Schon als sich vor einiger Zeit abzeichnete, dass die Lokführergewerkschaft GDL demnächst zu einem Streik aufrufen würde, hätte man drauf wetten können, was geschehen würde – dass die Konzernmedien im Verein mit den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern einen Propagandakrieg gegen die GDL und vor allem ihren Vorsitzenden Claus Weselsky anzetteln. Schon beim Bahnstreik im Herbst 2014 war Weselky von der Bild-Zeitung und anderen Medien in einer Art verteufelt worden, die an den Stil des NS-Propagandablatts „Der Stürmer“ erinnerte. Das Boulevardblatt hält sich beim aktuellen Streik, den die GDL am 11. August begann, anscheinend eher zurück, zumindest was den Gewerkschaftsführer angeht. Dafür hauen andere Medien umso mehr drauf.
Eine kleine Auswahl von Schlagzeilen: „Claus Weselky – der selbsternannte Robin Hood der Eisenbahner“ (Badische Zeitung), „Wie ein Popstar lässt sich der GDL-Chef von seinen Lokführern feiern“ (Redaktionsnetzwerk Deutschland), „Bühne frei für den Gruppen-Egoisten Weselsky“ (Handelsblatt), „GDL-Chef Weselsky hat jedes Maß verloren“ (Tagesspiegel). Auch das reichweitenstarke Portal ntv.de reihte sich in den Chor ein, mit einem Kommentar unter der Überschrift „Claus Weselky – der Überlebenskampf eines Egomanen“. Hier und bei den anderen Leitmedien wird ein Streik, der bei einer Urabstimmung mit 95 Prozent der Stimmen beschlossen worden ist, auf eine perfide Weise personalisiert. Und ebenso perfide ist, wie mit Verdrehungen und Halbwahrheiten gearbeitet wird, um die Motive und Ursachen dieses Arbeitskampfes in den Schmutz zu ziehen.
Es lässt sich wieder gut erkennen, wie auch in diesem Fall fast alle bürgerlichen Leitmedien einem Argumentationsmuster folgen, als wäre dieses von den Herrschenden als Parole ausgegeben worden – ob es der NDR-Reporter ist, der zwei Minuten aus dem Hamburger Hauptbahnhof vom Streik berichtet, oder der politische Kommentator in der FAZ. Diese Argumentation lautet, etwas zugespitzt zusammengefasst, folgendermaßen: Denen geht es gar nicht in erster Linie ums Geld, sondern das ist ein Machtkampf mit der größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, denn die GDL und vor allem Weselky wollten nur ihren Einfluss vergrößern. Bei ntv.de klingt das so: „Denn im Konflikt geht es ihnen vorrangig gar nicht um Tarifergebnisse. Es geht ihnen in erster Linie darum, den eigenen Einfluss im Konzern zu vergrößern und der viel größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG möglichst viele Mitglieder abzujagen. Und deshalb eskaliert Weselsky schnell maximal.“
Das schreibt ein gewisser Jan Gänger, Leiter des Wirtschaftsressorts bei ntv.de, der sich als folgsamer Laufbursche des Kapitals erweist. Er erwähnt immerhin noch, dass ein Hintergrund des Streiks auch das Tarifeinheitsgesetz (TEG) ist, das im Frühjahr 2015 im Bundestag von der großen Koalition aus Union und Sozialdemokraten durchgeboxt wurde, nicht zufällig unmittelbar nach dem Bahnstreik vom Herbst 2014. Es schreibt vor, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag mit der Gewerkschaft gilt, die unter den Beschäftigten die meisten Mitglieder hat. Gänger findet dieses Gesetz ganz großartig, da es „einen Überbietungswettbewerb von Gewerkschaften und die Spaltung einer Belegschaft verhindern“ solle. Eine kühne Behauptung.
Wozu das Gesetz tatsächlich dient, hat der Verkehrsexperte Winfried Wolf auf der von ihm verantworteten Plattform Streikzeitung in einem Kommentar am 10. August auf den Punkt gebracht. Das TEG laufe darauf hinaus, schreibt er, „dass den sogenannten kleinen – und oft kämpferischen – Spartengewerkschaften (wie GDL, Marburger Bund, Cockpit) der Spielraum massiv verkleinert, wenn nicht ihre Existenz bedroht wird“. Es sei völlig offen, was der Begriff „Betrieb“, in dem laut TEG nur noch ein Tarifvertrag gültig sein soll und dann eben derjenige der relativ größten Gewerkschaft, konkret bedeute. Auch welches die relativ größte Gewerkschaft ist, sei nicht eindeutig definiert. Dies alles öffne „für Manipulationen Tür und Tor“, so Wolf.
Es liegt also auf der Hand, dass das TEG den Herrschenden vor allem dabei hilft, unbequeme Gewerkschaften platt zu machen. Wolf ist daher zuzustimmen, wenn er schreibt, dass der GDL-Streik „für alle gewerkschaftlich Aktiven und für die Linke von enormer Bedeutung“ sei. Im übrigen bezeichnet er ihn auch als „sozial gerechtfertigt“. Entgegen den Aussagen der Bahnvorstände Richard Lutz, Martin Seiler und Ronald Pofalla fordere die GDL „exakt das, was im Frühjahr 2021 im Verdi-Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst beschlossen wurde“. Und das sei „gerade mal Lohnausgleich und eine gewisse Anerkennung für das Den-Kopf-Hinhalten in der Pandemie“.
Während aktuell gegen Claus Weselky und die GDL auf allen Kanälen Stimmung gemacht wird, löste die Meldung des Spiegel vom April, dass rund 70 Vorstände und Geschäftsführer von Bahn-Tochterunternehmen auf der Auszahlung großer Teile ihrer Prämien beharren, obwohl zugleich Gleisarbeiter vor dem Hintergrund der Pandemie zurückstecken müssen, kaum Empörung aus. Da war bei ntv.de & Co. nichts zu lesen von Profitgier der Egomanen in den Vorstandsetagen und dergleichen. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing – diese Devise ist den Lohnschreibern der bürgerlichen Medien in Fleisch und Blut übergegangen.
# Titelbild: Maryellen McFadden Poster The first Soviet freight train engine 1921 Andrei Shelutto designer. Theme of poster is Soviet Industrial design between 1920 and 1930. CC by-nc-nd/2.0/