Auch wenn im Moment die mediale Berichterstattung vom Corona-Virus geprägt ist, reicht es aus, sich ein paar Wochen in die Vergangenheit zurückzuversetzen, um die Nachrichten wieder vor Augen zu haben: Menschen werden mit Tränengas, Blendgranaten, Gummigeschossen, dann aber auch mit scharfer Munition, be- und erschossen. Ein Grundrecht wird für einen Monat mir nichts, dir nichts ausgesetzt. Rechtsbrüche bleiben ohne Konsequenzen. Berichte von geheimen Lagern. Prozesse ohne rechtsstaatliche Grundlagen. Grenzbullen drängen Boote ab und schießen zumindest in deren Richtung. Migrant*innen, Journalist*innen und NGO´s werden von Rechtsextremen angegriffen. Um nur eine Auswahl der Ereignisse zu nennen, die sich an der europäischen Außengrenz in Griechenland abspielen.
Auch wenn man von der europäischen Politik nicht viel erwarten kann, könnte man doch vermuten, dass zumindest versucht wird, das Gesicht zu wahren, Menscherechte hochgehalten und liberale Fassade besungen wird. Doch nicht mal dem ist so. Von seiten der EU gab ‘s Zuspruch für die Reaktion Griechenlands und Kohle obendrauf. Dazu natürlich noch das üblich rassistische Schwadronieren über Grenzen, die ja unbedingt gegen – ja was eigentlich?! – verteidigt werden müssen. Von der Union der Kapitalisten kann man leider nicht viel mehr erwarten, die Politik der Abschottung hat System, wird – wie mit dem EU-Türkei-Deal – in Abkommen gegossen und von der Grenzschutzagentur Frontex umgesetzt. Es bleibt aber die Frage, wieso es keinen Widerspruch gab der laut genug war? Auslöser hätte es genug gegeben.
Die Chronologie der Schande
Wo noch und vor allem im Spätsommer und Herbst 2015 viele Menschen über Griechenland und die östlichen Fluchtrouten nach Deutschland flüchten konnten, wurde dies letztendlich spätestens quasi komplett mit dem „EU/Türkei-Flüchtlingsabkommen“ unmöglich gemacht. Politiker*innen hoben die vermeintliche nötige und „humanitäre Dimension“ des Deals hervor, die rassistische Ideologie der Ausgrenzung dahinter zu kaschieren.
Somit war diese Fluchtroute vorerst dicht und die Zahl flüchtender Menschen sank kontinuierlich, jedoch logischerweise nicht deren Schutzbedürftigkeit und Leid. Nur fand all das nicht mehr direkt vor der eigenen Haustür statt – so konnte man sich wieder weniger anstrengenden Themen, anstatt der eigenen Verantwortung im Umgang mit Flüchtenden, widmen.
Die Menschen, denen bereits die Flucht gelang oder trotz all der Hindernisse den Weg nach Griechenland schafften, wurden dann sich selbst, in völlig überfüllten Lagern und unter katastrophalen humanitären Bedingungen, überlassen – humanity by „your“ EU. Bereits vor der einseitigen Grenzöffnung der Türkei, stiegen die Zahlen der in Griechenland ankommenden Flüchtenden wieder an, was die Zustände in den Lagern natürlich verschlimmerte. Anfang des Jahres 2020 waren es im Lager bei Moria auf Lesbos über 20.000 Flüchtende, dabei ist es nur für 3.000 ausgelegt. NGO´s wie ProAsyl machten immer wieder auf die Zustände aufmerksam, ab und zu gab es Berichte. Teile der Insass*innen demonstrieren Anfang Februar für die schneller Bearbeitung ihrer Anträge, wurden dann jedoch von Sondereinheiten der Bullen mit Tränengas angegriffen. Bis dahin keine nennenswerte Reaktion von Seiten der EU-Mitglieder und Politiker*innen.
Als dann die Türkei Anfang März die Grenze zu Griechenland für Flüchtende öffnete, wurde auf diese mit Repression anstatt Unterstützung reagiert. Es kam zu den besagten Angriffen auf die Menschen. Denjenigen, die es trotzdem unbeschadet über die Grenze schafften, wurde kurzerhand die Stellung eines Asylantrags verweigert . Dazu kamen die Gerichtsurteile, bei denen Menschen zu absurd hohen Strafen verurteilt wurden, weil sie zum Spielball von europäisch-türkischer Politik gemacht wurden. Die europäische Solidarität zeigt sich dann darin, dass auf hilflose Menschen mit mehr Frontex-Mitarbeiter*innen an der griechischen Grenze reagiert wird.
Die Situation spitzte sich anschließen immer mehr zu. Es kam zu Übergriffen von Rechtsextremen auf Flüchtende, Journalist*innen und NGO`s auf der Insel Lesbos, was zur Folge hatte, dass immer mehr NGO`s ihre Helfer*innen abziehen mussten und sich die humanitäre Situation noch zuspitzte. Auch aus anderen europäischen Ländern reisten Faschos an, welche dann immerhin von einigen solidarischen Menschen „empfangen“ wurden.
So berichtet auch das Bündnis Seebrücke: “Viele NGOs mussten sich in der Folge von tätlichen Angriffen und Bedrohungen zurückziehen, und die aktuell geschlossenen Grenzen, sowie eingeschränkten Bewegungsfreiheiten durch den Corona-Virus tragen leider auch nicht zu einer Verbesserung der Situation bei.“
Selbstverständlich wurde die Situation durch die globale Corona-Pandemie nicht besser. Im Gegenteil, gerade in den Lagern wird sich das Virus wesentlich schneller und tödlicher ausbreiten als anderswo. Auf Hilfe aus der Politik und eine schnelle Evakuierung brauchen die Menschen nicht zu hoffen, stattdessen bleiben sie sich selbst überlassen. Zu der in Moria grassierenden Krätze, müssen sich jetzt Insass*innen selbst Atemschutzmasken nähen, damit die Ausbreitung des Corona-Virus zumindest etwas verlangsamt werden kann.
Auch das Bündnis Seebrücke kommt zum selbigen Schluss: „In den vergangenen Wochen hat sich die Situation erheblich verschärft. Zuerst durch die einseitige Grenzöffnung der Türkei Anfang März und zuletzt durch die globale Corona-Krise, welche eine enorme Bedrohung für die Menschen in den Lagern auf den griechischen Inseln darstellt“.
Dass die Situation sich ändert, wird nur durch Widerstand aus der Bevölkerung erzwungen werden können. Ohne diesen werden die Auflistungen der Ereignisse weiterhin mit „Fortsetzung folgt…“ abgeschlossen werden müssen.
Auch wenn es auf den ersten Blick nach einer Kontinuität der Ereignisse aussieht, welche schlimm genug wäre, so stimmt das nicht ganz. Was zugenommen hat, ist die Offenheit, mit der die Flüchtenden entmenschlicht und anschließend bekämpft werden. Scheinbar haben die politischen Entwicklungen in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass die Entscheidungsträger*innen sich einer Mehrheit sicher sein können, wenn sie so wie geschehen verfahren. Die Vorfälle einzeln betrachtet, stehen schlicht für die konsequente Fortsetzung europäischer Grenzpolitik, das zynische Wegschauen angesichts der Katastrophe in Europa ist eine menschliche Bankrotterklärung. Und das ändert sich nicht durch die medienwirksam inszenierte Aufnahme von 50 minderjährigen Geflüchteten in Deutschland, die mehr schlecht als recht die menschenverachtende europäische Politik zu kaschieren versucht.
Distel im Beton
Doch es gibt auch viele Menschen, die nicht nur wegschauen, sondern sich aktiv dagegen einsetzten. Wie das Bündnis Seebrücke berichtet, brachten die Geschehnisse Anfang März einen „enormen medialen Fokus auf das Thema Migration“, welchen sie nutzten, um die „menschenunwürdigen Bedingungen in griechischen Lagern wie Moria“ zu thematisieren. Außerdem fordern sie aktuell mit ihrer Kampagne #LeaveNoOneBehind, dass die Lager sofort evakuiert werden müssen.
Gerade Anfang März brachte das Thema viele Menschen auf die Straße, was zeigt, „dass einer breiten Zivilgesellschaft nicht egal ist, was mit ihren Mitmenschen passiert. Gerade dann wenn Menschenrechte eingeschränkt werden, wie durch die Aussetzung des Asylverfahrens, stehen Menschen auf und sagen: ‚Das ist nicht mein Europa’.“ Zudem wurden auf den Demonstration „aktuelle Berichte aus Lesbos vorgetragen, welche uns nicht selten von Helfer*innen persönlich erreichten. Die Proteste wurden also vor Ort durchaus wahrgenommen“.
Durch das Corona-Virus verändern sich natürlich auch die Aktionsformen um politischen Druck auszuüben. Das Bündnis Seebrücke hat deswegen bereits zu Banneraktionen und Fensterdemos aufgerufen und wirbt weiterhin dafür, die Petition #LeaveNoOneBehind zur gleichnamigen Kampagne zu unterschreiben. Abschließend fordern sie: „Für die Evakuierung der geflüchteten Menschen auf den griechischen Inseln gilt, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Hier ist sehr schnelles Handeln geboten. Wir müssen jetzt unbedingt politischen Druck ausüben, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.“
Am Ende bleibt trotzdem festzuhalten, dass der Widerstand zu gering ist. Es gibt neben dem Bündnis Seebrücke weitere Initiativen, die sich gegen den aktuellen Umgang mit Flüchtenden wehren. Diese allein können allerdings wenig ausrichten, wenn dazu die Massen fehlen. Auch wenn gerade Anfang März durch die mediale Präsenz das Thema in der Öffentlichkeit stattfand und die Demonstrationen gut besucht waren, so waren es trotzdem zu wenige, um den politischen Vorgängen etwas entgegensetzen zu können.
Die Flüchtenden sind noch an den Grenzen und in den Lagern. Die Zustände werden weiterhin durch die Corona-Pandemie schlimmer. Auch wenn das Geschriebene schon oft gelesen wurde, scheint es leider bitter nötig zu sein, die Situation weiter zu thematisieren. Ändern wird sich nur etwas, wenn genug politischer Druck erzeugt wird. Das Bedarf zwar im Moment anderer Aktionsformen, ist aber möglich. Ein erster Schritt ist es, zu benennen, welche Verbrechen durch die EU an den europäischen Grenzen verübt werden und somit einem kollektiven Wegschauen entgegenzutreten.
Text: Tim Hoffmann
Titelbild: Christian Mang; 2016 Idomeni