Solidarität in Zeiten der Revolte: Autonome Sanitäter*innen in Chile

19. März 2020

Das Gesundheitssystem in Chile ist größtenteils privatisiert. Die Versorgung der Bevölkerung ist nicht nur nicht sichergestellt, sondern für die meisten nicht erschwinglich. Angesichts der seit Oktober andauernden Proteste und den tausenden durch Polizeigewalt Verletzten, haben sich autonoma Sanitäterstrukturen gebildet, die die Verwundeten versorgen. Regina Antiyuta hat sie getroffen.

Jedes Mal, wenn ich auf die Straßen von Santiago gehe, um zu protestieren, wird mein Körper mit der solidarischen und subversiven Energie aufgeladen, die ihn überschwemmt. Ich sehe ein Volk, das nach so vielen Jahren der Unterdrückung und des erzwungenen Schweigens seinen Kampfschrei nicht mehr zurückhalten konnte. Wir haben uns gefunden und wir wollen uns nicht loslassen. Und so gehen die Chilen*innen jeden Tag, vor allem freitags, wenn eine große Versammlung stattfindet, auf die Straße, um Gerechtigkeit und den Sturz dieses neoliberalen Systems zu fordern, das uns in seiner extremsten und grausamsten Version während der Diktatur aufgezwungen wurde.

Die Solidarität auf der Straße zeigt uns unser Potenzial. Sie zeigt uns den unzerstörbaren Willen, unsere Würde wiederzuerlangen.

Einige Tage nach Beginndes Aufstandes begann sich die so genannte „Gesundheitsbrigaden“ zu bilden, Gruppen von medizinischen Fachleuten, die sich freiwillig organisierten, um den Verletzten zu helfen, die die brutale Unterdrückung der Demonstrationen durch den chilenischen Staat hinterließ. Viele sind in diesen Monaten im ganzen Land gebildet worden.

Viele von uns kamen mit ihren Rucksäcken mit Hilfsmitteln, aber es war nicht genug. Das hat uns auf die eine oder andere Weise mehr Sorgen bereitet. Man kam nach Hause und hat geweint, und sich wie eine Katze im Käfig gefühlt. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Angelegenheit zu professionalisieren. Als wir hier auf dem Platz waren, kamen wir eines Tages zusammen und diskutierten darüber. Wir beschlossen, eine Brigade zu bilden, die es ernst meint und die die Mindeststandards der Versorgung in jedem Krankenhaus erfüllt.

Die Brigade nahm Anfang November ihre Arbeit auf. Es begann mit zwei Personen, und heute sind es mehr als 60 medizinische Fachkräfte, Student*innen und andere Freiwillige. Sie verfügen über eine Sektion für physische Traumata, eine für Atmungsprobleme und eine Sektion mit Schildern, die Schutz bietet. Es war so viel Arbeit, dass sie anfingen, in wechselnden Schichten zu arbeiten, um Leute zu behandeln. Sie sind jeden Tag ab 17.00 Uhr da, bis niemand mehr auf der Straße ist. Und sie alle sind Freiwillige. Die Vorräte werden von der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Sie haben auch Bargeld gespendet bekommen, mit dem sie Schutzausrüstung wie Helme, Masken, Brillen usw. kaufen. Die enormen Spenden, die die Nachbar*innen für die „Brigada Zona Zero“ geleistet haben, haben ein Netzwerk geschaffen, um Hiflsmittel in Regionen zu senden, wo diese die nicht so gut zugänglich sind wie in Santiago.

Freitags, wenn mehr Menschen zur Plaza Dignidad kommen, erhalten wir mehr Spenden. Mehrere Brigaden kontaktieren uns über soziale Netzwerke, sagen uns, was sie brauchen, und wir stellen Kisten zusammen und lassen sie ihnen zukommen.

Seit dem Beginn der Bewegung bis heute gab es eine Veränderung bei den Patienten. Am Anfang gab es viele Schusswunden, das war die Hauptsache. Das mutierte später zu Verbrennungen durch das Wasser der Wasserwerfer. Es ist klar, dass es mit Chemikalien versetzt ist, aber wir wissen noch nicht welche, wie ich höre. Auch die Symptome derjenigen, die Tränengas eingeamtet haben, haben sich verändert. Viele Menschen, die in früheren Jahren an Demonstrationen teilgenommen haben, sagen, dass es nichts gibt, was sich mit dem vergleichen ließe, was sie heute einsetzen. Es gab recht komplexe Atemwegskrisen, die an Krankenhäuser überwiesen werden mussten. Die Atemwege waren vollständig verschlossen. Wir mussten uns sogar schon mehrmals gegenseitig behandeln.

In dieser Revolte zeigen wir alle, die wir auf der Straße sind unseren Widerstand. Es gibt viele Aufgaben, die für denjenigen da sind, der sie übernehmen will. Wir sehen die Leute aus der primera linea, die ihre Körper zwischen die repressive Polizei und die Menschen, die schreien wollen, stellen. Wir sehen Menschen, die diese Leute mit Materialien unterstützen. Wir sehen Leute, die Sprays mit selbstgemachten Mischungen dabeihaben, die helfen, die Symptome des Tränengases zu lindern. Wir sehen die Leute, die künstlerische Darbietungen machen, so dass das Bewusstsein ein aktiver Akteur der Revolution ist. Wir sehen diejenigen, die Lebensmittel an die Front bringen. Und so gibt es viele kleine Welten, die im Widerstand verwoben sind, und wir erzeugen eine rebellische Erinnerung.

Die Gesundheitsbrigaden bewegen sich zwischen all diesen gleichzeitigen Ereignissen, um die die stürzen aufzufangen und aufzurichten. Es gibt heute so viele Brigaden, dass wir uns glücklich schätzen, dass sie überall sind. Ich habe gesehen, wie inmitten eines Regens von Tränengasgranaten, Steinen und Schrotkugeln ein brigadista in wenigen Minuten zu einem Verletzten kommt, um ihn zu versorgen.

Ich habe auch gesehen, dass die Polizei vermehrt Angriffe auf ihre Posten verübt. Sie werfen Tränengasgranaten direkt auf ihre Stationen und durchnässen ihre Arbeitsmittel mit dem Wasserwerfer. Sie wollen nicht, dass die Opfer ihrer feigen Angriffe behandelt werden. Mehrere Brigadisten wurden durch Schrotladungen verwundet. Mehrere haben auch unter einer Gasvergiftung gelitten. In letzter Zeit haben sich die direkten Angriffe verstärkt. Am Freitag, dem 21. Februar, zerschlug ein Polizist den Helm eines Brigadisten mit dem Schlagstock und prügelte einen anderen bewusstlos, so dass er in das Regionalkrankenhaus von Concepción überwiesen werden musste. Sowohl in Santiago als auch in anderen Regionen wurden Brigadisten verhaftet.

Aber trotz all dem kehren sie jeden Tag zurück, um das Volk zu unterstützen. Denn wie sie mir mit großer Überzeugung sagten: „Die Motivation beginnt dort, in der Berufung. Wir sind hier, um uns um jeden zu kümmern, der verletzt wird. Das ist unsere Grundlage. Niemand soll Schaden davon tragen, weder in seiner psychischen noch in seiner physischen Integrität.“

#Titelbild: Brigadisten schützen Feuerwehr vor Übergriffen durch die Polizei, frentefotografico

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