinder standen im Mittelpunkt der Zukunftsplanung. Die Angst vor dem Verlust der Existenzgrundlage sollte so verschwinden.
Das Leben meiner Eltern bestand darin, immer mehr zu wollen und immer mehr zu erreichen. Für ihre Akzeptanz als Mitglieder der Gesellschaft. Die Sorge davor diskriminiert und ausgeschlossen zu werden, weil man nicht den Normen entsprach, die die Dominanzgesellschaft vorgab, war ein roter Faden im Kapitel meiner Eltern.
Wir machen uns unser Zuhause
Und was ist mit der dritten Generation? Geprägt von den Geschichten unserer Familien, haben wir die Sorge, dass wir ununterbrochen Leistung bringen müssen, um nicht aus unserem Zuhause ausgeschlossen zu werden. Diese internalisierten Ängste können das Auftreten psychischer Erkrankungen begünstigen. Die dritte Generation hat jedoch die Möglichkeit, die Familiengeschichte bewusst anzunehmen, mit ihr zu arbeiten und diese bewusst in die eigene Identität und Perspektive zu integrieren.
Die postmigrantische Kunst und die Arbeit von Journalist*innen sorgen für ein nie dagewesenes Bewusstsein in den Köpfen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Wir haben endlich Zeit und Ressourcen, um all das, was unsere Großeltern und Eltern uns mitgegeben haben, all die Ängste, die Sorgen und Diskriminierung aufzuzeigen und zu verarbeiten.
Şeyda Kurt beispielsweise definiert in ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit“, die Liebe und Zärtlichkeit poststrukturalistisch neu und erzählt auf dem Weg zur Erkenntnis die Geschichte der Herkunft ihrer Eltern und ihrer Identität. Die perspektivische Wahrnehmung der Sorgen von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland wird nun durch die Folgegenerationen der Gastarbeiter*innen und Geflüchteten in die Identität und Geschichte Deutschlands integriert.
Auch die deutsche Filmkunst erzählte Anfang 2021 die Geschichte von Gastarbeiter*innen aus verschiedensten Ländern: Im Film Gleis 11 interviewt und begleitet Regisseur Çağdaş Yüksel die Geschichte der ersten Einwanderergeneration. Durch seine Linse wird das Bewusstsein für die Menschen, die ein großer Teil der Geschichte Deutschlands waren, größer. Dadurch wird deutlich, was für eine Vielfalt an Geschichten erzählt werden würde, gäbe es mehr Diversität in unserer Unterhaltungsbranche.
Aber auch die sozialen Medien helfen dabei, dieses Wissen für die breite Masse zu erweitern. Als ein Raum, in dem jede*r seine Geschichte erzählen kann – ohne einen Gatekeeper der Dominanzgesellschaft – wächst das Wissen über die vielen verschiedenen und sich doch ähnlichen Geschichten über das Migrationsland Deutschland.
Persönlichkeiten wie Alice Hasters, Gianni Jovanovic, Max Czollek, Mohamed Amjahid, Seyda Kurt und viele mehr, richten den Diskurs neu aus. Sie greifen damit bestehende Machtverhältnisse an und machen damit vielleicht den ersten Schritt, der nötig ist, damit die Weitergabe von diskriminierenden Erfahrungen und Traumata nicht in Stress, Angst oder der Anfälligkeit für psychische Erkrankungen münden. Sondern als Teil unserer Gesellschaft benannt, anerkannt und aufgenommen werden.
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