Rückkehr nach Trabzon – Mesut Bayraktars neuer Roman „Aydin“

15. Dezember 2021

Autor*in

Marik Ratoun

Im Oktober 2021 hat Mesut Bayraktar seinen dritten Roman „Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ (UNRAST Verlag) veröffentlicht. Darin erzählt er die Geschichte seines Onkels Aydin, der 1982 aus der türkischen Stadt Trabzon am Schwarzen Meer nach Deutschland gekommen war, um in der BRD zu arbeiten. Neun Jahre später, Aydins Körper und Geist waren bereits durch die Räder der deutschen Industrie gebrochen, der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte sein Inneres zerfressen, wird er wegen Drogenhandel abgeschoben und verliert wenig später den Verstand. 2019 stirbt er in seiner Heimat an Krebs.

Die Erzählung ist ein Versuch, diese neun Jahre in Deutschland nachzuvollziehen und nachvollziehbar zu machen. Beides gelingt auf schmerzhafte Weise. Doch der Text ist mehr als das. Er ist vielschichtig und besteht neben der anachronisch entfalteten Haupthandlung aus philosophischen Gedanken, eingestreuten Parabeln und politischen Reflexionen. Darüber hinaus erzählt Bayraktar nicht nur die Geschichte seines Onkels, sondern auch seine eigene Gegenwart, in der die Familiengeschichte weiter wirkt.

Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ von Mesut Bayraktar, UNRAST Verlag, 148 Seiten, 14 Euro“

Die große Stärke des Romans liegt zweifelsfrei in der bestechenden, schockierenden, wahrhaftigen Sprache, die Bayraktar zu finden in der Lage ist. Sie vermag es, die Leser:innen die Gewalt erahnen zu lassen, die Aydin stellvertretend für seine Klasse durch das System der Herrschenden in Deutschland erleiden musste. Bayraktars Stil erinnert dabei an das Schreiben des französischen Schriftstellers Edouard Louis, der die Tradition der Arbeiter:innenliteratur in der Folge von Annie Ernaux und Didier Eribon erneuern konnte und auch in Deutschland auf ein breites Interesse gestoßen ist.

„Wenn ich an meinen Onkel denke, dann denke ich daran, was ihm verweigert wurde – das ist Klassengewalt.“

Im Oktober 2021 jährte sich das „Anwerbeabekommen“ mit der Türkei, mit dem die BRD dem seit Mitte der 50er-Jahre herrschenden Arbeitskräftemangel durch türkische Arbeiter*innen begegnen wollte, zum 60. Mal. Das Abkommen war gleichzeitig ein Paradestück des Klassenkampfs von oben. Zukünftige hohe Lohnforderungen konnten hiermit schon vor ihrem Aufkommen verhindert werden, da die türkischen Arbeiter:innen aufgrund ihrer schwächeren Position im Vergleich zu einheimischen Arbeiter:innen keine aggressiven Forderungen stellen konnten.

Doch es wäre fatal, den Roman auf dieses Jubiläum zu verkürzen. Denn die Geschichte von Aydin ist universal. Seine Niederlage ist stellvertretend für die Tragödien der Arbeiter:innen auf der ganzen Welt, die für die Profitlogik entmenschlicht und zerstört, ja schlicht geopfert werden. Und der Kampf Bayraktars gegen das Vergessen ist stellvertretend für die Rebellion der Massen gegen ihre Unterdrücker:innen, die auch darin bestehen muss, die Geschichten der Unterdrückung zu erzählen, die normalerweise nicht erzählt werden. Der Text vermag vor allem eines: Er schürt Wut auf die herrschende Klasse. Er erschafft Bilder die bleiben und die ein Sich-zur-Wehr-Setzen provozieren. Diese Wut kann stets ein neuer Beginn sein, sich gegen das System aufzulehnen, dass Aydin und so viele andere bis heute zerquetscht hat. Mit „Aydin“ hat Mesut Bayraktar einen herausragenden Roman geschaffen. Es lohnt sich, ihn zu lesen.

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