„Das Einzige, was Palästinenser*innen tun können, ist an ihrem Land festzuhalten“ – Interview mit Abed Al-Salhi

10. Juli 2020

Israel setzt derzeit die geplante Annexion großer Territorien der palästinensischen Westbank um. International viel diskutiert, bedeutet der von US-Präsident Donald Trump beförderte Schritt das definitive Ende jeder Zwei-Staaten-Lösung. Unsere Reporterin Regina Antiyuta sprach mit Abed Al-Salhi, Social-Studies-Researcher in Ramallah und Mitarbeiter bei der Menschenrechtsorganisation al-Marsad.

Israel plant große Teile der Westbank zu annektieren. Welche Auswirkungen hat das auf den Konflikt im allgemeinen und auf das Leben der betroffenen Palästinenser*innen konkret?

Die israelische Regierung hat angekündigt, große Teile der Westbank unter ihre Souveränität zu stellen. Die Gebiete, um die es gehtr, sind nach dem Oslo-Übereinkommen als “Area C” kategorisiert, was auch das Jordantal mit einschließt.

Die Area-C-Gebiete sind ein integraler Teil der besetzten palästinensischen Gebiete und machen 60 Prozent der Westbank aus. Derzeit werden diese Gebiete von der Besatzungsmacht administrativ und hinsichtlich der Sicherheitspolitik kontrolliert. Die Annexion der Area C würde bedeuten, dass diese Gebiete formal zu Gebieten innerhalb der Grenzen Israels erklärt werden.

Zugleich hat aber der Widerstand der Palästinenser*innen gegen die israelische Besatzung, der sich in der Standhaftigkeit der Palästinenser*innen, ihr Land nicht zu verlassen, ausdrückt und in der Zurückweisung jeder Form der Vertreibung und Zwangsräumung besteht, nie aufgehört. Und er wird auch nicht aufhören, bis die Palästinenser*innen ihre vollen Rechte erlangen sowie moralische und materielle Entschädigung. Das schließt das Recht auf Rückkehr der vertriebenen palästinensischen Geflüchteten seit 1948 ein. Der Widerstand gegen das zionistische Kolonialprojekt ändert sich jetzt nicht groß. Die Palästinenser*innen verstehen, dass es sich um ein fortschreitendes koloniales Projekt handelt, das grundlegendend beendet werden muss.

Wie wird die anstehende Annexion sich auf die Zwei-Staaten-Lösung auswirken?

Diese Option wird durch die Annexion vollständig ausgeschlossen. Faktisch ist es aber so, dass die Ereignisse seit 1996 darauf hinweisen, dass die wechselnden Besatzungsregierungen je vorhatten, den Palästinenser*innen irgendeine Form eines Staates zuzugestehen.

Das wirkliche Problem ist, dass die palästinensischen Verhandlungsführer*innen an dieser Option festhielten, während die Besatzung fortfuhr, Menschen zu vertreiben, Land zu stehlen und Palästinenser*innen zu töten – was die palästinensische Position Jahr für Jahr schwächte. Wie Sie wissen, wurde der Koordinationsprozess zwischen der israelischen und der palästinensischen Seite kürzlich gestoppt, aber die Realität ist viel komplizierter, als die Politiker sie darstellen.

Die Internationale Gemeinschaft war all die Jahre präsent und hat das Siechtum der Zwei-Staaten-Lösung mitangesehen, handelt aber auch heute nicht – zum Zeitpunkt der Annexion. Die Internationale Gemeinschaft muss ihre Verantwortung gegenüber den Palästinenser*innen anerkennen.

Das Problem der Annexion als Teil des zionistischen Kolonialprojekts hat seit 1948 nicht aufgehört. Gleichwohl gibt es beschleunigende Momente, die heute dazu führen, dass diese Gebiete alle auf einmal annektiert werden können: Erstens, der Aufstieg rechter Parteien weltweit, die derzeit in vielen Ländern der Erde die Regierung stellen. Zweitens, das Versagen der Internationalen Gemeinschaft, eine gerechte Lösung für die Palästinenser*innen anzustreben. Drittens, die Regentschaft von Donald Trump, der dem zionistischen Projekt gegenüber offen loyal ist (was nicht heissen soll, dass das vorhergehende Regierungen nicht waren, allerdings, dass sie “rationaler” in ihren Entscheidungen waren). Und viertens, die Schwäche der anderen politischen Kräfte sowie der Mangel des Wissens darüber, was heute in Palästina geschieht.

Teil der Annexion sind die fruchtbaren Agrikultur-Gebiete im Jordental. Wie wird sich das auf die Ernährungssouveränität der Palästinenser*innen auswirken?

Das Jordantal ist eine Art natürliches Gewächshaus und sein Gebiet erstreckt sich auf 172973 acres, zusätzlich zur Area C. Alle diese Ländereien eignen sich für Agrikultur und beinhalten die Hauptquellen, die Palästinenser*innen mit Wasser versorgen.

Die formale Annexion bedeutet die Vernichtung jeder Möglichkeit von Palästinenser*innen, die Souveränität über ihre Ernährung sicherzustellen. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass die Besatzungsmacht schon vorher die Palästinenser*innen in diesen Gebieten davon abhielt, von ihren natürlichen Ressourcen zu profitieren, weil Israel schon zuvor die administrative und sicherheitspolitische Kontrolle hier ausübte – trotz des Umstandes, dass das Olso-Übereinkommen festhielt, dass diese Gebiete innerhalb von fünf Jahren nach Unterzeichnung an die Palästinenser*innen übergeben werden sollte.

Trotz internationaler Bedenken über die Illegalität dieser Annexion, setzt Israel die Verhandlungen mit der Trump-Administration fort, um sie zu verwirklichen. Denken Sie, dass es internationale Sanktionen geben wird?

Ich glaube nicht, dass es irgendwelche Sanktionen geben wird und selbst, wenn das geschehen sollte, wird es Israel nicht treffen. Der Schritt, der notwendig wäre, ist, dass Nationen und Bevölkerungen erkennen, dass es ein Kolonialstaat ist, der Kinder tötet, Land stiehl und vollständig boykottiert werden muss.

Welche Reaktionen erwarten Sie von den palästinensischen Organisationen und der Zivilgesellschaft? Welcher Widerstand ist möglich?

Das Einzige, was Palästinenser*innen tun können, ist an ihrem Land festzuhalten, zu bleiben und nie zu gehen. Auf der politischen Ebene glaube ich, dass die politischen Träumereien enden müssen. Die palästinensischen Vertreter*innen aller Parteien sollten sich in den Widerstand der Bevölkerung einreihen.

Die Zivilgesellschaft und zivile Institutionen müssen die ganze Welt über die Lage der Palästinenser*innen informieren – und über deren Recht auf ihr Land und ihren Staat. Die Verantwortung, die sie haben, ist Palästina zu befreien und nicht diese Institutionen in einen Arbeitsmarkt zu verwandeln.

#Titelbild: wikimedia.commons

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