Das Bild sorgte im Herbst 2019 für weltweite Empörung. Zwei berittene Polizisten führen einen festgenommenen Afroamerikaner im texanischen Galveston mit einem Strick ab. Der Mann geht zwischen den Pferden, ihm sind die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, offensichtlich mit dem Strick, dessen anderes Ende einer der Polizisten auf seinem Pferd in der Hand hält. In seiner abgrundtiefen Unmenschlichkeit und Brutalität schockiert dieses Foto und erinnert an die Zeit der Sklaverei in den USA. Der Vorfall ist Teil der langen Liste von öffentliche gewordenen Fälle rassistischer Polizeigewalt, die in den vergangenen Wochen auch in der hierzulande zu einem Aufschrei geführt haben.
An dieses Bild aus Texas musste ich denken, als ich heute ein Foto beim Online-Auftritt der Bild-Zeitung sah. „Nacht der Schande in Stuttgart – Randalierer auf dem Weg zum Haftrichter – Horst Seehofer fordert harte Strafen“, heißen die Überschriften. Auf dem Bild darunter ist eine Szene zu sehen, die mich kaum weniger schockiert hat als das Foto aus Galveston und durchaus an dieses erinnert. Einer von sieben nach den Ausschreitungen in Stuttgart am Wochenende Festgenommenen werde zum Haftrichter geführt, heißt es dazu im Text.
Zu sehen sind ein Mann und ein Frau in zivil, möglicherweise Polizei- oder Justizbeamten, und in ihrer Mitte ein festgenommener junger Mann – barfuß, in Fußfesseln, die Hände mit Kabelbindern fixiert, mit Mundschutz und einer Haube auf dem Kopf, den er gesenkt hält! Die Haube soll offenbar der Sicherung von Spuren im Haar dienen. Und dass er barfuß ist, so spekuliert die Bild-Zeitung, liege wohl daran, dass die Polizei die Schuhe der „mutmaßlichen Chaoten“ beschlagnahmt habe.
Diese Szene und dieses Foto sind unfassbar widerlich und abstoßend! Und ein Dokument einer unfassbaren Demütigung und Bloßstellung. Zu Recht fragte ein User auf Twitter: „Ist das Stuttgart oder Guantanamo?“ Ein junger Mensch, der sich möglicherweise – noch gilt doch wohl die Unschuldsvermutung – an Plünderungen beteiligt oder einen Stein auf Polizisten geworfen hat, wird abgeführt und wie eine Trophäe zur Schau gestellt. Allein, dass jetzt Leute dem Haftrichter vorgeführt werden, ist vollkommen maßlos und nichts rechtfertigt die Veröffentlichung eines solchen Bildes.
Ganz offensichtlich hat keiner versucht, das Fotografieren dieser Szene zu unterbinden. Warum auch? Polizei und Justiz müssen ja liefern. Bundesinnenminister Horst Seehofer und Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl haben die „ganze Härte des Gesetzes“ gegen die „Randalierer“ von Stuttgart gefordert. Der ganze Law-and-order-Mob in Politik, Medien, Polizeigewerkschaften und Bevölkerung will Blut sehen.
Nicht weniger grotesk und beängstigend als die ekelhafte Vorführung junger Verdächtiger nach vergleichsweise harmlosen Krawallen ist die Inszenierung, die von der Behörden heute beim Besuch von Seehofer, Strobl, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn am „Tatort“ aufgeführt wurde. Die Polizei positionierte für die in Kompaniestärke anwesenden Fotografen und Kameraleute ein bei dem Riot beschädigtes Polizeifahrzeug als Kulisse – damit Seehofer betroffen in das mit Glassplittern übersäte Innere des Fahrzeugs schauen und anschließend eine „rasche und harte Verurteilung“ der Täter fordern und von einem „Alarmsignal für den Rechsstaat“ schwadronieren konnte.
Damit hat der CSU-Mann recht – allerdings sind nicht die Krawalle das Alarmsignal, sondern diese sich anschließende Inszenierung von Ministerbesuch und Festnahmen an diesem Montag. Sie demonstriert vor allem, wie weit dieser Staat bereits eine Beute von Polizei und Diensten ist, wie die im Internet und in den Medien marodierenden rechten Hetzer die Politik vor sich hertreiben und den Diskurs bestimmen. Die Inszenierung ist nichts anderes als die Antwort auf die Kritik, die im Zuge der „Black Live Matters“-Demonstrationen an der Polizei auch hierzulande hochkochte – eine klare Ansage, wer in diesem Land am längeren Hebel sitzt. Und eine Nebelkerze, um nicht über Polizeigewalt, Rassismus und Straflosigkeit in der Polizei reden zu müssen.Der Polizeistaat kommt nicht heute und nicht morgen, er scheint schon da zu sein.