Ich bin nicht nach Taranto gefahren, um einen Artikel zu schreiben. Eigentlich bin ich nach Taranto gefahren, um mit meinem Freund und Genossen Emanuele sein Buch über Internationalisten in der kurdischen YPG vorzustellen. Der Name Taranto sagte mir wenig, bevor wir in unserem Fiat in die süditalienische Stadt fuhren. Als wir wieder herausfuhren, war das anders.
Wenn ich jetzt den Namen Taranto höre, verkrampft sich mein Hals. Es muss etwas heraus. Man muss schreien. Vor Wut und vor Trauer. Denn Taranto ist eine Hölle. Eine Hölle gemacht von denjenigen, die aus Geld mehr Geld machen. Und eine Hölle für diejenigen, die man tritt, zerquetscht, schindet und auskocht, um noch den letzten Cent aus ihren geschundenen Körpern in den heiligen Kreislauf des Kapitals einzuspeisen.
Taranto ist die Stadt, in der das Monster wohnt. Ilva, das größte Stahlwerk Europas, betrieben von dem multinationalen Mörderverein ArcellorMittal. 12 000 Menschen arbeiten direkt in der Fabrik, in der noch geschunden wird, wie es sich gehört. Einen Strafraum gibt es, in dem unbotmäßige Arbeiter versetzt werden können. Mehrere Tausend arbeiten in direkt angeschlossenen Zulieferbetrieben. Früher staatlich, wurde es 1995 privatisiert. Dann wurden Stellen gestrichen und Forschungsprogramme zu besserer Umweltverträglichkeit eingestellt. Es begann die systematische Ermordung der Bevölkerung Tarantos.
Unser Fiat fährt in die Stadt. Alles hat einen rötlichen Ton. Die Häuserwände, die Eisenrohre, die Schilder. „Das ist von Ilva“, sagt einer der Genossen. „Der giftige Staub. Wenn sie heute neue Häuser hier bauen, streichen sie die gleich rot, damit man es nicht sieht.“ Wenn du in Taranto deine Wäsche zum Trocknen aus dem Fenster hängst, ist sie wenige Stunden später rot. Und wenn du in Taranto lebst, bist du wenige Jahre später tot. Taranto hat eine immens erhöhte Krebsrate, Kinder werden mit Krebs geboren. Es sind keine abstrakte Zahlen. In dem kommunistischen Kollektiv, bei dem wir zu Gast sind, sitzen beim Abendessen zwei dutzend Leute am Tisch. „Mein Vater starb an Krebs, mit 38“, sagt einer. „Mein Vater mit 42“, sagt ein anderer. „Mein Onkel auch“, sagt der Dritte.
Es ist statistisch nachgewiesen, für diejenigen, die Zahlen brauchen. Aber die Zahl sagt nichts. Wenn jemand aus deiner Familie erschossen wird, ist er tot. Du trauerst. Wenn jemand an Krebs langsam zugrunde geht, du arm bist und ihn pflegen musst, das ist etwas anderes. Und es sind Tausende Familien, Abertausende Freund*innen und Bekannte, die dieses Martyrium in Taranto durchlebten. Jeder weiß, es ist Ilva. Jeder weiß, ArcellorMitall verdient daran. Doch die italienische Regierung hat dem Unternehmen vorsorglich vollkommene Straffreiheit für Umweltverbrechen vertraglich garantiert. Also weiter so. Kinder mit Krebs, Erwachsene mit Krebs. Eine sterbende Stadt.
Das Ausbluten der Stadt hat sich in ihre Bausubstanz eingeschrieben. Die Altstadt zählt zu den schönsten, die ich je gesehen habe. Alte Steinhäuser, voller Charakter, ein bisschen wie die armenischen Bauten in Diyarbakir. Direkt am Meer und nicht gentrifiziert – bislang. Doch sie ist leer. Die Häuser bröckeln, fallen in sich zusammen. Die Menschen wurden in eilig hochgezogene Neubauten am Rand der Stadt umgesiedelt, wenn sie nicht gleich ganz vor der tödlichen Luft geflohen sind. Die Ruinen sehen aus, als ob hier Krieg gewesen wäre. Sie fallen in sich zusammen, die Stadtverwaltung mauert ihre Türen und Fenster zu, stützt sie mit Stahlträgern, produziert von Ilva.
Was für die Gesellschaft eine Qual ist, ist für die Reichen ein Freudenfest. Die Stadtverwaltung hat einen besonderen Plan ersonnen, um aus der erdrosselten Altstadt doch noch ein paar Euro rausholen zu können. Sie bietet die Häuser zum Verkauf an – für einen Euro das Stück. Für die Menschen hier ist es dennoch unleistbar, denn der Käufer verpflichtet sich zugleich, das Haus ordnungsgemäß und ohne Schwarzarbeit zu sanieren und für die meisten Häuser bedeutet das eine Komplettüberholung. Die Menschen in Taranto aber sind bitterarm. Also kein Eigenheim. Aber für die Banken, für die Yuppies, die sich einen Zweitwohnsitz bauen wollen, ist es ein gefundenes Fressen. Lässt sich die Altstadt so gentrifizieren? Schwer zu sagen, denn hier zu leben, ist giftig. Aber für Massentourismus könnte es reichen, denn man stirbt ja nicht innerhalb von einer Woche.
Zieht sich Ilva wie ein Krebsgeschwür durch die Stadt, ist es dennoch nicht das einzige Geschenk der italienischen Regierung an die Menschen aus Taranto. Auf der einen Seite grenzt es an eine NATO-Basis, das Southern Operation Center, auf der anderen an eine italienische Marinebasis. „Du wirst hier zornig geboren“, sagt einer der Genossen, als wir über das Meer auf die NATO-Basis blicken.
Es wundert nicht, dass Taranto eine traditionelle Hochburg der revolutionären Arbeiter*innenbewegung war. Schon im Faschismus musste Mussolini ganze Viertel plattmachen, die zum antifaschistischen Widerstand zählten – und vermochte es doch nicht, diese Tradition auszulöschen. In den 70er-Jahren entwickelte sich eine lebhafte operaistische Bewegung in der Stadt, bis heute gibt es zumindest die Erinnerung an den Wert proletarischer Selbstorganisation, fernab von akademischen Überheblichkeiten und übertheoretischen Modetrends. Und dennoch ist es nicht einfach. Ilva hat die Stadt in einem Würgegriff. 12 000 Arbeitsplätze sind keine vernachlässigbare Kleinigkeit für eine Region, in der man arm geboren wird und arm stirbt. Und zugleich dünnt das Monster die Stadt aus, zerschlägt soziale Zusammenhänge und paralysiert die Überlebenden. Taranto ist ein Lehrbeispiel für Kapitalismus. Für die eiskalte Berechnung, mit der er tötet. Für die Skrupellosigkeit, mit welcher der Staat ihm den Weg bereitet.
# Bildquelle: contropiano