„Bleiben Sie zu Hause.“ Das sei doch eine „ganz einfache Losung“, um gemeinsam die Coronakrise zu überstehen, freiwillige Isolation dieser Tage ein sozialer Akt, die Ausgangssperre das Mittel gegen die Ignoranz derer, die sich weiter draußen aufhielten. So oder ähnlich konnte man viele Politiker*innen und einige Journalist*innen in den letzten Wochen sprechen hören. Zuhause bleiben in Zeiten von Corona bedeutet allerdings nicht für alle, sich im gemütliches Eigenheim in der harmonischen Kleinfamilie zurückzuziehen, wo es Lohnfortzahlung und genug Raum oder einen Garten gibt, um sich auch mal aus dem Weg zu gehen. Dass diese „einfache Losung“ fernab vieler Lebensrealitäten liegt, ist offensichtlich. Viele Menschen wohnen auf engstem Raum in kleinen Wohnungen zusammen. Ausgangsbegrenzungen können zu unaushaltbaren Situationen führen. „Das ist wie Urlaub im Container“, meint Barbara Korsmeier von der Frauenberatungs- und Kontaktstelle Gelsenkirchen.
Dass das eigene Zuhause statistisch für Frauen der gefährlichste Ort ist, ist keine überraschende Pointe mehr – der zu erwartende Anstieg häuslicher Gewalt in Zeiten der Coronakrise hat es sogar bis in die Tagesschau geschafft. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen, wie sie derzeit verhängt werden, erhöhen das Potential für partnerschaftliche Gewaltausübung. Denn Ausgangssperren oder -begrenzungen, Schulschließungen, die Betreuung von Kindern zuhause oder soziale Isolation führen dazu, dass viele Menschen 24/7 in ihren Wohnungen aufeinanderhocken. Sorgen und Ängste werden größer, das Gefühl des Kontrollverlusts stärker. Existenzielle und finanzielle Unsicherheit lassen nicht nur bestehende gewaltvolle Dynamiken in Familien eskalieren, sondern bringen auch neue Konflikte auf.
Medienberichten zufolge sind in vielen Ländern mit Ausgangssperren aufgrund von Corona die Fälle von häuslicher Gewalt stark angestiegen, z.B. in China meldeten Frauenrechtsorganisationen drei Mal mehr Beschwerden, der Bundesstaat Rio de Janeiro in Brasilien einen 50-prozentigen Anstieg in den letzten zwei Wochen, die Notfallhotline in Argentinien 30 Prozent mehr Anrufe. Dort wurden als Reaktion auf die neuen Umstände Whatsapp-Notrufchats eingerichtet und mehr Beratungspersonal bereitgestellt, um einen möglichst niedrigschwellige Kontaktaufnahme auch in Quarantäne zu ermöglichen.
Wie wichtig es ist solche Angebote zu schaffen, sieht man in Frankreich und Italien. Dort gingen die Notrufe wegen gewalttätigen Übergriffen stark zurück – in Italien sogar um die Hälfte. Das heißt allerdings nicht, dass weniger Gewalt ausgeübt wird, sondern, dass es in häuslicher Isolation immer schwieriger für betroffene Frauen wird, Hilfe zu holen oder auch nur zum Telefon zu greifen. Giulia, Aktivistin von Noborder Feminism, kommt aus Italien und beobachtet die Situation dort seit Längerem. Jeden Tag werde dort mindestens eine Frau von nahestehenden Personen umgebracht. „Der Virus bringt nochmal in einer sehr viel aggressiveren und klareren Weise hervor, was auch schon vorher die Situation war“, erklärt sie. „Die Gewalt gegen Frauen ist massiv.“
Auch in Deutschland warnen Expert*innen vor einer Zunahme häuslicher Gewalt, erste Trends verzeichnen einen Anstieg von etwa zehn Prozent seit Beginn der Maßnahmen.
„Im Moment befinden wir uns in der Ruhe vor dem Sturm“ erklärt Barbara Korsmeier, die seit Jahren in NRW Interventionsarbeit bei häuslicher Gewalt leistet. Aber auch sie rechnet fest mit einem Anstieg: „Noch ist das Wetter gut, noch kann man auch mal spazieren gehen, aber wenn das Wetter wieder schlechter wird, reduzieren sich die ohnehin geringen Ausweichmöglichkeiten“. Ein generelles Muster: Auch in den Schulferien häufen sich bei schlechtem Wetter die Übergriffe und Hilferufe. Jetzt allerdings kommen auch andere Problematiken hinzu: „Viele der Täter sind suchtabhängig, spielsüchtig oder drogensüchtig“, erklärt Korsmeier. „Spielhallen sind geschlossen, es gibt Probleme, sich zu versorgen, Drogenberatungen haben zu. Das führt zu weiterem Steuerungsverlust“. Es ist normal und in Ordnung, Angst zu haben, sich verunsichert zu fühlen, gestresst zu sein. Aber all dies ist kein Grund und keine Entschuldigung dafür, diesen Frust an anderen auszulassen. „Du stehst selbst in der Verantwortung, wie du mit Überforderung, Unsicherheit oder Wut umgehst“, mahnen Organisationen, die Täterarbeit machen.
Während die Probleme für Betroffene größer werden, schwinden gleichzeitig Kapazitäten von Hilfsangeboten. Für Frauenhäuser, die sowieso chronisch unterfinanziert sind, bedeuten auch die hygienischen Maßnahmen zum Infektionsschutz besondere Herausforderungen. Nutzung von Küchen und Bad müssen nun einem strengen Nutzungsplan folgen. Da Familien nun einzeln untergebracht werden, haben sich die Plätze in Frauenhäusern, wie dem in Gelsenkirchen um die Hälfte reduziert. Das heißt, Frauen müssen nun weiter fahren, um Zuflucht zu finden, aber die Mobilität ist eingeschränkt: Zugfahren ist nicht mehr so einfach und auch das eigene Auto der Mitarbeiterinnen ist nun keine Möglichkeit mehr.
Dass Krisen wie die jetzige Frauen anders und härter treffen, ist eigentlich schon lange bekannt. Es gibt genügend Beispiele, wie Hurricane Katrina in den USA 2005, das Erdbeben in Canterbury Neuseeland 2011, oder die Ebola Epidemie in Westafrika in 2014 und -15, die unmissverständliche Nachweise für die besonderen Auswirkungen von Krisensituationen auf Frauen liefern: die immer starke Zunahme von häuslicher Gewalt auch durch Reisebeschränkungen und fehlende Fluchtmöglichkeiten, Einschränkungen in reproduktiver Gesundheit durch Umwidmung von Ressourcen in die Katastrophenhilfe oder der erschwerte Zugang zu sicheren Abtreibungen. Dabei zeigen sich oft auch sehr langfristige Auswirkungen, z.B. durch das Ausscheiden aus dem Schulsystem oder der langsameren Wiederherstellung der Lohnverhältnisse im Geschlechtervergleich. Würde man dieses Wissen ernst nehmen, wäre klar, dass politische Maßnahmen zur Kriseneindämmung die zusätzlichen geschlechtsspezifischen Risiken mit in den Blick nehmen und bereits präventiv Maßnahmen ergreifen und Ressourcen bereitstellen müssten, um die Auswirkungen abzufedern.
Auch Barbara Korsmeier wünscht sich, dass man aus Krisen lernt, anstatt nur „just in time“ zu denken und erst zu reagieren, wenn es schon zu spät ist. Wichtiger wäre ihr, sich mit Konzepten von flexiblen Schutzunterkünften langfristig vertraut zu machen, ein flexibles Denken anzueignen. Dass die derzeitige Aufmerksamkeit dazu führen könnte, dass eine generelle Debatte entsteht, in der Politik, Verwaltung und Gesamtgesellschaft das Thema Gewalt gegen Frauen mehr in den Fokus rücken und es vehementer bekämpfen, glaubt Korsmeier nicht. Sie ist es bereits gewohnt, dass häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch Modethemen sind. „Das ist Schall und Rauch und wird bald wieder weg sein.“ Durch das Hin- und Her haben sich die Beratungsstellen eine eigene Flexibilität angewöhnt, um in allen Lagen angemessen darauf zu reagieren. „Die Sicherstellung für Gewaltopfer als erste Unterstützung ist fundamental“.
Durch die allgemeine Aufmerksamkeit wird auch von offizieller Seite reagiert. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in der vergangenen Woche mit den Bundesländern einen Schutzschirm für Frauenhäuser und verschiedene Maßnahmen vereinbart, um Hilfesysteme für Frauen in Notsituationen während der Coronakrise am Laufen zu halten. Auf kommunaler Ebene werden Ausweichquartiere in leerstehenden Hotels und Ferienwohnungen organisiert.
Beratungsstellen aber werden nicht vom staatlichen Schutzschirm zusätzlich gestützt, da sie anders als stationäre Einrichtungen nicht als „systemrelevant“ gelten. Frauenberatungsstellen, aber auch Flüchtlings- oder Drogenberatungsstellen sind als psychosoziale Systeme freiwillige Leistungen. „Wir befinden uns in einer Krise und wir sind doch eine Krisenhilfe. Und dann wird gesagt, Beratung ist nicht systemrelevant!“ Korsmeier ist sich sicher, dass es sich rächt, wenn wichtige soziale Angebote zum sozialen Frieden und Gewaltschutz nicht finanziell abgesichert sind und in der Planung mit aufgenommen werden.
Denn wenn Beratung wegbricht, wird die Lage für alle Beteiligten verschärft. „Selbsthilfe funktioniert darüber, dass es Menschen gibt, die einem in einer häuslich isolierten Situation zuhören, die Hilfe anbieten können, dass man sich nicht allein gelassen fühlt. Für dieses ganze System braucht es Wertschätzung im Sinne von finanzieller Absicherung“. Der Kontakt nach draußen ist extrem wichtig, um Selbsthilfe zu aktivieren, die Beratung stellt erst den entscheidenden Zugang zu jedem Hilfesystem dar. „Das muss sein, das kann nicht anders sein!“, weiß Korsmeier aus Erfahrung. „Auch die Frauen möchten Sicherheit.“ Mittlerweile, anders als noch in den 80er Jahren, gibt es eine Einsicht und einen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit der Beratungsstellen, aber das Problem ist immer die Kostenfrage. „Von dieser Einsicht müssen wir zu einem anderen Handlungsstrang kommen. Es muss sich der Wille bilden, sich das auch etwas kosten zu lassen“.
Während staatliche Stellen die Beratungsstellen fallen lassen, funktionieren auch in Krisenzeiten selbstorganisierte Strukturen; unter den ehrenamtlichen Helferinnen, aber auch unter den Frauen in den Unterkünften. „Es haben sich schnell Whatsapp -Gruppen gegründet, wo die Versorgung abgesprochen wird, Medikamente abgeholt werden und Unterrichtsgruppen gebildet werden, wie selbstverständlich“.
# Text: Nora Gärtner
#Titelbild: Computer-Simulation des Corona-Virus, Felipe Esquivel Reed, wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0, Lila Schleife, weltweites Symbol gegen häusliche Gewalt Niki K., CC BY-SA 3.0, Collage LCM
Nummern für telefonische Hilfe in Notsituationen:
Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) 030 611 03 00 von 8-23 Uhr Beratung@big-hotline.de
Bundesweites Hilfetelefon 08000 116 016
Telefonseelsorge 0800 11 10 111 oder 0800 11 10 222
Kinder- und Jugendtelefon 0800 11 10 333
nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendtelefon.html 0800 116111
Sucht- und Drogenhotline 01805 31 30 31
Hilfetelfon Sexueller Missbrauch 08002255530 Mo, Mi und Fr von 9 bis 14 Uhr & Di und Do von 15 bis 20 Uhr.
Beratungsstellen für Jungen und Männer, die gewalttätig geworden sind oder Angst haben, gewalttätig zu werden:
www.maennerberatungsnetz.de