„Ich glaube, dass Israelis und Palästinenser*innen viel von der kurdischen Erfahrung lernen können“ – Interview mit Yossi Bartal (Teil II)

30. Juni 2020

In der deutschen Linken über Israel und Palästina zu sprechen, war stets schwierig. Wer sich positiniert, muss mit Angriffen rechnen, bei denen es lange nicht mehr um sachliche Auseinandersetzung geht. Diese Erfahrung macht auch die linke israelische Diaspora in Deutschland. Peter Schaber hat mit Yossi Bartal ausführlich über die ganze Palette umstrittener Themen diskutiert, Teil I erschien gestern.

Yossi Bartal lebt in Berlin und ist in queeren und antirassistischen Zusammenhängen aktiv.

Du hast davon gesprochen, dass seit den jüngsten Annexionsbestrebungen der Begriff „Apartheid“ in Israel gängig geworden ist und du ihn selbst verwendest. Kannst du dennoch verstehen, dass es deutschen Linken schwerfällt, das Wort Apartheid in den Mund zu nehmen, wenn es um Israel geht?

Ich glaube da ist erst einmal eine sehr große Unwissenheit, was Apartheid tatsächlich bedeutet. Ich finde den Begriff darüber hinaus gut, weil es auch Hoffnung impliziert. Nicht dass Südafrika heute so traumhaft ist. Aber „Apartheid“ schließt eine gemeinsame Lösung ein. Antikolonialismus hat eher die Konnotation: Wir müssen die Kolonialisten rauswerfen. Und das finde ich schwierig.

Wenn wir die Probleme benennen, dann wollen wir auch die Lösungen benennen. Und das ist am Begriff der „Apartheid“ stark – auch wenn das im deutschen Diskurs schwierig zu verstehen ist. Aber er ist eigentlich der Begriff, der darauf abzielt zu sagen: Wir wollen eine gemeinsame, demokratische Lösung mit gleichen Rechten.

Außerdem ist es derzeit so: Die Orthodoxen werden orthodox bleiben, Israelis werden in ihrer Mehrheit Zionist*innen bleiben. Die Linke ist nicht auf dem aufsteigenden Ast, es ist genau andersrum als in den USA: In Israel gilt, je jünger man ist, desto rechter. Es wird also auf absehbare Zeit keine ideale Lösung geben. Es müssen also Bedingungen geschaffen werden, in denen von Islamist*innen bis religiösen israelischen Nationalist*innen alle irgendwie koexistieren können – nicht, weil sie sich lieben, sondern weil es notwendig ist. Das ist in diesem Sinne auch gar nicht revolutionär.

Eher aus der Situation der völligen Defensive linker Ideen geboren …

Ja genau. Wenn du als Linker in Israel Politik machst, ist aber auch deine normale Praxis so. Man nimmt eine Scharnierfunktion wahr. Man geht auf äthiopische Demonstrationen gegen Polizeigewalt und zeigt Solidarität mit ihrem Kampf. Und dann versucht man, das mit den Araber*innen zusammenzuführen, die gegen das gleiche kämpfen. Und dann versucht man, einander nicht zu provozieren, indem man von den eigenen Inhalten Abstriche macht. Es geht um das Zusammenführen von Gemeinden, die alle in sich halbwegs organisiert sind – und alle sehr unterschiedlich. Als Linke*r will man ja eigentlich alle Menschen einer Gesellschaft davon überzeugen, Kommunist*innen oder Anarchist*innen zu werden, aber hier geht es eher darum, verschiedene Communities miteinander so zu verbinden, dass sie sich gegenseitig respektieren und im besten Fall unterstützen können.

Im Grunde ist ja auch das sehr ähnlich mit der Situation in Kurdistan. Auch da ging es ja darum, verschiedene, zum Teil Jahrhunderte verfeindete Gemeinschaften zusammenleben zu lassen, einen demokratischen Rahmen dafür zu schaffen und ihnen ihre Selbstbestimmung zu garantieren.

Ich glaube auch, dass Israelis und Palästinenser*innen viel von der kurdischen Erfahrung lernen können. Interessant finde ich auch, was die kurdische Bewegung in jenen Gebieten gemacht hat, die gar nicht zu Kurdistan gehören, den arabischen Gebieten: Wie sie zum Beispiel da mit den familiären Strukturen zusammengearbeitet haben. Sie haben ja nicht versucht, ihnen Marxismus beizubringen.

Naja, es gibt natürlich ideologische Debatten und Versuche, die Mentalität zu ändern …

Ja, aber zunächst geht man zum Familienvertreter und macht einen Deal. Man sagt: Ihr dürft das und das, wir stören euch nicht, ihr stört uns nicht, und dann sollte es Frieden geben. Das funktioniert auch nicht wunderbar.

Ein Modell für extrem verhärtete Fronten. Es sind ja Stämme, die einander zum Teil seit Jahrtausenden befehden – und man hat sie dennoch unter ein Dach gebracht. Und Öcalan sagt ja explizit, das Modell des Demokratischen Konföderalismus wäre wie gemacht für Israel und Palästina. Und viele Einwände der bedingungslosen Israel-Fans ziehen hier einfach nicht: Etwa der, dass ohne Staat, Jüdinnen und Juden keine Selbstverteidigungsmöglichkeit hätten. Das ist ja bei jeder Gemeinschaft im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus gegeben – sie alle haben ihre eigenen Verteidigungsformationen. Vielleicht nicht grade als Atommacht, aber immerhin.

Das Problem ist, dass das nationalstaatliche Denken tief verankert ist. In Israel ist es weit verbreitet und warum sollen die Leute umdenken? Den Israelis geht es ja nicht so schlecht. Für jüdische Israelis, vor allem aus den mittleren und oberen Schichten funktioniert dieser Staat ganz gut.

Aber soziale Proteste gab es ja dennoch in den letzten Jahren immer wieder.

Aber ehrlich gesagt, wenn es Frieden gäbe, gäbe es dann keinen Kapitalismus? Die Kosten des Militärs und der Besatzung schaden zum Teil, ja, aber sie sind für die Mittelklasse auch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Der Hightech-Sektor, der da dran hängt, ist profitabel. Die Besatzung nur als Last zu sehen, was einige Linke in Israel sagen, ist etwas schief. Es gab seit den 80er-Jahren die Parole „Geld für die armen Nachbarschaften, nicht für die Siedlungen“ – aber die Menschen aus den armen Nachbarschaften sind nicht selten in Siedlungen eingezogen. Die Misrachi in Jerusalem haben eine größere Wohnung, weil sie in den besetzten Gebieten wohnen. Die Kriegssituation ist auch nützlich, um die Gesellschaft und die sozialen Probleme immer unter Kontrolle zu halten.

Und der Krieg hilft, um ein Volk zu kreieren. Es kommen ja Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt – und man muss eine gemeinsame Identität stiften. Da gibt es auch viele Kulturkämpfe, viel Rassismus und so eine Konfliktsituation ist da sehr nützlich.

Wenn es da kein Interesse an Änderung gibt, was sollte man dann dort als ein Linker tun?

Ich meine, ich kann es ja auch persönlich sagen. Das ist einer der Gründe, warum ich weggegangen bin und warum viele weggehen, die die Situation realistisch betrachten. Man sieht da keine Alternative mehr. Das einzige, was als möglicher positiver Faktor in Erwägung gezogen wird, ist dass der internationale Druck wachsen würde. Und diese BDS-Idee hat sich dann internationalisiert. Da war die Idee: Die liberale Welt wird sich gegen diese Apartheid vereinigen. Aber umgekehrt hat sich auch Israel international Bündnispartner dagegen gesucht. Israel ist ein Bezugspunkt für viele Staaten, die Autoritarismus und antimuslimischen Rassismus vereinen, man nehme Indien oder Brasilien.

Überhaupt für einen großen Teil der Neuen Rechten.

Das ist ein wichtiger Punkt. Jüdinnen und Juden waren gezwungen, sehr lange mit Antisemitismus zu leben. Und die jüdischen politischen Formationen sind nicht nur im Kampf gegen Antisemitismus, sondern auch im Zusammenleben mit Antisemitismus zustande gekommen. Der Zionismus hat von Anfang an gesagt, die Antisemiten können uns nützlich sein. Auf eine Art und Weise ist diese Idee, Juden brauchen einen Nationalstaat auch ein Reflex des Antisemitismus: Jüd*innen müssen „verbessert“ werden, sie sind ja „entwurzelt“, „Luftmenschen“. Wer den Zionismus kennt, kennt diese Einflüsse. Bei den Antisemit*innen war es die These: Jüd*innen sind verkommen und deshalb müssen sie weg. Bei den Zionist*innen die These: Sie sind verkommen und wir müssen sie durch einen Nationalstaat reformieren. Und ähnlich in Teilen der sozialistischen Bewegung: Der städtische Jude wurde auch von vielen jüdischen Bewegungen als eine regressive mittelalterliche Figur, irgendwie als parasitisch angesehen.

Für den Zionismus war es also auch lange Zeit notwendig, irgendwie mit dem Antisemitismus zurecht zu kommen. Balfour – der Namensgeber der Balfour-Deklaration, nach dem überall in Israel Straßen benannt sind – zum Beispiel war ein großer Antisemit. Der Mann hat jüdische Migration nach Großbritannien unterbunden, denn er wollte ja nicht mehr Jüd*innen haben. Aber er wollte Jüd*innen nach Palästina schicken. Ich will dieses Zusammenspiel von Antisemitismus und Zionismus nicht verteufeln, also nicht sagen: Der Zionismus hätte den Antisemitismus bewusst befeuert. Es waren primär praktische Überlegungen. Aber sachlich gibt es diesen Zusammenhang zwischen beiden.

Als eine Überlebensstrategie …

Genau. Aber als eine Überlebensstrategie, die ich falsch finde. Und aktuell ist das auch ein strittiger Punkt. Der israelische Präsident Reuven Rivlin ist da sehr klar und sagt: Ich arbeite nicht mit Faschisten. Aber die Netanjahu-Regierung macht das systematisch: Orban und Bolsonaro etwa sind enge Partner. Das spiegelt sich auch in den Antisemitismus-Debatten. Auf den Staat Israel bezogener Antisemitismus nimmt eine zentrale Rolle ein, etwa christlich-fundamentalistischer nicht. In der Antisemitismus-Definition ist keine Rede vom Beschneidungsverbot oder dem Verbot des Schächtens. Also Regeln, die jüdisches Leben fast unmöglich machen, gehören nicht zur offiziellen Definition von Antisemitismus.

Oder nehmen wir Trump. Um Trump herum gibt es sehr viele rechtskonservative Jüdinnen und Juden. Und gleichzeitig verbreitet Trump klar Antisemitismus. Und das sehe ja nicht nur ich so, sondern das sieht auch der Mainstream der jüdischen Gemeinde so. Mit der Trump-Regierung kam es zu einem dokumentierbaren, großen Anstieg antisemitischer Straftaten in den USA – der größte Teil durch weiße Nationalisten.

Er landete aber nicht auf der Top-Ten-Antisemiten-Liste des Simon-Wiesenthal-Center …

Nein, natürlich nicht. Und das hat auch etwas mit dieser neuen IHRA-Definition von Antisemitismus zurück. Die wurde damals übrigens sehr stark durch das Simon-Wiesenthal-Center gepushed, also durch die, die jetzt in den USA für die Illegalisierung der Antifa eintreten. Peter Ulrich hat für die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Kritik an der IHRA-Definition geschrieben. Das ist eine sehr gemäßigte Kritik, aber sie weist nach, dass diese Definition einfach ungeeignet ist. Und dass sie strukturell vor allem gegen linke und migrantische Politik eingesetzt werden kann.

Was ich in Deutschland erstaunlich finde ist, dass die Debatte so wenig lebendig ist. Es gibt eine sehr starke Beamtenmentalität: Wir haben jetzt eine staatliche Definition und dann haken wir ab, ob die drei „D“ erfüllt sind und so erkennen wir Antisemitismus. Wobei selbst in der staatlich unterstützten IHRA-Definition klar ist, dass man Kontext berücksichtigen muss. Und wenn Palästinenser*innen Israel hassen, ist der Kontext ja nicht so schwer herauszufinden. Wenn deine Familie bombardiert wird, wahrscheinlich hasst du dann Israel. Das hat nicht notwendig damit zu tun, dass du Antisemit*in bist. Aber soetwas wird komplett ausgeblendet in der Breite des Diskurses.

Wobei mich ja weniger wundert, dass der Staat seine Staatsräson in Bezug auf Israel dann in solchen Definitionen ausdrückt. Was mich wundert, ist, dass das dann auch in großen Teilen der Linken – natürlich allen voran die sogenannten „Antideutschen“, aber auch darüber hinaus – als verbindliche und gar nicht mehr zu diskutierende Grundlage gilt.

Ganz erklären kann ich mir das auch nicht, aber ein Teil der Erklärung dürfte sein, dass wir in Deutschland nicht so viele Jüd*innen in der Linken haben. In den USA, wo jüdische Menschen einen größeren Teil der Linken und radikalen Linken darstellen, gibt es tatsächlich eine eigenständige Beschäftigung mit Antisemitismus und Judentum. Wir beobachten da eine große Renaissance von linken jüdischen Ideen und einer wirklichen Antisemitismuskritik von links. Das ist total interessant.

In Deutschland sind die meisten Antisemitismusexpert*innen nicht-jüdische Deutsche. Und oft gibt es in der linken Szene gar keine Jüdinnen und Juden, mit denen man sprechen kann. Das sehen wir übrigens auch, wenn wir Berlin – wo es doch eine Community gibt -, mit anderen Städten etwa im Osten vergleichen. Da laufen Diskussionen auch schon anders.

Anders ist das nochmal, wenn wir uns die offizielle Position der Jüdischen Gemeinde ansehen. Die Mehrheit der Jüd*innen in Deutschland hat einen tiefen Bezug zu Israel. Heute sind ja kaum mehr religiöse Jüd*innen hier. Sie sind wirklich eine Minderheit. Ich kenne hier selbst Rabbiner, die nicht mal an Gott glauben. Aber den Platz, den Gott hatte, hat der Staat Israel eingenommen. Er ist das, woran man glaubt. Es gab in den letzten 50 Jahren so eine Zionisierung – das, was wirklich identitätsstiftend wurde, ist der Bezug auf den Staat Israel. Und natürlich sehen diese Jüd*innen, die so denken, Angriffe auf diesen Staat – zurecht oder zu Unrecht – als Angriffe auf sie. Dadurch ist die jüdische Gemeinde tatsächlich in die Position gekommen, Israel zu verteidigen – was ich für einen sehr gefährlichen Prozess halte. Auf der anderen Seite gibt es ja keine Alternative zur Beschäftigung mit Israel, also auch nicht für uns als kritische Jüdinnen und Juden. Auch mein kritisches Verhältnis zu Israel ist Teil meiner jüdischen Identität.

Was schlägst du dann vor, um diese Debatte voranzubringen?

Um die staatliche Definition von Antisemitismus zu widerlegen, müsste man eigene Definitionen auf den Tisch legen. Und da bin ich dafür, Antisemitismus als eine Form von Rassismus zu begreifen – aber dann muss man, wie bei anderen Formen auch, herausstellen, was das Spezifische an ihm ist. Das ist ja an der deutschen Debatte sehr besonders, dass Antisemitismus als das „ganz Andere“, das mit Rassismus gar nicht zu Vergleichende dargestellt wird. Da spielt zugleich auch ein sehr reduzierter und verharmlosender Begriff von Rassismus eine Rolle. Da wird immer so getan als sei Rassismus das ganz Einfache, über das man nicht nachdenken muss, und Antisemitismus ganz kompliziert. Das führt auch dazu, dass man strukturelle Ähnlichkeiten zur Islamophobie gar nicht mehr diskutieren will – obwohl sie so offensichtlich sind.

Und klar, das ist auch für uns Linke immer eine Gratwanderung. Wenn wir über Israel sprechen, müssen wir über Antisemitismus sprechen, genauso wie, wenn wir den politischen Islam kritisieren, wir Islamophobie im Blick haben müssen. Aber um da zu recht zu kommen, muss man Debatten führen. Und obwohl ich kein Anhänger dieser Theorie der Sprecher*innenposition bin, müssen wir auch das bedenken. Weil bestimmte Dinge klingen eben unterschiedlich. Ich spreche auch nicht über den Islam wie meine muslimisch sozialisierten Freund*innen. Das hat vielleicht nichts mit dem Wahrheitsgehalt einer Aussage zu tun, aber auf jeden Fall mit so etwas wie Common Sense und Höflichkeit.

Ich knüpfe da mal kurz an. Wir haben in der Redaktion keinen allgemeinen Konsens zur BDS-Kampagne, aber persönlich würde ich sagen: ich teile die Auffassung nicht, dass sie antisemitisch ist und ich würde mich ungefähr der Position anschließen, die von den 240 israelischen und jüdischen Intellektuellen zum Anti-BDS-Beschluss der Bundesregierung formuliert wurde. Nur: Ich habe trotzdem nie BDS unterstützt. Und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das eher Zurückhaltung aus einem deutschen Kontext ist oder einfach Feigheit, weil man sich den erwartbaren Angriffen nicht aussetzen will.

Ja, ich finde, das ist tatsächlich ein bisschen Feigheit. Ich meine, dieses „das dürfen wir nicht als Deutsche“, da sollte man eher damit anfangen, zu sagen, als Deutsche dürften wir kein Militär oder keinen Stacheldraht und so weiter haben. Eine zivile Boykottkampagne gegen Firmen, das geht nicht „als Deutsche“, aber ein deutsches Militär, eine deutsche Polizei, die deutsche Schäferhunde auf Migrant*innen hetzt, da sagt keiner, „das dürfen wir nicht als Deutsche“.

Gut, aber das sind ja dann verschiedene Personenkreise, weil Linke sind ja im Normalfall nicht fürs Militär und die Schäferhunde.

Ja, aber die Diskussion wird ja nicht nur von Linken betrieben, sondern eben auch von denen, die nichts gegen deutschen Krieg und deutsche Schäferhunde haben.

Schau mal, ich habe auch viel Kritik an BDS. Es ist ein liberales Konzept. Und eigentlich ein Zeichen der Ohnmacht. Weil der Widerstand im Inland so schwach ist, bezieht man sich auf den guten Willen der Konsument*innen im Ausland. Ich meine, Firmen zu schaden, die in Menschenrechtsverletzungen investieren – da kann ich nichts Schlechtes finden und das ist auch nicht besonders neu: Boykott war immer ein Mittel linker Politik. Und auch diese Differenzierung, die da wichtig ist, Institutionen und nicht irgendwelche Privatpersonen zum Ziel zu nehmen, macht BDS ja, wenn auch nicht jeder beliebige BDS-Aktivist in der Welt das wahrhaben will

Also ich würde sagen, dass die fehlende Unterstützung von deutschen Linken da nichts mit der Sprecher*innenposition als Deutsche zu tun hat. Ich denke eher, dass es damit zu tun hat, dass man so klein und so geschlagen in Deutschland ist, dass man dauernd fürchtet, wenn man BDS unterstützt, dann wird man als Antisemit*in abgestempelt und dann kann man selbst in den kleinen Zirkeln, die es gibt, nicht mehr agieren oder sprechen.

Wir machen oft die Erfahrung, dass selbst die Diskussion darüber, ob BDS antisemitisch sei oder nicht schon als antisemitisch abgestempelt wird.

Das finde ich auch perfide und schädlich. Die eigentlich interessanten Fragen wären dabei ja gar nicht spezifisch für Israel, weil auch in Türkei-Boykottkampagnen muss man sich ja fragen: Wie mach ich das, ohne dass es gegen Türk*innen als Türk*innen geht, genauso wie man sich eben bei BDS fragen muss, wie macht man das, ohne dass es gegen Israelis als Israelis oder sogar als Jüd*innen geht. Und die BDS-Leute hier machen das auch. Die gehen ja nicht vor einen x-beliebigen jüdischen Einkaufsladen hier, der koschere Waren aus Israel verkauft. Die machen Kampagnen gegen Adidas oder deutsche Firmen. Israelische Künstler*innen oder Akademiker*innen werden ja auch nicht als solche boykottiert.

Aber das ganze geht ja auch über BDS hinaus. Immer wenn wir über Palästinasolidarität in Deutschland sprechen, passiert das unter der Überschrift: „Ist das Antisemitismus?“ nicht unter dem Stichwort Menschenrechte oder Friedensaktivismus. Und das zielt darauf ab, Diskussionen gleich ganz zu unterbinden. Und Teil dieses Versuchs sind eben auch bestimmte Antisemitismusdefinitionen.

Welche Änderungen erwartest du denn im Diskurs?

Das wird sich in naher Zukunft nicht großartig ändern. Israel ist ein militärisch starker Staat, der weiter bestehen wird. Die Besatzung, Apartheid, Kolonialsituation, wie immer man das nennen wird, wird auch weiter bestehen. Dagegen wird es weiter Widerstand geben. Und Unterdrückte hassen ihren Unterdrücker, genauso hassen umgekehrt Unterdrücker die von ihnen Unterdrückten, also wird die Debatte auch weiterhin feindselig sein. Gleichzeitig wird es auch in Deutschland so sein, dass die jüdische Gemeinde weiterhin Israel als ihren wichtigsten Bezugspunkt sieht und ein großer Teil der deutschen Gesellschaft den Bezug zu Israel als schützenswert als Teil ihrer Identität.

Und die Debatte in der Linken wird auch so weitergehen. Die Linke wird weiter an einer Zwei-Staaten-Lösung festhalten. Aber die ist tot. Wer heute noch auf der Position einer Zwei-Staaten-Lösung verharrt, drückt sich vor der Debatte, weil einfach jeder weiß, das ist keine Option mehr.

Aber zugleich will man nicht über das „Existenzrecht Israels“ debattieren, weil man unterstellt, dabei ginge es immer darum, dass die Jüd*innen das Land verlassen sollen. Diese Position gibt es sicherlich. Es gibt sicher Palästinenser*innen, die gerne keine Jüd*innen mehr im Land sehen würden, so wie es Jüd*innen gibt, die gerne keine Palästinenser*innen mehr im Land sehen wollen. Aber wogegen mit diesem sinnentleerten Begriff „Existenzrecht“ gekämpft wird, sind Linke wie ich zum Beispiel die eine Debatte führen, um eine Änderung des Staates zu einem demokratischen Staat für alle, die dort leben. Man muss die Leute, die ständig das Existenzrecht beschwören, fragen, was sie eigentlich meinen: Das Recht, dass alles so bleibt, wie es ist – also inklusive Apartheid, Besatzung, wie man diese Situation auch nennt? Oder nicht. Weil als Linke ist es natürlich ein sehr wichtiger Punkt darauf zu beharren, zu sagen: Jüdische Israelis haben ein Selbstbestimmungsrecht in Palästina. Das ist ein wichtiger Punkt und das haben sowohl viele Palästinenser*innen wie auch Linke in den 60er- und 70er-Jahren nicht klar gesagt. Darauf kann man bestehen. Aber das ist etwas anderes als das, was als „Existenzrecht des Staates Israel“ verhandelt wird.

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Ein Kommentar über “„Ich glaube, dass Israelis und Palästinenser*innen viel von der kurdischen Erfahrung lernen können“ – Interview mit Yossi Bartal (Teil II)”

    Ruth 30. Juni 2020 - 9:53

    Danke Yossi für diese detaillierten Einsichten …

    Es ist erschreckend, wie wenig es eine Indentität als Menschen/heit gibt, wo doch wir nur zusammen überleben werden können, was ja auch die Pnademie wieder zeigt. Die Menschen, sie sich – links – nennen sollten das eigentlich als Grundlage haben, aber davor müssen wir noch die vielen Schichten der Traumata von Kolonialismus, Rassismen und Antisemitismus mit allen seinen Facetten erkennen und überwinden. BDS wird dann ev. auch in dem Sinne von B old D emocrcy S olidarity verstandenwerden können, womit sich die Erdenmenschen gegen die vielfältigen Einschränkungen und Verkaufen und Entmachtungen des Demokratieprinzipes erwehren, wie sie von den nun vereint agierenden Autoritären Chauvinistischen Machthabern gegen die geführt werden, die eine gemeinsame Zukunft erreichen wollen, eine in der alle Menschen gleichwertig sind.
    solidarisch
    Ruth