Belarus: Schritte in eine ungewisse Zukunft (Teil1)

25. November 2020

Seit der offensichtlich gefälschten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukashenko im August kommt es in dem Land zu der größten Protestwelle seiner Geschichte. Wie bereits zuvor im Lower Class Magazine berichtet, beteiligen sich hunderttausende Menschen an den Demonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen. Doch was fordern die Menschen auf der Straße? In welchem Zusammenhang stehen die Proteste zu der tiefen ökonomischen Krise, in der Belarus seit Jahren steckt? Und welche Rolle spielen die politischen Interessen Russlands und des europäischen Auslands? Teil 1 einer Analyse.

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngere Geschichte des osteuropäischen Staates. Der Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 bewirkte, dass ein Großteil der Ex-Sowjetstaaten in eine tiefe politische und ökonomische Krise rutschte. Infolgedessen wurde ein Großteil der ehemals staatlichen Unternehmen an mafiöse oligarchische Strukturen verscherbelt, was weite Teile der Proletarisierten ihrer Lebensgrundlagen beraubte und sie in bittere Armut stürzte.

Das Besondere am belarussischen Staat ist, dass er einen solchen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel verhindern konnte. Besonders im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten hat sich Belarus auf wirtschaftlicher und administrativer Ebene seit 1991 erstaunlich wenig verändert. Der seit 1994 amtierende Präsident des Landes Lukashenko regiert ohne nennenswerte Opposition, gestützt auf einen riesigen Bürokratieapparat und ein Netz der Privilegien. Dazu gehören die Polizeibehörden und der Geheimdienst (KGB), welche zahlreich, loyal und gut finanziert sind. Jeder Versuch einer organisierten Opposition – ob selbstorganisiert oder durch Wahlen – wird mit aller Härte unterdrückt.

Auch die belarussische Wirtschaft orientiert sich immer noch relativ stark am Muster der zentral geplanten sowjetischen Industrienationen. Anders als andere ehemalige Ostblockstaaten blieben im Laufe der 1990er Jahre weite Teile der Schlüsselindustrien von Privatisierungen verschont. So arbeiteten 2015 39,2% der Bevölkerung in staatlichen Betrieben, welche einen großen Teil der belarussischen Exportgüter erzeugen. Zwar entstand in den letzten Jahren besonders im Raum Minsk ein florierender IT-Sektor, dieser stellt aber noch einen relativ kleinen Teil des belarussischen BIP dar. Ein Großteil der belarussischen Arbeiter*innenklasse ist Mitglied eines staatlichen Gewerkschaftsbündnis, welches als Relikt der Sowjetzeit relativ loyal zum Regime ist. Dies beginnt sich allerdings in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zu ändern.

Ein weiteres Erbe der sowjetischen Verhältnisse sind die (zumindest bis vor kurzem) guten Lebensbedingungen der belarussischen Bevölkerung: annähernde Vollbeschäftigung, ein relativ gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem, staatlich fixierte Lebensmittel- und Wohnpreise, eine relativ geringe Armutsquote. Es wäre jedoch falsch, den relativen Erfolg der belarussischen Nationalökonomie im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetstaaten den besonderen Fähigkeiten des Lukashenko-Regimes zuzuschreiben. Einer der Hauptgründe, weshalb Belarus dieses Modell aufrechterhalten konnte, ist die direkte und indirekte Unterstützung durch den russischen Staat, in Form von Krediten und billigen Öl- und Erdgasexporten. Bis vor wenigen Jahren bezahlten belarussische Unternehmen nur 50% der Weltmarktpreise für Rohölexporte. Diese werden in zum großen Teil staatseigenen Raffinerien weiterverarbeitet und stellen einen Hauptteil der belarussischen Exportbilanz dar.

Dieser Grundpfeiler der belarussischen Wirtschaft gerät jedoch zunehmend ins Wanken: In den letzten Jahren wurden die preislichen Privilegien für den Energiesektor zunehmend revidiert, bereits jetzt verlangen russische Energieunternehmen 80% der Weltmarktpreise, bis 2025 sollen es 100% sein. Einerseits versucht der russische Staat dadurch, Druck auf Belarus aufzubauen um diesen näher an die eigene wirtschaftliche Einflusszone anzubinden. Andererseits spiegelt die Preiserhöhungen die Krise des russischen Energiesektors infolge des globalen Verfalls der Ölpreise wider.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das ökonomische Paradigma des belarussischen Staates – staatlich gelenkte, personalintensive Industrieproduktion einerseits, Verarbeitung und Export von Öl und Gas andererseits – an seine Grenzen stößt. Im Zuge der globalen Verwertungskrise des Kapitals ist also auch das Minsker Regime gezwungen, eine zunehmend marktliberale Politik zu führen. So verabschiedete die Regierung 2017 ein Gesetz, welches Arbeitslosigkeit als „sozialen Parasitismus“ unter Strafe stellt. In den folgenden Jahren kam es infolge von Verhandlungen mit internationalen Kreditinstituten zur Rücknahme der staatlich fixierten Wohnpreise, wodurch seitdem vor allem in den Großstädten die Mieten stark gestiegen sind.

In dieser Situation trifft die Corona-Krise den belarussischen Staat besonders hart, da er es sich schlicht nicht leisten kann, seine schwächelnde Wirtschaft nennenswert durch Schutzmaßnahmen einzuschränken. Dazu kommen mangelnde Gelder für genügend Schnelltests und Schutzausrüstung. In dieser Situation entschied sich das belarussische Regime, den Umfang der Pandemie herunterzuspielen. Lukashenko sprach öffentlich davon, dass das Virus sich durch genügend Saunagänge und Vodka von selbst erledige, während Corona-Tote in den Staatsmedien als einfache Lungenentzündungen registriert wurden. Diese gezielten Desinformationen werden von der breiten Bevölkerung zunehmend als solche erkannt: „In diesem Staat basiert alles auf Lügen. Sie lügen über COVID, sie lügen über die Wahlen, sie lügen in der Schule und sie lügen über die Wirtschaft.“ erzählt uns Wera, 67, bei einer Nachbarschaftsversammlung. Gleichzeitig entwickeln sich verstärkt Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, welche versuchen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Diese Netzwerke bilden eine Grundlage für die Nachbarschaftsversammlungen, welche bis heute das Rückgrat der Protestbewegung darstellen.

Dass es am Wahlabend zu ersten Demonstrationen kam, war also absehbar, neu war aber das Ausmaß. Die Proteste werden von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. „Für eine lange Zeit lebten wir unter diesem Staat nach dem Prinzip: je weniger du sagst, desto sicherer bist du. Aber das ist jetzt aufgebrochen, das hat unsere Realität verändert. Wir wissen jetzt, dass wir zwar alle unterschiedlich sind, aber trotzdem in eine ähnliche Richtung wollen. Wir hören einander zu“, erzählt Wera. Ob das so bleibt, wird sich zeigen. Im Moment sind verschiedene Klasseninteressen vereint, die sich aber bei der Frage einer neuen Gesellschaftsordnung zwangsläufig gegenüberstehen werden.

Die boomende IT-Branche, die vergangenes Jahr für die Hälfte des Wirtschaftswachstums verantwortlich war, würde, genau wie andere Unternehmer*innen von weiteren marktliberalen Reformen profitieren. Sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch verstehend, drohen 300 führende IT-Unternehmen das Land zu verlassen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Auch die althergebrachte bürgerlich-intellektuelle Opposition hat wohl ein Interesse an einer Liberalisierung der Märkte, sowie „freien“ Kulturbetrieben ohne ideologische Abteilungen und Zensur. Bei den vielen Jugendlichen und Studierenden ist naheliegend, dass sie im Anbetracht schlechter Zukunftsaussichten in einem Land mit 400 Euro Durchschnittseinkommen für bessere Perspektiven auf die Straße gehen. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, diese Perspektiven rein ökonomisch zu betrachten: mit einer Liberalisierung des Landes verbinden viele auch politische und kulturelle Freiheiten, Nachtleben, Befreiung des Alltagslebens und alternative Lebensentwürfe – Dinge, die in der postsowjetisch geprägten belarussischen Gesellschaft oft als westlicher Lifestyle idolisiert werden.

Eine sehr wichtige Rolle spielen aber auch Fabrikarbeiter*innen und Angestellte des Dienstleistungssektors mit ihren Streiks. Die Proteste verbinden viele mit der Hoffnung auf ein Ende der belarussischen Wirtschaftskrise. Dieses breite Bündnis spiegelt sich auch in den Forderungen der Präsidentschaftskandidat*innen wieder. Sie sprechen kaum über ihr politisches Programm, sondern nur über faire Wahlen und ein Ende der Polizeigewalt.

Viktor Babariko, ehemaliger Chef der russischen Belgazprombank, wird wohl russische Kapitalinteressen vertreten und sich eher wenig für die Rechte von Arbeiter*innen interessieren. Nachdem ihm und anderen bedeutenden Präsidentschaftskandidat*innen die Zulassung entzogen wurde oder sie verhaftet wurden, blieb noch Svetlana Tikhanovskaya. Lukashenkos Chauvinismus verhinderte, dass er in ihr als Frau eine Bedrohung sah. Unterstützt von zwei Frauen anderer Wahlkampfstäbe vereinte sie verschiedene oppositionelle Fraktionen. Im Rahmen ihrer Wahlkampftour bot sie in verschiedenen Teilen des Landes Bühnen mit offenem Mikrofon, die Arbeiter*innen und kleinen Unternehmen eine Plattform boten, um sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Kundgebungen entwickelten sich zu den bis dahin größten des Landes in den letzten Jahrzehnten und schufen somit eine weitere Basis für die Aufstände.

Ihr gegenüber stehen einige ebenfalls sehr einflussreiche Blogger*innen, wie der aus dem polnischen Exil arbeitende Telegramkanal Nexta. Auch die anarchistische Bewegung des Landes hat es in den Protesten geschafft, an Einfluss und Popularität zu gewinnen (LCM berichtete). Die Diversität der Protestbewegung trägt mit sich, dass sie kaum durch eine gemeinsame langfristige politische Perspektive geeint wird: sie verbindet vor allem die Wut auf die bestehenden Verhältnisse und die harte Reaktion der Repressionsbehörden. So kommt es, dass das positive verbindende Element der Proteste vor allem Nationalismus ist. Aber die Idee einer unabhängigen belarussischen Nation, die selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheidet, entbehrt jeder materiellen Grundlage. Die Wirtschaft des Landes ist strukturell abhängig von Krediten und Subventionen ausländischer Mächte und diese werden ihren Einfluss auf die Neugestaltung des Landes geltend machen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Land im Falle einer Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt erwarten, werden notwendigerweise Gewinnerinnen und Verlierer erzeugen.

Es ist also klar, dass Nationalismus als Basis einer Protestbewegung, die ein gutes Leben für alle will, ungeeignet ist. Welche klassenkämpferischen und emanzipatorischen Perspektiven es davon abgesehen trotzdem gibt, beschreiben wir im zweiten Teil unserer Analyse.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Viertel in Minsk

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