Die feministische Bewegung in Italien ist seit mehreren Jahren einer der stärksten Stützpfeiler linker Mobilisierungen im Land. Unter dem gemeinsamen Dach der Bewegung „non una di meno“ („Nicht eine weniger“) fanden sich unterschiedlichste Initiativen zunächst gegen Frauenmorde, Feminizide, zusammen, dehnten ihr Politikfeld aber rasch aus, um einen feministischen Blick auf die Gesamtheit sozialer und politischer Problemfelder zu popularisieren.
Wir haben mit Chiara vom Esc Atelier in Rom und Vanessa, aktiv bei dem autonomen Informationsportal Dinamopress, und beide von „non una di meno“ über die Entwicklung der feministischen Bewegung in Italien und den Frauenstreik in Zeiten des Corona-Virus gesprochen.
Aktuell sind einige Gebiete Italiens wegen des Corona-Virus komplett abgeriegelt, landesweit gibt es zahlreiche Einschränkungen. Welche Auswirkungen hat das auf den diesjährigen Frauenkampftag?
Vanessa: Klar, dieses Jahr gehört das Coronavirus zu den Umständen, über die wir sprechen müssen. Schon davor gab es eine lange Diskussion über den Streik dieses Jahr, denn der 8. März fällt ja bekanntlich auf einen Sonntag. Im Rahmen einer nationalen Versammlung von „non una di meno“ entschied eine Mehrheit anwesender lokaler Strukturen sowie der radikalen Gewerkschaften, dass wir deshalb den Streik am 9. März durchführen.
Dann aber änderte sich alles. Schon eine Woche vor dem Streik teilte uns die staatliche Nationale Kommission für die Streiks mit, dass wir den Streik stoppen sollen. Sie haben es nicht direkt verboten, aber angedroht, jede streikende Arbeiterin mit einem Bußgeld zu bestrafen. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation durch das Virus erst in zwei Regionen kritisch, in der Lobardei und in Veneto. Aber wir entschieden, den Streik ausfallen zu lassen, denn es existiert auch ein Dekret, das alle öffentlichen Aktivitäten einschränkt.
Chiara: Und wir hatten ja eine Demonstration zum 9. März geplant. Aber uns kamen Zweifel, ob sich überhaupt genug Leute zusammenfinden, nachdem die Kommission den Streik für unzulässig erklärt hatte. Und nach dem Dekret entschieden wir, die Demo sein zu lassen. Zum einen, weil wir die Auflagen dieses Dekrets – etwa den Mindestabstand zwischen Personen – nicht einhalten könnten, zum anderen aber auch, weil wir uns in einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft sehen.
Vanessa: Deswegen gibt es, je nach Region, ein verkleinertes Programm. Im stark vom Virus betroffenen Norden wird es keine öffentlichen Veranstaltungen geben; im Süden kleinere, wie öffentliche Performance.
Chiara: Wichtig ist es aber auch, darüber zu sprechen, welche drastischen Auswirkungen die aktuelle Situation auf Frauen hat. Die Schulen sind geschlossen. Das heißt, dass sich jetzt eine Menge Frauen den ganzen Tag um ihre Kinder kümmern müssen. Sie können nicht zur Arbeit, was wiederum große Auswirkungen auf die ökonomische Situation all dieser Familien hat.
Tut der Staat etwas, um diese Probleme abzumildern?
Vanessa: Im Moment nicht, nein. Alles ist durcheinander, die Situation ist neu. Sie haben erst kürzlich die Dekrete zur Einschränkung der öffentlichen Veranstaltungen und zur Schließung der Schulen verabschiedet und fangen jetzt langsam an, die ökonomischen Auswirkungen zu diskutieren. Unterstützung könnte für größere Betriebe und Familien kommen, aber was wir schon jetzt sagen können ist, dass der Staat sicher nichts für die Gelegenheitsarbeiterinnen, Arbeiterinnen ohne Verträge, die Prekarisierten und so weiter tun wird – denn das hat er noch nie.
„Non una di meno“ hat auf drei Ebenen reagiert: Zuerst, indem wir unsere Verantwortung wahrgenommen haben und gesagt haben, okay, das ist kein Witz, sondern ein soziales und Gesundheitsproblem. Zum anderen haben wir eine öffentliche Debatte über die Doppelbelastung von Frauen und prekarisierten Arbeiterinnen in dieser Situation begonnen. Und zum Dritten überlegen wir, wie wir Frauen und andere Identitäten unterstützen können, die Unterstützung brauchen.
Eine letzte Idee, die wir noch nicht besprochen haben, die aber zirkuliert, ist die einer Kampagne für eine Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems. Denn das System ist mangelfinanziert, es wird seit Jahren zusammengestrichen und gekürzt. Und das macht sich jetzt bemerkbar.
Ich würde aber sagen, dass das wichtigste ist, was wir insgesamt sagen können: Durch „non una di meno“ und die feministische Bewegung haben wir einen neuen Blick auf soziale und politische Krisen wie diese geöffnet. Diese transfeministische Perspektive ist in den vergangenen vier Jahren herausgebildet worden – und das ist eine wirkliche Errungenschaft.
Lasst uns hier gleich anknüpfen: Könnt ihr die wichtigsten Stationen dieser letzten vier Jahre kurz zusammenfassen? Wie seid ihr dahin gekommen, wo ihr heute steht?
Chiara: Schon vor „non una di meno“ gab es eine große Anzahl feministischer Kollektive im ganzen Land. Aber sie waren nicht miteinander verbunden. Vor vier Jahren dann begannen wir eine Debatte über männliche Gewalt gegen Frauen wegen der Morde und Feminizide. Im Mai 2016 wurde Sara Di Pietrantonio in Rom von ihrem Exfreund ermordet und angezündet. Da haben alle verschiedenen Teile des römischen Feminismus angefangen, sich gemeinsam zu treffen. Wir haben gesagt, okay, das ist eine Situation von großer Dringlichkeit und angefangen zu überlegen, auch andere landesweite Organisationen einzubeziehen. Zur selben Zeit haben wir natürlich auf Lateinamerika und all die Mobilisierungen von Frauen dort geschaut, bei denen es um das Recht auf Abtreibung und die Notlage durch Vergewaltigungen und Gewalt an Frauen ging.
Wir haben also für Oktober zu einer nationalen Versammlung aufgerufen, mit dem Plan, zum 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, zu einer Demonstration aufzurufen. Zu der Vollversammlung kam eine Menge an Frauen – eine Menge an Erfahrungen, Organisationen. Die meisten kamen aus nicht-parlamentarischen Kollektiven und Initiativen; aber es beteiligten sich auch das Netzwerk der Frauenschutzhäuser.
Vanessa: Letzteres stammt aus den feministischen Kämpfen der 1970er-Jahre. Genauso wie die Frauengesundheitskliniken, auch sie waren zunächst selbstorganisiert und wurden später institutionalisiert. Wir setzen uns also im Oktober 2016 aus diesen eher institutionalisierten Netzwerken und einer Masse an selbstorganisierten Initiativen zusammen.
Chiara: Und das bedeutete eine Stärke, denn wir haben Mitstreiterinnen aller Altersgruppen, von Schülerinnen bis Frauen, die schon in den 70ern gekämpft haben. Das ist manchmal schwierig, weil wir aus ganz unterschiedlichen politischen Traditionen kommen, aber es ist sehr interessant und wir bringen das alles auf einen Nenner. Und das Beste, was wir tun, ist, dass wir dabei ein neues Denken über Gewalt entwickeln. Da geht es nicht allein um dich und mich und einen Kampf gegeneinander, weil wir vielleicht zusammen sind und du Gewalt gegen mich ausübst, weil du ein Mann bist und ich eine Frau. Gewalt ist ein strukturelles Problem in unserer Gesellschaft und wir stehen ihr auf jeder Ebene unseres Lebens gegenüber. In den Beziehungen, im Gesundheitssystem, etwa wenn es um Abtreibungen geht, am Arbeitsplatz, bei der Bezahlung. Oder die Medien, die jedes Mal, wenn eine Frau ermordet wird, zum Problem machen, wie sie sich angezogen hat. Und diese Schuldumkehr setzt sich dann vom den Mainstreammedien bis in die Gerichtssäle und das Justizsystem fort.
Vanessa: Im Oktober 2016 hatte Italien die Renzi-Regierung und die führte ein Referendum zur Verfassungsreform durch. Italien sprach nur über das. Es gab kein anderes Thema. Es gab für unsere landesweite Demo keine Artikel, keine Fernsehzeit, nichts. Und dennoch war die Demonstration riesig. 80 000 Menschen kamen. Dann war klar, die nächste Station war der 8. März.
Und auch der erste Frauenstreik wurde ein Erfolg. 20 Städte nahmen Teil, aber leider verweigerte die größte Gewerkschaft, CGIL, jegliche Unterstützung.
Auch nicht die „linkeren“ Teile wie die Metallgewerkschaft FIOM?
Vanessa: Nein. Wir haben Gespräche mit ihnen geführt, aber ohne Ergebnis.
Chiara: Ich meine, wir wussten es ja schon zuvor, aber offenkundig stehen sie nicht im Dienst der Arbeiterinnen.
Vanessa: Also im ersten Jahr haben wir nicht erwartet, dass sie teilnehmen. Dann haben wir über die Jahre versucht, eine bessere Verbindung herzustellen. Die letzten beiden Jahre waren wir hoffnungsvoll, auch weil in Spanien eine solche Verbindung besteht, weshalb der Streik dort so stark ist. Oder in Argentinien, wo alle Gewerkschaften mitmachen. Aber leider hat es hier nicht geklappt. Und das obwohl wir ja jetzt z.B. letztes Jahr eine rechtsradikale Regierung hatten, gegen die es ihnen vielleicht hätte leichter fallen müssen zu streiken. Und auch, obwohl jetzt Landini von der FIOM Gesamtsekretär von CGIL ist. Mit dem haben wir an der Uni noch gemeinsam zusammengearbeitet. Also der linke Teil, aber dennoch …
Chiara: Und dennoch wuchs der Streik Jahr für Jahr. Was wir also sagen können ist: wir haben sicher keine glückliche Situation für Frauen oder Transgender-Menschen in Italien. Italien ist eine machistische Gesellschaft, katholisch, nur jede dritte Frau im Süden arbeitet. Frauen sind unterbezahlt, haben die Doppelbelastung, im Haus und im Betrieb. Und das Level von Belästigung ist immens. Ich meine, schon im Kleinen, in der Alltagsprache ist das immens, das kann ich dir gar nicht ins Englische übersetzen. Das Level an Machismus in unserer Gesellschaft können vielleicht nur Spanische und Lateinamerikanische Freundinnen nachvollziehen.
Aber dennoch sind wir in den vergangenen Jahren näher zusammengerückt. Und das ändert viel. Wenn ich jetzt im Bus bin und mich irgendein Typ anfasst, weiß ich, dass ich mich auf andere Frauen verlassen kann. Und das ist eine wirkliche Errungenschaft. Wir haben eine gemeinsame Identität geschaffen.
Vanessa: Ebenfalls noch hervorzuheben ist, dass wir ein Jahr lang alle zusammen das „Manifest gegen männliche Gewalt an Frauen“ erarbeitet haben, in dem wir die Idee struktureller Gewalt entwickeln: Gewalt in der Bildung und Ausbildung, Gewalt in der Sprache, Gewalt gegen den Körper, Gewalt im Rechtssystem und so weiter. Das war ein großer Schritt, um gemeinsame Gedanken zu entwickeln.
War es einfach, diesen Konsens zwischen so vielen Gruppen herzustellen?
Vanessa: Nein. Das war super schwierig.
Aber habt ihr es geschafft, ohne dass sich Teile der Bewegung rausgezogen haben, oder sind welche gegangen?
Vanessa: Naja, vielleicht ein paar Kollektive. Aber die überwiegende Mehrheit blieb. Klar, es gab einige sehr problematische Punkte, aber am Ende beteiligte sich die Mehrheit der Versammlung und jetzt hat jede das Gefühl, das ist unser Manifest.
Sprechen wir noch einmal kurz über den Streik. Welche Segmente der Klasse sind besonders aktiv, welche erreicht ihr weniger?
Vanessa: Die kleinen, radikalen Gewerkschaften haben sehr gut gearbeitet.
Chiara: Cobas und USB.
Vanessa: Schulen, also der Bildungssektor ist stark im Streik. Und Arbeiterinnen aus dem Gesundheits- und Pflegebereich. Interessant ist aber auch, dass wir jedes Jahr Hunderte Mails bekommen, in denen Frauen uns schreiben: Ich will am Streik teilnehmen, was kann ich tun? Die Gewerkschaft in meinem Betrieb sagt mir, ich kann nicht, weil sie nicht streiken. Und das ist einfach falsch. Wir haben da einen Ratgeber zusammengestellt, in Zusammenarbeit mit Anwältinnen.
Aber insgesamt müssen wir sagen, dass wir die Zahlen wie in Spanien nicht erreichen, aus dem vorher genannten Grund, dass die größten Gewerkschaften dieses Landes den Streik nicht unterstützen. Dennoch werden die Demonstrationen jedes Jahr am 8. März und zum 25. November größer und größer.
Zum Abschluss vielleicht: Wie war die Reaktion der männlichen Genossen? Und welche Rolle können sie spielen, um zu unterstützen?
Chiara: Vielleicht solltest du lieber unsere Genossen fragen. Weil manchmal reden wir an ihrer Stelle und ich weiß nicht, ob es das bringt. Aber wir können dir unsere Perspektive darstellen. In den Kollektiven, in denen wir beide aktiv sind, haben wir einen guten Austausch von Ideen miteinander. Und auch, wenn wir uns manchmal nicht alles erlauben, gibt es einen Prozess. Aber dasselbe kann ich nicht für andere Orte in Italien behaupten.
Vanessa: Zudem können wir sagen, dass die Demonstrationen von „Non una di meno“ generell offen sind für die Teilnahme von Männern. Sie müssen nicht ganz vorne sein oder im Mittelpunkt stehen, aber sie können teilnehmen. „Non una di meno“ ist keine reine Frauenangelegenheit, sondern offen für alle Identitäten.
Wenn wir über unsere Genossen reden, dann können wir schon sehen, dass sie über die Jahre anfangen, in Frage zu stellen, was männliche Privilegien sind. Aber es ist eine Debatte, die erst beginnt.
Chiara: Was wir vermitteln wollen ist: Da ist dieses riesige Problem von Gewalt gegen Frauen. Und wir sind die einzigen, die sich die Frage stellen, warum das so ist. Wir wollen, dass Männer auch mal anfangen, von ihrer Seite aus die Frage zu stellen.
#Titelbild: Dinamopress
# Interview: Peter Schaber