Die italienischen Gefängnisse wurden am Wochenende des 8. März von den massivsten und energischsten Aufständen seit den 70er Jahren erschüttert. Die in Salerno am Samstag Abend entfesselte Wut ergriff innerhalb weniger Stunden insgesamt 27 Haftanstalten auf dem ganzen Stiefel. Im Fokus der Forderungen der Häftlinge liegt die Einhaltung der Abstandssicherheitsvorkehrungen, die von Staatschef Giuseppe Conte zur Eindämmung des Covid-19 feierlich angekündigt, in den Knästen jedoch nicht umgesetzt werden. Außerdem wurden die Besuche von Familienangehörigen ausgesetzt und arbeitsbedingte Ausgangsgenehmigungen vorerst unterbunden.
In den letzten Tagen brodelt es in Italien. Wir konnten zusehen wie sich Tag für Tag im gazen Land der Gesundheitsnotstand verschlimmerte und neue Maßnahmen und Verordnungen in Kraft traten.
Seit dem 10. März wurde die bisher nur in den „roten Zonen“ umgesetzte Verordnung zur Bekämpfung des Covid-19 auf das ganze Staatsgebiet ausgedehnt. In dieser heißt es, dass „es absolut zu vermeiden ist, sich aus der eigenen Region sowie innerhalb derselben zu bewegen, es sei denn, unvermeidliche Arbeitserfordernisse oder Notfallsituationen liegen vor“; dazu kommt eine Reihe von Einschränkungen und Gesundheits- und Hygieneangaben.
Es gibt jedoch Orte an denen die Ansteckungsgefahr den italienischen Staat jedoch nur am Rande zu beschäftigen scheint. Die Gefängnisse, ganz zu schweigen von den Abscheibeknästen (CPR), werden von den vermeintlichen ausgeklügelten Präventionsmaßnahmen der Expert*innen und Politiker*innen offenbar systematisch außer Acht gelassen.
Alternative Maßnahmen zur Prävention werden in Gefängnissen nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Auf Erlass der Regierung sind seit letzter Woche die Gespräche der Gefangenen mit Familienangehörigen und Anwälten sowie die Arbeit außerhalb der Gefängnisse wegen des Coronavirus zwar ausgesetzt. Das ändert aber nichts daran, dass Gefängnisse praktisch permanent überfüllte öffentliche Orte sind.
Italienische Knäste sind um 131% überbelegt, Lieferant*innen und Personal gehen permanent ein und aus. Wie soll man in einer solchen Struktur den Kontakt mit anderen Menschen vermeiden, in einer Struktur in der es sowieso keine Freiheit gibt?
Das Fehlen von hinreichenden Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Ansteckungen innerhalb der Gefängnispopulation gefährdet immerhin 61.000 Menschen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass etwa 50% der Gefängnisinsass*innen zwischen 40 und 80 Jahren alt sind und mehr als 70% an mindestens einer chronischen Krankheit leiden und ein geschwächtes Immunsystem haben. Gefängnisse können also zu ernsthaften Ansteckungsräumen werden. Die Folge wäre eine Epidemie in der Epidemie.
Im Gefängnis von Vicenza war die erste infizierte Person ein Gefängniswärter, der zwangsweise in Kontakt mit anderen Kollegen und mit den Gefangenen stand. Bis heute wurde scheinbar weder eine antiseptische Säuberung der Räume vorgenommen, noch wurden Häftlinge und Wärter auf den Virus getestet. Als ob es eine vorgelagerte Entscheidung gäbe, diese Menschen „aufzuopfern“.
Angesichts dieser Zustände ist das Klima der Angst und Unsicherheit, das in der italienischen Bevölkerung sowieso schon vorhanden ist, in den Knästen zehnmal stärker ausgeprägt. Das hat zur Entstehung der Gefängnisaufstände beigetragen.
Die haben indes ein bisher beispielloses Ausmaß erreicht. Zwölf Menschen sind bei den Aufständen schon ums Leben gekommen. Neun davon starben in Modena: vier unmittelbar innerhalb der Gefängnismauern, vier bei Verlegungen in andere Gefängnisse und eine Person starb im Krankenhaus. In Rieti starben drei Häftlinge nach der Einnahme von aus der Krankenstation gestohlenen Drogen. Weitere acht wurden in ein Krankenhaus transportiert, von denen sich drei derzeit auf der Intensivstation befinden, während ein weiterer, schwer verletzer Gefangener per Hubschrauber nach Rom verlegt wurde.
Nach Angaben der Gefängnispolizei sind nach ersten Erkenntnissen alle Todesfälle auf Überdosen zurückzuführen, die der Einnahme von Drogen und Psychopharmaka, die während der Unruhen aus der Krankenstation gestohlen wurden, geschuldet seien. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Staatsanwaltschaft den tödlichen Zusammenhängen und den realen Gründen dieser Todesfälle weiter auf den Grund gehen wird.
In Foggia sind am 10. März 77 Menschen ausgebrochen, 22 sind derzeit noch auf freiem Fuß. Einige Gefängnispolizisten wurden stundenlang entführt, mehrere Häftlinge setzten Matratzen in Brand und viele, kletterten auf die Dächer der Gebäude, wie in den JVAs von Poggioreale (Neapel) und San Vittore (Mailand). Außerhalb der Gefängnisse versammelten sich Familienangehörige und Aktivist*innen, um die Proteste zu unterstützen. In Mailand und in Rom kam es dabei zu Zusammenstößen mit der Polizei, bei denen drei Aktivist*innen verhaftet wurden. Die Angespanntheit ist den Institutionen vehement gestiegen. Es handelt sich hier um weitaus mehr als einen „üblichen“ Routineprostest.
Die Reaktion der Politik auf die Notsituation ist derweil wie zu erwarten: Es wird auf Restriktion gesetzt anstatt die Gelegenheit zu nutzen, sinnvolle und alternative Maßnahmen zu ergreifen, wie beispielsweise die Anzahl der Ärzte in den Anstalten zu erhöhen (die bisher absolut unzureichend war, wie vom Verein „Antigone“ wiederholt angeprangert wurde).
Statt wie Matteo Salvini und Giorgia Meloni mehr Repression zu predigen, ist es notwendig, über Maßnahmen wie Amnestie oder Begnadigung nachzudenken. Aber Justizminister Bonafede stellt sich gegen jeden Vorschlag in diese Richtung quer.
Es gäbe aber auch kleine Maßnahmen die sofortige Wirkung hätten. Zum Beispiel solche, die das Kollektiv „Osservatorio Repressione“, dass sich für die Amnestie aller politischen Gefangenen einsetzt, fordert, Der Zustrom in die Haftanstalten sollte verringert werden, zum Beispiel durch gemeinnützige Arbeit, Arbeitsgenehmigungen und Lizenzen die „beschränkte Freiheit“ in eine Bewährungsstrafe verwandeln, wie es schon in Neapel gemacht wird. Für diejenigen, die noch eine Reststrafe von nur ein paar Monaten haben, sollte die Genehmigung für eine Heimunterbringung erlassen werden. Allen kranken Menschen sollte es ermöglicht werden, nach Hause zu gehen, weil ihr Leben und das ihrer Mitinsass*innen auf dem Spiel steht.
#Titelbild: Gefangene halten ein Tranparent auf dem „Gnade“ steht, dinamopress.it, CC BY-NC-ND 2.5 IT