Was sagt ein Gebäude über den Genozid an Armenier*innen

24. April 2020

Autor*in

Osman Oğuz

Heute vor 105 Jahren, am 24. April 1905, begann der Genozid an den Armenier*innen. Von der türkischen Regierung geleugnet, ist er einer der wichtigsten Bausteine der türkischen Nationenbildung und eine der Grundlagen der türkischen Gesellschaft. Die Auswirkungen des Genozids leben nämlich heute noch auf beiden Seiten weiter – sowohl bei den Nachfahren der Opfer als auch bei denen der Täter*innen.

Ich gehöre zu den Nachfahren der Täter*innen. Meine Heimatstadt, Antep, in der ich groß geworden bin, wurde großteils von Armenier*innen aufgebaut, die dann vertrieben oder getötet wurden. In Amed (Diyarbakır), wo ich studiert habe, sind ebenfalls überall Spuren zu sehen, die Armenier*innen hinterlassen haben. In beiden Städten, sowohl von Türk*innen als auch von Kurd*innen, habe ich mehrfach das Wort „Armenier“ als ein Schimpfwort gehört. In politischen Auseinandersetzungen „beschuldigtt“ sich man immer noch gegenseitig, „ein Kryptoarmenier“ zu sein – ein heimlicher Armenier, ein potenzieller Verräter. In den Schulen, Vereinen, Cafés, Familientreffen erzählt man einander, wie teuflisch die Armenier*innen waren/sind. Die Erzählungen, die damals den Genozid legitimierten, sind noch heute lebendig und prägen uns alle.

Die Geschichte des Völkermords an den Armeniern ist vielschichtig, ich möchte hier nur die eines Gebäudes erzählen, die mich sehr beeindruckt hat. Auf Straße, in der es steht hatten wir einen Tante-Emma-Laden und dieses Gebäude habe ich eine Weile nahezu jeden Tag gesehen. Ich war Teenager und wusste nichts, weder über seine Geschichte, noch seine Verbindung zur armenischen Bevölkerung von Antep.

Das Gebäude wurde 1873-1893 gebaut und hieß “Surp-Asdwadsadsin-Kathedrale”, eine Kirche der Armenier*innen in der Stadt Diese Kathedrale ist ein wunderschönes Beispiel für armenische Architektur und Steinmetzerei. Bei jedem Detail der Kathedrale spürt man die Sorgfalt, die darin steckt. Damals waren von insgesamt 80.000 Einwohner*innen der Stadt mehr als 30.000 Armenier*innen. Diese Zahl ist seit 1915 null. Ja, null. Sie sind nicht plötzlich verschwunden. Sie sind nicht ausgewandert. Freiwillig wollten sie die Stadt nicht verlassen. Sie wurden von unseren Vorfahren vertrieben und getötet. Ihr Eigentum wurde gestohlen.

Aus der Surp-Asdwadsadsin-Kathedrale wurde zuerst ein Gefängnis. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 war das Gebäude eines der berühmtesten Folterzentren. Ende 1981 wurde das Gefängnis geleert,1984 dann renoviert. 1988 dann, wurde es wieder zum Beten freigegeben, aber mit einem neuen Namen: “Befreiungsmoschee”. Jeden Monat beten Tausende von Muslim*innen in dieser Moschee für ihren Gott. Unter einem gestohlenen Dach, das von christlichen Armenier*innen gebaut wurde. Ein paar Gebäude weiter, in einem anderen Haus von armenischen Familien ist der Verein “Türkische Gemeinschaft” ansässig, in dem man sich über “die Bosheit der Armenier*innen” unterhält. Ein paar Schritte weiter sind schöne Cafés in Häusern, – man nennt sie “historische Antep-Häuser”. Sie sind ein Teil des touristischen Profils meiner Heimatstadt, gebaut wurden sie von armenischen Familien. Es gibt nicht mal ein kleines Schild darüber, wer diese Häuser gebaut hat, wer in ihnen mal gewohnt hat. Sie sind touristische Antep-Häuser, und waren immer so, Punkt! Sagst du etwas anderes, bist du ein Volksverräter und gehörst bestraft. Es ist sogar gesetzlich verboten, nur den Genozid als Genozid zu nennen.

Die Geschichte der Armenier*innen in der Türkei wurde ausgelöscht, in der offiziellen Erzählung gibt es sie nicht. Eine Aufarbeitung jeglicher Art findet nicht statt, der türkische Kolonialismus okkupiert diese Räume.

Opfer zu gedenken, hieße für uns die Nachkommen der Täter, diese Geschichte sowohl individuell als auch gesellschaftlich aufzuarbeiten und uns und unsere Entwicklung als Gesellschaft und Individuum in Frage zu stellen. Das beinhaltet auch der Kampf gegen den diktatorischen türkischen Staat, der die politische Verantwortung für den Genozid immer noch trägt.

#Titelbild: Haluk Comertel, wikimedia commons, CC BY 3.0

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