Es ist der 28. April 2021, erster Tag des Nationalstreikes in Kolumbien. In Medellín liegt der 17 jähriger Jugendliche Marcelo Agredo auf der Straße. Aus einem Loch in seinem Kopf fließt das Blut, genau dort wo ihn die Kugel aus dem Lauf der Pistole eines Polizisten getroffen hat. Er ist tot.
Das Video dazu ging auf Social Media viral, genau wie unzählige andere in denen staatliche Sicherheitskräfte auf Demonstrant:innen schossen.
Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt? Der kolumbianische Narco-Staat befindet sich seit ungefähr einer Woche im Krieg mit dem streikenden Volk. Auslöser für den Konflikt war ein Nationalstreik gegen bevorstehende Steuer-Reformen, doch die Bilder der farbenfrohen und solidarischen Massenproteste werden überschattet von der Reaktion der kolumbianischen Oligarchie. Kolumbien ist ein Land, in dem eine winzige korrupte Elite ihre Interessen um jeden Preis durchsetzt, sei es mit Gewalt. Die derzeit andauernden Proteste sind die größten, militantesten und radikalsten seit Jahren. Gibt es die Chance auf eine Renaissance?
Generalstreik in Kolumbien gegen neoliberale Reformen
Das nationale Streikkomitee (Comité Nacional de Paro, CNP) rief zu erneuten Protesten gegen neoliberale Wirtschaftsreformen der ultrarechten Regierung von Präsident Iván Duque auf. Der 28. April war der Startschuss für eine Landesweite Mobilisierung unter dem Motto „Für Leben, Frieden, Demokratie und gegen das neue Schwindelpaket Duques und die Steuerreform“.
In circa 600 Städten und Gemeinden hat es Kundgebungen, Hafen- und Straßenblockaden und riesige Demonstrationen gegeben. Getragen werden die Proteste von allen Gesellschaftsgruppen, besonders ist aber die militante Präsenz der Jugend erkennbar. Auch Indigene Organisationen mobilisieren tausende Menschen. Die ultrarechte Regierung versucht den Volksaufstand mit paranoiden Theorien zu erklären: Verantwortlich sein angeblich die kommunistischen Guerillas FARC-EP und ELN. Am 5. Mai „verwechselte“ der Kriegsverbrecher und ex-Präsident Álavro Uribe die Flagge der indigenen Organisation Minga mit der der ELN Guerilla auf Twitter. Nach ein paar Minuten war der Tweet wieder gelöscht.
Anstatt mit den Demonstrierenden in den Dialog zu treten, eröffnete der Staat das Feuer. Seit dem 28. April tötete der Staat 35 Menschen innerhalb von 4 Tagen. Zusätzlich gibt es Opfer von Vergewaltigung und massiver Polizeigewalt. Fast 100 Menschen werden derzeit vermisst.
Trotz der massiven Gewalt kapitulierten die Massen nicht und die Reformen mussten zurückgenommen werden – so zumindest die Ankündigung des Staates. Dieser Erfolg gehört den Kolumbianer:innen, doch er ist ein kleiner Sieg in einem Jahrelangen blutigen Klassenkampf. Das Volk hat noch viele Rechnungen mit dem Staat offen. Deutlich bei den Statistiken der Polizeigewalt wird die Kontaktlosigkeit der Oligarchie mit der rebellierenden Arbeiter*innenklasse. Der Frieden auf den Straßen Kolumbiens ist grade keine Perspektive. Der Kampf geht weiter.
Klassenkampf in Kolumbien hat eine lange Geschichte, die nicht mit dem Nationalstreik anfing und mit ihm auch nicht enden wird. Die Regierung tut alles, was der US-Imperialismus ihr befielt und bekämpft jeden, der sich dieser Sache in den Weg stellt. Seit über 50 Jahren ist der Staat im Krieg mit der aufständischen marxistischen Guerilla FARC-EP und ELN. Es gibt ein Sprichwort in Kolumbien: Es sei ungefährlicher in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen. Laut offiziellen Zahlen sind 96.000 Zivilist:innen in den letzten sechs Jahrzehnten durch die rechtsextremen Paramilitärs getötet worden.
„Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst.“
In den letzten Tagen konnte ich mein Handy nicht mehr aus der Hand legen. Ich war im ständigen Kontakt mit Freund:innen in Kolumbien. In einer Nacht bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Ein Freund aus der Hauptstadt Bogota schrieb mir: „Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst. Mein Freund, hier in Kolumbien töten die Cops die Menschen. OMG, sie schießen gegen das Volk. Der Präsident befahl gegen alle streikenden Menschen zu schießen.“ Ich fragte ihn, ob er Schießereien miterlebt hat. „Ja, in meiner Stadt. Sie schossen aus einem Auto als sie durch die Menschenmassen fuhren.“ Dann in der nächsten Nacht wieder: „Die Situation ist jetzt so viel schlimmer. Die Cops töten unsere Leute, OMG Ich habe so viele Videos gesehen. In Cali, Valle del Cauca sind Sie jetzt ohne Strom und es wird das Militär eingesetzt, welches scharf schießt.“
In dem paranoiden Blutrausch der kolumbianischen Cops wurden selbst eine UNO Beobachtungsmission am 3. Mai unter Beschuss genommen. Einzelne Polizisten und Armeesoldaten kündigten auf Social Media an, dass sie nicht auf die Proteste schießen werden. Ihre Beiträge gehen allerdings in der Flut von unzähligen Videos unter, welche den Terror dokumentieren. Cops die von fahrenden Motorrädern in Menschenmengen schießen, Cops die auf sich nicht mehr bewegende Körper einschlagen, ja teilweise sind ganze Straßenabschnitte ein Blutbad.
Bilder aus den Großstädten können an einen Bürgerkrieg erinnern. In den Straßen hängt der Nebel von Tränengas. Militär und Polizeihubschrauber kreisen 24/7 über den Barrios. Regelmäßig sind Schüsse zu hören. Ausgebrannte Busse als Barrikaden. Ausgeräumte Banken und geplünderte Geldautomaten. Viele trauen sich seit Tagen nicht mehr auf die Straße. Der reguläre Alltag ist derzeit unmöglich. Trotz alledem gehen Hunderttausende auf die Straße zum Protestieren. Viele haben nichts mehr zu verlieren, 42 % der Kolumbianer:innen leben in Armut.
„Gebt ihr uns kein Brot, geben wir euch kein Frieden!“
Am Anfang des Textes steht die Frage „Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt?“. Neben den unzähligen Bildern der Gewalt des Staates gibt es auch heldenhafte Szenen, die mit den Handykameras hinter den Barrikaden aufgenommen wurden.
Zu sehen sind meist Jugendliche, die bis ans Äußerste ihrer Grenzen gehen und selbst vor Schüssen nicht Halt machen. Videos aus der Sicht der Primera Linea, wie sie in Formation auf Polizeieinheiten stürmen. Es kursieren auch bereits mehrere Videos wie Demonstrant:innen die staatlichen Sicherheitskräfte mit Handfeuerwaffen unter Beschuss nehmen. Am 6. Mai durchbrachen Demonstrant:innen die Absperrungen zum Nationalkapitol. Nur durch Sondereinheiten der Polizei konnte der Sitz des Kongresses verteidigt werden. Im Land herrscht eine große Wut, manche würden dies als revolutionäre Stimmung beschreiben, so etwa die kolumbianische marxistische Guerilla:
„Die Tage der Straflosigkeit der Determinanten des staatlichen Völkermords sind gezählt. Duque und Uribe, Zapateiro und Vargas, müssen sich für diese Toten verantworten. Wir rufen alle bolivarischen und patriotischen Militärs auf, die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Luftwaffe, der Armee und der Marine, um den Nationalstreik zu unterstützen“, heißt es in einem Comunique der aufständischen FARC-EP Zweites Marquetalia. Ein weiteres Comunique einer FARC-EP Front in der ländlichen Region Cauca erklärt, wie sie mit den Menschen auf der Straße Seite an Seite stehen werden.
Ich bat noch eine weitere Genossin, die jede Nacht auf den Straßen Kolumbiens ist, um letzte Worte für diesen Artikel. Sie schrieb mir: „Meine Erfahrung aus dem Protest ist ein Gemisch der Gefühle von Nostalgie, Adrenalin, bis zu Wut und Hoffnung. Denn dieser ganze Kampf gemeinsam mit meinen Freund:innen, die hier zu meiner Familie geworden sind, wird in einem besseren Land gipfeln. Es ist genau diese Empathie, mit der ich hoffe, zusammen mit allen anderen einen Weg zu schaffen, wo nie wieder einem Menschen mit Gleichgültigkeit begegnet werden wird… ¡Mi nación es mi gente! (Meine Nation ist mein Volk!)“