Chile, Corona: Die Regierung schlägt zurück

11. Mai 2020

Der Coronavirus, dieser neue unsichtbare Feind, hat erreicht, was Kugeln, Tränengasgranaten, Wasserwerfer und all die Polizeibrutalität über Monate hinweg nicht schafften: uns von der Straße zu holen. Der Virus wurde zum besten Verbündeten der Regierung Piñera. Das erkämpfte Plebiszit über eine neue Verfassung wurde auf Oktober verschoben, und mehrere Regierungsmitglieder sprechen davon, es erneut zu verschieben. Vorgeblich wegen des Virus erlaubte es die Regierung dem Militär, wieder auf die Straße zu gehen und Versammlungen von mehr als 50 Personen zu verbieten, Sicherheitsabstand hin oder her.

Die Verfassung von 1980, die während der Militärdiktatur Augusto Pinochets und den Architekten des neoliberalen Fundamentalismus verfasst wurde und für die so viele Genossen ihr Augenlicht verloren haben, verwundet, gefoltert wurden und sogar im Kampf um ihre Neufassung starben, bleibt in diesen Zeiten der Pandemie unantastbar. Chile kann in diesem Moment als ein ganz praktisches Beipiel des autoritären Neoliberalismus verstanden werden. Diese beiden Konzepte – autoritärer Staat und grenzenloser Wirtschaftsliberalimus – prägen unser tägliches Leben.

Was die tatsächlichen Zahlen von mit dem Coronavirus Erkrankten angeht, sind die chilenischen Behörden unfassbar intransparent, was angesichts der Korruption aller chilenischen Institutionen nicht verwundert. Trotz der Tatsache, dass die Ansteckungrate in Chile immer weiter steigt, schlägt der konservative Präsident Sebastián Piñera, getreu seinem Engagement für die Wirtschaftselite, die Wiedereröffnung des Handels und die Wiederaufnahme des Schul- und Universitätsbetriebs vor und fördert die Rückkehr zu einer falschen und gewalttätigen Normalität, die wir Chilenen so gut kennen. Eine Normalität, die in den Monaten der Proteste nicht aufrecht erhalten werden konnte. Dies unter dem ironischen Namen „Plan für eine sichere Rückkehr“. Es ist traurig, eine solche Verachtung für die Arbeiterklasse zu sehen, wenn Begriffe verwendet werden, um Gesetze und Pläne zu benennen, die gegen unser Leben gerichtet sind. Die Regierung hatte den Nerv, ein Gesetz mit der Bezeichnung „Beschäftigungsschutz“ zu erlassen, das es dem Arbeitgeber erlaubt, die Löhne der Beschäftigten für einen vom Unternehmen vereinbarten Zeitraum nicht zu zahlen, ohne sie entlassen zu müssen. Ganz zu schweigen von der Ironie, dass Geschäfte und Schulen geöffnet werden können, aber eine Wahl abgesagt wird.

Wir sind Zeugen davon, dass es uns in Chile nicht an Ressourcen mangelt, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es ist nur so, dass unsere Würde keine Priorität hat. Vor unseren Augen sehen wir, wie Geld für neue Waffen für den Polizeiapparat ausgegeben wird, um uns zu unterdrücken, wie in ganzen Vierteln Videoüberwachng installiert wird, wie Unternehmer Gewinne einfahren, aber gleichzeitig das Kündigungsschutzgesetz ausnutzen, um ihre Arbeitnehmer um ihren Lohn zu prellen.

Die Gefangenen befinden sich in einem ungesünderen Zustand als je zuvor und sind völlig vergessen. Überbelegung und mangelnde oder nicht vorhandene sanitäre Einrichtungen machen Gefängnisse zu Ansteckungsherden sondersgleichen.

Gleichzeitig schafft es die bürgerliche Presse, die Schuld für die Verbreitung des Virus den Schwächsten in die Schuhe zu schiebe. Diese Medien berichten über die Orte, wo viele Migrant*innen leben, und während sie sie schikanieren, stellen sie sie als Quelle der Ansteckung dar. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch, denn die Situation vieler Migranten ist völlig prekär und sie haben oftmals keine andere Möglichkeit als auf beengtem Raum zu leben.

Der Mangel an Urteilsvermögen und die Brutalität der Behörden ist unerbittlich. Mitten in der Notlage vernichtete die Polizei im Süden auf Befehl des Bürgermeisters von der Provinzhauptstadt Temuco die Früchte und das Gemüse der indigenen Mapuche Straßenhändlerinnen, in einer klaren Demonstration institutioneller Gewalt im Dienste der Logik eines neoliberalen Modells. Was vorher vorgeblich wegen nicht gezahlter Steuern geschah, wird nun mit mangelnder Hygiene und Corona begründet. Und wie um die Millionen von Frauen und Dissident*innen, die am 8. März die Straßen von Santiago und Chile überschwemmten, zu beleidigen, wurde just eine Großnichte von Pinochet, einer Verteidigerin der Diktatur, zur Ministerin für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter ernannt. Einer Diktatur, die – neben der brutalen Repression und dem Wirtschaftsliberalismus – patriarchalste Werte vertrat und patriarchalste Gesetze in die Wege leitete.

Das alles erinnert uns nur daran und bekräftigt uns erneut, dass alles, was wir fordern, legitim und dringend ist. Nach und nach gibt es wieder kleinere Proteste, die brutal unterdrückt werden, obwohl nicht einmal 100 Personen anwesend sind. Die Tatsache, dass wir es mit einer Krankheit zu tun haben, die hauptsächlich die Atemwege befällt, ist den Agenten des Staates egal, wenn sie unverhältnismäßig viele Tränengasgranaten auf kleine Gruppen von Menschen werfen, die ihr Demonstrationsrecht ausüben.

Bis zum 18. Oktober vergangenen Jahres befand sich unser tägliches Leben in einer tiefen Krise. Die Gemeinschaften, die Arbeiterklasse und die Natur wurden für diese Normalität geopfert. Ein Opfer, dessen einziger Zweck es ist, die Profite der Wirtschaftsoligarchie zu steigern. Diese Prekarität unserer Existenz zwang uns, mit aller Kraft auf die Straße zu gehen, es konnte nicht anders sein. Die Normalität, die jetzt mit Corona begründet durchgesetzt wird, ist genau diese.

Wir haben ein gemeinsames Ziel: unsere Würde. So hatten wir genug Platz für alle. Dass alle Realitäten willkommen seien, da die Gesamtheit der Welten und Individualitäten dem Kollektiv Kraft gebe. Die Mapuche-Flagge wurde zu einem Symbol des massiven Widerstands. Die Mapuche, deren Widerstand seit Jahrzehnten als „Terrorismus“ gebrandmarkt wird. Und obwohl viele von uns es bereits wussten, gab es andere, die endlich verstanden, dass der einzige Terrorist in Chile der Staat ist.

Wir erlaubten uns, den historischen Emblemen des Widerstands Raum zu geben, damit sie von jeder Subjektivität wieder angeeignet und in den Kampf einbezogen werden konnten. Wir verstanden, dass das Ziel größer war, als unter uns zu diskutieren, wie und wer Symbole unserer Ideologien, Bewegungen und historischen Kämpfe verwenden konnte. Diese Anerkennung jeder unserer Welten, diese Solidarität der Straße ermöglichte es uns, die gegenseitige Unterstützung zu verstärken, die schon immer existiert hat, nur ist sie jetzt präsenter und sinnvoller denn je.

Diese Solidarität ist es auch, die uns jetzt in Zeiten von Corona durch die Krise hilft. Eine Solidarität, die aus unserer Selbstbestimmung und unserem Organisationsvermögen erwächst. Wo mit minimalen Mitteln die Nachbarn hinausgehen, um öffentliche Räume, Bushaltestellen und sogar die U-Bahn zu desinfizieren. Wo innerhalb der Gemeinschaft Unterstützungsnetzwerke aufgebaut werden, um den vielen, die Opfer informeller Arbeitsbedingungen oder der Migrationspolitik sind, zu helfen, zu überleben. All diese Maßnahmen der gegenseitigen Unterstützung werden nie als Wohltätigkeit verstanden. Sie sind eine Möglichkeit, uns als ein organisiertes Volk mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu verstehen. In dieser Zeit, in der der autoritäre Neoliberalisms in Gestalt von Repression und Gesetzen wieder die Vorherrschaft an sich reißen will, ist es unsere Organisation, die uns unterstützt.

# Titelbild: frentefotográfico

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