Rojava: „Jeder Tag sollte wie der 8. März sein“

8. März 2020

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Gastbeitrag

Zum internationalen Frauenkampftag am 8. März, besuchen wir einen für den Befreiungskampf der Frauen in Syrien zentralen Ort: das Frauenzentrum „Mala Jin“, wörtlich das Haus der Frauen, in Qamişlo. Dies ist das erste Frauenzentrum, von denen es heute 72 in ganz Syrien gibt. Wir sprachen mit der Gründerin des Projektes, Ilham Umer, die auch die Leiterin aller Frauenzentren im nordsyrischen Kanton Cizîrê ist, und ihrer Kollegin Hanifa Muhammad, die im Dada Jinê, der Frauenkommission an den Gerichten, arbeitet.

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen viele Frauen im täglichen Leben konfrontiert sind, und den vielen Fälle von häuslicher Gewalt gründete Umer 2011 das Projekt der „Malên Jinê“, der Häuser der Frauen mit dem Ziel, einen Ort zu schaffen, an denen Frauen sich von Frauen beraten lassen und rechtlichen Beistand bekommen können. Die Probleme, mit denen sich Frauen an Ilham Umer und ihre Kolleginnen wenden, betreffen häufig Themen wie physische und psychische Gewalt, Unterdrückung, Verweigerung des Zugangs zu Bildung oder Gesundheit, oder Probleme innerhalb der Ehe oder mit Familienangehörigen. Zunächst wird versucht, durch Mediation eine Lösung zu finden. Wenn dies nicht möglich ist oder es sich um schwere Rechtsverletzungen handelt, wird der Fall an vor ein Gericht gebracht. Bei Androhung von Gewalt oder Mord werden Asayişa Jin (weibliche Sicherheitskräfte) hinzugezogen.

Ilham Umer, erzählen Sie uns wie alles angefangen hat!

Ilham Umer: Das erste Mala Jin haben wir 2011 in Qamislo eröffnet. Es folgten weitere Mala Jin in den Regionen Jazira, Efrîn und Kobanê. Heute gibt es 72 Frauenzenten in ganz Syrien. Unser Ziel ist es, allen Frauen zu helfen, unabhängig davon, ob sie kurdischer, arabischer, assyrischer oder jezidischer Abstammung sind. Auf dieser Grundlage eröffneten wir die Häuser nach und nach in den vom IS befreiten Regionen: Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor, Manbiç. Diese Arbeit begann noch bevor 2014 die „Frauengesetze“ (Gesetze, die die Rechte der Frau festhalten, Anm. d. Aut.) herauskamen und unserer Arbeit eine rechtliche Grundlage boten.

Wie läuft eine Beratung im Mala Jin ab?

Ilham Umer: Wir hören uns als erstes die Geschichte der Frauen an und welche Art von Unterstützung sie sich von uns wünschen. Oft handelt es sich um Probleme innerhalb der Ehe, dann sprechen wir mit ihren Ehemännern oder weiteren Familienangehörigen. Wir versuchen gemeinsam eine Lösung für das Problem zu finden. Oft gelingt uns das mit Gesprächen. Wenn wir auf diesem Weg keine Lösung finden können oder wenn es sich um einen Gesetzesverstoß handelt, müssen wir den Fall vor das Gericht bringen. Unter diesen Umständen wird Dada Jinê, die Frauenkommission an den Gerichten, hinzugezogen.

Hanifa Muhammad, Sie arbeiten in der Frauenkommission an den Gerichten. Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?

Hanifa Muhammad: Wenn ein Fall vor Gericht behandelt wird, der in Zusammenhang mit den Frauengesetzen steht, wird die Frauenkommission hinzugezogen. Wir haben verschiedene Aufgaben: einerseits die Koordination der Prozesse am Gericht und die Mediation zwischen den verschiedenen Einrichtungen wie den Malên Jinê, den Asais und dem Gericht. Andererseits beobachten und dokumentieren wir den Gerichtsprozess, um die Einhaltung der Frauengesetze sicherzustellen. Einmal im Monat kommen wir zusammen und schreiben einen Report. Dieser wird dann dem Ministerium für Frauenjustiz und Kongra Star (Vereinigung von Frauenorganisationen in Rojava, Anm. d. Aut.) vorgelegt.

Wie reagieren Männer auf Ihre Arbeit?

Ilham Umer: Anfangs gab es Mißtrauen und sogar Anfeindungen von Männern, die sich durch unsere Arbeit bedroht gefühlt haben. Mittlerweile kommen sogar viele Männer zu uns, um sich beraten zu lassen. Viele Männer ziehen es vor, ihre Probleme in den Malên Jinê zu lösen, anstatt vor Gericht zu gehen.

Gibt es Unterschiede in den Problemen, mit denen Frauen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu Ihnen kommen?

Hanifa Muhammad: Häufig spielt es keine Rolle, zu welcher Bevölkerungsgruppe die Frauen gehören, ihre Probleme sind sich sehr ähnlich. Generell haben arabische Frauen mehr mit dem Druck von Familien- und Stammestraditionen zu kämpfen. Ein anderes Beispiel ist die Scheidung. Scheidung ist legal in Syrien und wir sezten uns für Scheidungen ein, wenn sie von beiden Parteien gewünscht wird. Anders als bei Muslimen muss bei Christen das Kirchenoberhaupt die Einwilligung zur Scheidung geben, was selten der Fall ist, auch wenn sie von beiden gewünscht wird.

Wie hat sich die Situation für Frauen seit Beginn der Revolution verändert?

Ilham Umer: Es gab viele positive Entwicklungen. Dabei muss bedacht werden, dass sich das Land permament im Krieg befindet, erst gegen das syrische Regime, dann gegen den IS, nun gegen das türkische Militär und seine dschihadistischen Milizen. Dabei wurden das ganze Land und die gesamte Gesellschaft zerstört. Wir haben alles selbst wieder aufgebaut: unsere ökonomische, militärische, politische Existenz und ganz besonders die Situation der Frauen. Frauen können nun frei leben, sie kennen ihre Rechte, haben Zugang zu Bildung und organisieren sich. Freie Frauen, die gemeinsam kämpfen und für ihre Rechte einstehen sind starke Frauen. Und die Gesellschaft braucht starke Frauen, um Widerstand gegen die türkische Invasion und gegen das syrische Regime zu leisten. Mit den Malên Jinê und den Frauenkommissionen an den Gerichten haben wir es geschafft, gegen Unterdrückung und Gewalt an Frauen vorzugehen und die Schuldigen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Es gab viele positive Entwicklungen, aber es ist auch noch viel zu tun, besonders an Orten wie Serekanye und Afrin.

Was ist Ihre Botschaft an Frauen in Europa und Deutschland?

Ilham Umer: Wir Frauen in Rojava haben viel durch unsere Kämpfe erreicht. Wir haben uns organisiert, stehen für unsere Rechte ein und treten in der Öffentlichkeit auf. Aber wir möchten, dass die Frauen in Europa und überall auf der Welt wissen, dass der Krieg hier weitergeht und unsere Kämpfe andauern. Wir sind erschöpft, wir wollen Frieden, aber wir kämpfen weiter. Und wir brauchen eure Unterstützung. Wir hoffen, dass alle Frauen, nicht nur in Syrien, sondern auf der ganzen Welt, sich gegenseitig unterstützen und Mut machen!

Und noch eine Botschaft zum 8. März. An diesem Tag feiern wir die Frauen auf der ganzen Welt. Aber meiner Meinung nach sollten Frauen an jedem Tag wie am 8. März gefeiert werden. Denn jeden Tag kämpfen wir für unsere Rechte und Gerechtigkeit. An allen Fronten kämpfen wir diesen Kampf. Und der Kampf, den wir in den Malên Jinê und in den Gerichten kämpfen ist genauso wichtig, wie die Kämpfe unserer Hevals (Kameradinnen, Anm. d. Aut.) an der Front.

Haben Sie einen Vorschlag, was konkret Frauen in Deutschland tun können?

Ilham Umer: Nutzt die Medien, zeigt der Bevölkerung und der Regierung, was hier in Rojava passiert und was die Türkei und dschidadistische Milizen uns antun! Geht zu euren Parlamenten und Regierungen und fordert Sanktionen gegen die Türkei!

Hanifa Muhammad: Wir Frauen aus Rojava können nicht in eure Länder kommen, aber ihr könnt zu uns kommen und ihr könnt die unsere Realität miterleben und weitererzählen. Die meisten Menschen wissen nur das, was die Massenmedien über den Krieg in Syrien berichten. Aber wir möchten, dass die Menschen in aller Welt auch über unsere Gesellschaft erfahren, über unsere Familien mit ihrem Schmerz und den Toten durch türkische Luftangriffe, die wir jeden Tag begraben. Ihr Frauen aus aller Welt könnt unsere Stimme sein.

Was ist ihr Wunsch für die Frauen in Rojava?

Ilham Umer: Mein Wunsch für die Frauen in Rojava und in ganz Syrien, ist dass wir unseren gemeinsamen Kampf für Gleichberechtigung fortführen und uns von Unterdrückung und Schwierigkeiten befreien können. Ich wünsche uns, dass wir nicht mehr kämpfen müssen. Ich wünsche uns Frieden.

#Titelbild: Das Haus der Frau in Qamislo

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