Belarus: Väterchens Volksherrschaft

1. März 2021

Ein Kommentar zur 6. Allbelarussischen Volksversammlung und zu Lukaschenkos Antwort auf die Proteste.

2.700 Delegierte durften am 11. und 12. Februar bei der 6. Allbelarussischen Volksversammlung „direkte Demokratie“ ausüben. Denn das seit 1996 im fünfjährigen Rhythmus einberufene Gremium soll gewissermaßen, neben der Nationalversammlung (Zwei-Kammer-Parlament), die Sowjettradition fortsetzen. Die „Arbeitskollektive“, also die Belegschaften von meist staatlichen Unternehmen, entsenden Delegierte, die zusammen mit den Vertretern von Kultur, Sport, Armee, sowie Berufspolitikern und Unternehmern zwei Tage lang das „Programm der sozialökonomischen Entwicklung“ für die nächsten fünf Jahre diskutieren und beschließen.

Dass die Vertreter der „Arbeitskollektive“ von ihren Vorgesetzten und die anderen Delegierten von den lokalen Exekutivkomitees und Administrationen ausgesucht werden, ist zwar hinlänglich bekannt, aber darin unterscheidet sich die direkte Demokratie in Belarus in Form der Volksversammlung nur wenig von der repräsentativen in Form des Parlament. Wie bereits 2006 der damalige Direktor der nationalen, staatlichen Fernsehanstalt der Republik Belarus, Alexander Simowski, dem überaus verständnisvollen „junge Welt“-Redakteur erläuterte: „Unser politisches System stellt nichts Außergewöhnliches dar. Als eine gewisse Besonderheit könnte man die Tatsache betrachten, dass in Belarus das Machtzentrum in Richtung Präsidentschaft verschoben ist. Das ergibt sich vor allem aus der Schwäche der existierenden Parteien. Aber gerade deshalb ermöglicht unser Wahlsystem die Widerspiegelung eines repräsentativen Querschnitts durch alle Schichten der Bevölkerung – unabhängig von den Interessen politischer Gruppierungen. Das politische System in Belarus funktioniert, ist stabil und entspricht den Vorstellungen der Mehrheit der Wähler.“ („Unsere Medien betreiben keine Gehirnwäsche“, junge Welt 14.06.2006)

Die Unterscheidung zwischen „direktem“ Volkswillen, der ungetrübt von politischen Programmen Unternehmer und Arbeiter einigt, und den „politischen Gruppierungen“ aller Couleur, die schwach und unbedeutend seien, ist ein Grundstein von Lukaschenkos Modell. So als wäre es nicht Alexander Lukaschenko, der Verfassungsänderungen durchsetzte um dem Parlament und „politischen Gruppierungen“ den Spielraum wegzunehmen, sondern umgekehrt, als wäre die Konzentration der Kompetenzen in den Händen des Präsidenten lediglich die Folge dieser Schwäche. Die quasikooperativen Institutionen wie die Volksversammlung sind gerade deswegen bequem, weil sie keine politischen Programme mit Interessensgegensätzen aufkommen lassen. Sie verkörpern die völlig entpolitisierte Einheit des Volkes unter „Väterchen“ Lukaschenko. Dieser hält seine Herrschaft für ein derart erfolgreichen Dienst am Volk, dass er sich nur ungern von Formalitäten einschränken lässt.

Lukaschenkos Kapitalismuskritik

Bei Lukaschenkos Auftritten in der Volksversammlung wird deutlich, was seine Vorstellungen von Wirtschaft unterscheidet von denen seiner westlichen und inländischen Kritikern. „Vergessen sie nicht: Belarus wird nicht vorm Business niederknien, wie es Russland gemacht hat. In Belarus werde ich es nicht zulassen“. Kapitalisten sollen zwar in Belarus wirken, aber sich nicht in die Politik einmischen. Klingt nach einem Rezept gegen Korruption, die die westlichen Beobachter in Osteuropa doch immer beklagen.

Ein Grund zur Freude für diese? Mitnichten!

Der von Lukaschenko regierte belarussische Staat betrachtet die Existenz der unternehmerischen Interessen nur als notwendiges Übel für das Wohl der Nation. Den Produzenten ist kapitalistisches Kalkulieren erlaubt, dementsprechend auch das freie Festsetzen der Preise. Das Geld ist also nicht mehr wie früher im Ostblock Kommandomittel, das lediglich ein Instrument der Planung ist, sondern es wird kapitalistisch mit diesem Geld gerechnet. Doch die Unternehmerklasse wird für sein Wirken gar nicht ordentlich gewürdigt! Die Kapitalisten gibt es in Belarus dennoch und sie wollen sich immer weniger damit abfinden, dass ihre Interessen von der Politik nicht so geschätzt werden, wie in einem „normalen“ Kapitalismus, welchen sie in erfolgreichen westlichen Staaten bewundernd beobachten. Die westlichen Nachbarn zeigen für die Sorgen der belarussischen Privatiers viel Verständnis – in Vorfreude auf die Zeit, wo ihre Kapitalisten in Belarus ihr Kapital uneingeschränkt vermehren dürfen, ganz ohne Paradoxien von Lukaschenkos „Kapitalismus zwecks Volksversorgung“.

Dass die „soziale Verantwortung“ mehr dem Staatsapparat zu Gute kommt, die Lohnabhängigen in Belarus keine unabhängigen Gewerkschaften gründen dürfen und Belarus nicht nur vom Westen, sondern auch aus Moskau zur mehr Marktwirtschaft gedrängt wird, ist bei der Volksversammlung kein Thema. Stattdessen schimpft Lukaschenko auf „Globalismus“, als wäre er auf einem Weltsozialforum, verweist auf die ausländischen Kräfte, die hinter allen halbwegs organisierten Unmutsäußerungen stecken und macht klar, dass es vor 2022 nichts wird mit der neuen Verfassung. Dann soll ein Referendum darüber abgehalten werden, wobei es unklar bleibt, wie die Kompetenzen neuverteilt werden. Lukaschenko hat die politische Macht in Belarus in seinen Händen konzentriert, ist aber nicht der Herr über die widersprüchlichen Grundlagen seines Wirtschaftsmodells. Er exportiert Öl, Gas und Raffinerieprodukte in den Westen. Dieses Geschäft funktioniert aber nur auf der Grundlage von Freundschaftspreisen, die Russland ihm gewährt. Mit diesem Geschäft ist er zwischen verfeindeten Interessen eingeklemmt, egal wie oft er seine Lieblingsvokabeln „Unabhängigkeit“, „Eigenständigkeit“, „Souveränität“ wiederholt.

Die Opposition: Wahlen gewonnen, Straße verloren?

Währenddessen zieht die Opposition die Bilanz vom halbjährigen gewaltlosen Protest. Die fällt nicht so positiv aus – weil der Staat auf die Gewaltlosigkeit erfolgreich mit Gewalt antwortete. Oppositionspolitikerin Tichanowskaja fühlt sich dennoch als Siegerin der Wahlen. Da die offiziellen Ergebnisse offensichtlich manipuliert wurden und der Westen schon lange klar macht, sowieso nur die Wahlergebnisse als demokratisch anzuerkennen, bei denen Lukaschenko verliert, funktioniert dieser Turn einigermaßen. Lukaschenko ist ein Diktator, das adelt alle, die sich gegen ihn stellen und sich einem Risiko aussetzen.

Sich die Frage zu stellen, was der Koordinierungsrat der Opposition denn anders machen will, wenn er demokratisch ermächtigt wird über das Land und die Leute zu regieren, gehört sich für einen guten Demokraten nicht. Die politische Landschaft zum Beispiel in Deutschland zögert nicht lange. Im Westen fühlt sich Die LINKE doch wohler als mit Putin und spekuliert wohl darauf, dass die Opposition auf den Ruinen von Lukaschenkos „Marktsozialismus“ eine soziale Marktwirtschaft errichten wird. Vielleicht nicht gleich, sondern irgendwann nach harten Reformen, aber dennoch.

Die Opposition kann jetzt ans Ausland appellieren, mit dem Verweis, sie und nicht Lukaschenko repräsentiere – ja wen eigentlich? Natürlich, „das Volk“! Spätestens da fällt es auf, dass die ganze Diskussion sich um die eine Frage dreht:

Wen setzt der Umstand, dass das Volk wählt und dann auch noch auf die Straße geht, ins Recht? Lukaschenko und Tichanowskaja reklamieren für sich die demokratischen Regeln: „wer gewählt wurde, dem gebührt Gehorsam“. Wenn die Herrschaftsbestellung abgeschlossen ist, heißt es für das Volk erst mal „Ruhe im Karton“. Nur hat Lukaschenko einen bis heute weitgehend intakten Gewaltapparat auf seiner Seite. Daher lässt er sich vom „Organ der direkten Demokratie“ in Form der Allbelarussischen Volksversammlung feiern, während Tichanowskaja aus dem Ausland heraus Strategien für „das Volk“ vorgibt, damit dieses die Anerkennung der richtigen Wahlresultate herbei protestiert.

Beide Seiten bringen bei ihrer Berufung auf das Volk einen schweren Vorwurf gegeneinander: gar nicht die Vertreter von wahren nationalen Interessen zu sein. Nicht umsonst ist „Unabhängigkeit“ einer der wichtigsten Vokabeln der politischen Rhetorik beider Lager. Die Unterstützung des Auslands für die Opposition nimmt Lukaschenko zum Anlass, sie als Marionetten abzustempeln. Doch die Opposition lässt den Vorwurf nicht auf sich sitzen und sieht in jedem Schritt von ihm nur einen Beweis für seinen Plan, die Belorussen um ihre nationale, wenn auch wenig gesprochene Sprache zu bringen und das Land an Russland zu verscherbeln. Für ein paar lächerliche Kredite und politische Preise für die Energieträger, an denen die Wirtschaft bedauerlicherweise hängt. Die Idee einer Vereinigung der beiden Länder, die vor zwanzig Jahren noch konkrete Gestalt anzunehmen schien, wird allerdings offiziell gar nicht mehr diskutiert. Von der russischen Seite scheint viel mehr Interesse an der Übernahme der belarussischen Unternehmen, welche Lukaschenkos Protektionismus mal vor dem Untergang bewahrte.

# Titelbild: Lukaschenko, kremlin.ru, CC BY 4.0

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