Die Konferenzreihe Network for an alternative Quest arbeitet seit Jahren daran, die Ideen des kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan mit maßgeblichen Strömungen der zeitgenössischen Linken zu verbinden. Wir haben mit Ali Cicek von der Nachrichtenplattform Civaka Azad, die zu den Veranstaltern der Reihe zählt, über die kommende Konferenz in Hamburg gesprochen.
Zum 4. Mal findet in Hamburg im April die Konferenz „Network for an alternative Quest“ statt, die sich in Anlehnung an die Weltanschauung der kurdischen Befreiungsbewegung mit Fragen des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner Überwindung beschäftigt. Was für einen Zweck verfolgt ihr mit den Konferenzen?
Unsere letzten drei Konferenzen waren ein voller Erfolg. Drei Tage lang kamen hunderte von Studierenden, Intellektuellen, Aktivistinnen und Aktivsten und Bewegungen zusammen und diskutierten nicht nur, was sie kritisieren oder welche Hindernisse es gibt, sondern auch, wie diese Hindernisse überwunden werden können und welche Alternativen diese Kritik hervorbringt. Viele Ideen aus der ganzen Welt und aus der kurdischen Freiheitsbewegung kamen zusammen, um unser kollektives Verständnis und unsere Praxis zu stärken.
Seit dem letzten Jahr führten wir Dialoge und in Diskussionen mit vielen Menschen auf der ganzen Welt, um zu bestimmen, was auf der vierten Konferenz diskutiert werden soll. Wir freuen uns, dass wir dieses Jahr unter dem Motto „Die kapitalistische Moderne herausfordern IV: Wir wollen unsere Welt zurück! – Autonome Bildung und Organisierung“ erneut zusammenkommen werden.
Auf dieser vierten Konferenz werden wir uns weiterhin auf die Kritik an der kapitalistischen Moderne konzentrieren, aber unsere Diskussionen haben uns gezeigt, dass es wichtiger denn je ist, über Alternativen nachzudenken, uns zu organisieren und uns zu bilden. Daher werden die Hauptthemen der diesjährigen Konferenz „Autonome Bildung und Organisierung“ sein.
Wie bei jeder Konferenz möchten wir den möglichen Lösungen und Alternativen viel Zeit widmen. In diesem Jahr werden wir die Tradition der Arbeitsgruppen und Workshops fortsetzen. Es gibt eine Ausschreibung für Workshops auf der Homepage.
Die letzten beiden Konferenzen brachten nicht nur Intellektuelle zusammen, sondern gaben auch jungen Aktivistinnen und Aktivisten, Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, ihre Ideen zu präsentieren. Auch bei dieser vierten Konferenz wollen wir wieder Brücken zwischen all diesen gesellschaftlichen Bereichen und Bewegungen, in Kurdistan und weltweit, bauen.
Der Auftakt der Konferenz widmet sich dieses Jahr dem „Regime des Multizids“. Was bedeutet der Begriff? Welche Phänomene fasst ihr darunter?
In seinen Verteidigungsschriften betrachtet Öcalan die kapitalistische Moderne als den jüngsten Abschnitt der staatlichen Zivilisation. Er kritisiert den Kapitalismus als eine Verirrung, die niemals fortschrittliches Potenzial besaß, sondern prinzipiell die Gesellschaft im Inneren zerstört.
Seine aktuelle Form, die kapitalistische Moderne, beschreibt er als Dreiecksbeziehung von Kapitalismus, Industrialismus und Nationalstaat. Die kapitalistische Moderne ist in diesem Sinne ein Multizid-Regime. Es ist auf vielfache Weise tödlich und destruktiv. Unter dem Begriff des „Regime des Multizids“ fassen wie die Phänomene Ökozid, Feminizid, Epistemizid und Soziozid.
Die Zerstörung der natürlichen Umwelt bringt am klarsten den Charakter der kapitalistischen Moderne zum Ausdruck. Die verschiedenen Ebenen des Multitzid-Regimes können nicht voneinander losgelöst gedacht werden. Denn sie sind zentrale Säulen der kapitalistischen Moderne, der Zerstörung der Natur, Unterdrückung der Geschlechter und Spaltung der Gesellschaften durch Nationalismus und Rassismus. Die Mentalität, mit welcher die Natur ausgebeutet, vermessen, zerteilt wird, ist die gleiche, wie die, mit der die Gesellschaft und die Frau ausgebeutet und unterdrückt werden. Es ist die patriarchale Mentalität von Herrschaft und Hierarchie.
Der Begriff Epistimizid bezieht sich auf die Rolle, die die etablierten Sozialwissenschaften bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der HERRschenden Verhältnisse spielen. Denn die Sozialwissenschaften produzieren und reproduzieren Gedanken und Denkweisen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Zusammenleben, unsere Kultur und Lebensweise prägen. Wenn wir uns das Unrecht und die Zerstörungen vor Augen halten, die durch Sexismus, Rassismus und Kapitalismus sowie deren Legitimierung durch sozialwissenschaftliche Theorien und Methodik allein in den letzten zwei Jahrhunderten erzeugt wurden, dann wird die Dringlichkeit nach einer radikalen Kritik an den gegenwärtigen Sozialwissenschaften und die Notwendigkeit, neue Methoden und Institutionen aufzubauen mehr als deutlich.
Der Soziozid drückt sich in Zerstörung jeglicher Gesellschaftlichkeit im System der kapitalistischen Moderne aus. Die Vereinzelung der Menschen geht mit einer Ohnmacht gegenüber den herrschenden Verhältnissen einher. Um diese Ohnmacht zu durchbrechen müssen wir lernen, wieder gesellschaftlich zu denken und zu handeln. Soziale Kämpfe miteinander zu verbinden und auf diese Weise wieder eine Kraft zu werden, mit der wir das freie Leben wiedererlangen können, ist aus diesem Grund ein zentrales Thema unserer Konferenz.
Im Mittelpunkt der Konferenz wird auch der Aufbau autonomer Bildungsarbeit stehen. Wie könnte eine solche etwa am Beispiel Deutschlands aussehen? Lassen sich Konzepte, wie wir sie aus dem Aufbau in Rojava kennen, auf europäische Verhältnisse übertragen?
Die autonome Bildungsarbeit der kurdischen Freiheitsbewegung orientiert sich ganz klar danach: neu denken, neu untersuchen und neue Institutionen aufbauen! Damit die Sozialwissenschaften einen Beitrag zur Entwicklung und Umsetzung freiheitlicher gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Alternativen leisten können, müssen sie sich aus der materiellen und ideologischen Abhängigkeit vom System befreien und sich selbst als ein Teil des Widerstandes gegen die kapitalistische Moderne begreifen.
Für eine autonome Bildungsarbeit ist der Aufbau unabhängiger und autonomer Einrichtungen eine Voraussetzung. Ihre Aufgabe ist es, sich an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientieren und zur Entwicklung einer demokratisch-ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft beizutragen. Alle wissenschaftlichen Arbeiten müssen von und für die ethische und politische Gesellschaft durchgeführt werden.
Vor allem für Deutschland ist hierbei der Aspekt der Anti-Staatlichkeit hervorzuheben. Denn gerade hier hat die Gesellschaft die Wissensproduktion in die Obhut staatliche Bildungseinrichtungen gegeben. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir dies dem Staat wieder entreißen können, damit die Wissenschaft wieder Lösungen für die Probleme der Gesellschaft entwickelt. Die Wissenschaft der Frau, das Konzept „Jineoloji“ ist hierbei ein Angebot der kurdischen Frauenbewegung, mit dem es Frauen gelingen kann, die patriarchale Wissenschaftslogik zu durchbrechen und ihre eigenen gesellschaftlichen Alternativen zu entwickeln. Denn Themen, die uns und unser Leben bestimmen, können wir nicht der Sozialwissenschaft unter männlicher Hegemonie oder anderen sexistischen Wissenschaftszweigen überlassen.
Die Konferenzen sind traditionell mit prominenten internationalen Intellektuellen und Aktivist*innen besetzt. Dennoch kommt derjenige, an den sie sich anlehnen, der kurdische Revolutionär Abdullah Öcalan, im westlichen akademischen Betrieb kaum vor. Woran liegt das?
Abdullah Öcalan repräsentiert die Einheit von Theorie und Praxis. Er ist also nicht nur ein Akademiker, dessen Theorien in begrenzten akademischen Zirkeln diskutiert werden. Seine Ideen werden von der größten sozialen Bewegung im Mittlerne Osten aufgenommen und umgesetzt. Zugleich repräsentiert er den politischen Willen der kurdischen Gesellschaft, die mit Millionen Unterzeichner*innen auf einer globalen Unterschriftskampagne dies bekundet hat. Es wäre nicht falsch zu sagen, dass die Revolution in Rojava ein praktischer Ausdruck seiner philosophischen Ideen ist.
Die akademische Ignoranz gegenüber seinen Ideen ist Ausdruck des Dilemmas, in denen sich die Sozialwissenschaften sich gegenwärtig befinden. Die Kritik des kürzlich verstorbenen Sozialwissenschaftlers und Weltsystemtheoretikers Immanuel Wallerstein an der aktuellen Lage der Sozialwissenschaften (Die Sozialwissenschaft »kaputtdenken«) und die Vorschläge der von ihm geleiteten Gulbenkian-Kommission (Die Sozialwissenschaften öffnen) finden ihr Echo in Öcalans Suche nach einem neuen Paradigma und seinem Vorschlag für ein Akademiesystem.
Die Isolationspolitik des türkischen Staates gegenüber Öcalan betrifft nicht nur seine Person, sondern seine Ideen und die Sprengkraft die diese besitzen. Die Politik der deutschen Bundesregierung ergänzt hierbei die türkische Staatspolitik in Hinsicht auf die Isolation Öcalans. Unsere Konferenz hat deshalb auch das Ziel, gegen diese Isolation zu wirken.
Das vollständige Programm für dieses Jahr ist noch nicht öffentlich. Aber könnt ihr schon einige Highlights nennen?
Neben Intellektuellen wie Dr. Radha D’Souza aus Indien, dem Theoretiker der Weltsystem-Theorie Barry K. Gills aus Finnland und dem US-amerikanischen Publizisten und Vordenker der Occupy-Bewegung David Graeber werden auch zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter sozialer Bewegungen teilnehmen. Darunter beispielsweise die bolivianische Feministin von der Bewegung des kommunitären Feminismus in Lateinamerika Adriana Guzmán Arroyo und auch Vertreterinnen des Indigenen Regierungsrats von Mexiko (CIG) und von der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST). Auch eine Sprecherin der Kampagne Ende Gelände aus Deutschland wird sprechen.
Selbstverständlich werden auch Aktivisten aus Kurdistan zu der Konferenz kommen. Darunter unter anderem ein Mitglied der Sozialwissenschaftsakademie Mesopotamien aus Rojava, die über Jineoloji und die Soziologie der Freiheit im Kontext der praktischen Revolutionserfahrungen vor Ort sprechen wird. Wir hoffen dass auch die eingeladenen Aktivistinnen aus dem Shengal und aus Nordkurdistan teilnehmen können.
Neben einem musikalischen Beitrag der Opernsängerin Mizgîn Tahir am Samstagabend wird es zu Beginn der Konferenz eine gemeinsame Choreographie von einer kurdischen und irischen Tanzgruppe geben.
# Interview: Peter Schaber
#Titelbild: Der im Dezember 2018 von der Türkei ermordete Internationalist Michael Panser in Rojava, 2017. Auch Panser war Sprecher bei einer der Hamburger Konferenzen