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Ein Blick auf die Schlagzeilen linker/ linksradikaler Publikationen der letzten Tage könnte glauben lassen, dass linke Politik sich jetzt nur noch gegen den Staat als Repressionsapparat richten solle. Dabei geht unter, dass von staatlicher Seite gerade viel mehr passiert, als der Auf- und Ausbau autoritärer Maßnahen zur Bevölkerungskontrolle.

Die „besondere Formation bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zur Verfügung haben“, vulgo, der Staat, maßt sich jetzt angesichts der Corona-Krise die Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit an. Droht die Corona-Diktatur? Avantgardistisch hat der Linksliberale Jakob Augstein (manchmal etwas linker, zur Zeit mehr liberaler als links) diesen Gedanken wohl als erster im deutschsprachigen Raum auf die Agenda gesetzt. Es brauchte nur ein paar markiger Maßnahmen aus Bayern, schon konzentriert sich die politische Linke auf das Thema der individuellen Freiheit.

Für die Erarbeitung einer linken Strategie in der Corona-Krise – die nicht bei einer Pandemie bleiben wird, sondern zu einer massiven Wirtschaftskrise werden wird – reicht es aber nicht, sich auf den Staat als repressive Institution zu konzentrieren. Der Staat ist nämlich auch – und das ist die andere Hälfte – ein wesentliches Element kapitalistischer Produktion, dem die Rolle zukommt den ganzen Laden am Laufen zu halten – als ideeller Gesamtkapitalist. Als solcher pumpt er hunderte und weltweit tausende Milliarden Euro Steuergelder in den Wirtschaftskreislauf. Wer glaubt, dies seien Geschenke an individuelle Kapitaleigner, irrt. Wer annimmt, Regierungen hätten ihr soziales Gewissen entdeckt, irrt sogar gewaltig.

Die Regierungen handeln fürs System, nicht für uns

Die totale Abkehr von neoliberalen Propaganda-Dogmen, auch Maßnahmen wie die Verstaatlichung des Gesundheitssystems (Spanien), „Helikoptergeld“(USA), Aussetzung von Mietzahlungen (Frankreich), vielleicht in den nächsten Tagen die Bestrafung von Wucherpreisen bei Atemschutzmasken (entgegen dem heiligen Prinzip von Angebot und Nachfrage): das alles dient der Erhaltung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem.

Dass diese Maßnahmen, oder zumindest Teile davon, vordergründig mit den Interessen einer Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung deckungsgleich sind und sogar den Interessen einzelner Kapitalisten zuwiderlaufen, ist eben kein Widerspruch zur Funktion des Staates als ideellem Gesamtkapitalisten, sondern im Gegenteil: eine Bestätigung!

Diskutiert wird indessen über Ausgagssperren. Bayerns Ministerpräsident hat so eine erlassen. Die Autonome Föderation in Rojava auch. Wenn zwei das Gleiche machen, ist es aber noch lange nicht dasselbe. In Rojava wollen die Genoss*innen die Bevölkerung schützen. Die bayrische Staatsregierung will das System schützen – und zwar indem er zu einer Maßnahme greift, die geeignet ist, die Bevölkerung zu schützen. Denn während in Rojava angenommen werden kann, dass auch in Zukunft die Gesundheit der Menschen Priorität behalten wird, wird bereits jetzt – am deutlichsten in den USA – der Corona-Tod von Hunderttausenden gegen die wirtschaftlichen Interessen der Konzerne abgewogen. Die Dialektik zwischen Ursache und Wirkung ist hier mehr als eine rhetorische Spitzfindigkeit.

Deshalb ist es auch falsch, den Focus auf Ausgangssperren als repressives, staatliches Mittel zu legen. Nur allzu bald könnte nämlich der genau entgegengesetzte Fall eintreten: dass wir sogar darum kämpfen müssen, auf sozialer Distanz zu bleiben; auf der Straße und am Arbeitsplatz.

Ein Blick auf die Geflüchteten-Lager in Griechenland zeigt, wie wenig den europäischen Regierungen der Schutz von Menschenleben wert ist. Die unterlassene Evakuierung läuft auf tausendfachen Mord hinaus, wenn sich auf Lesbos und den anderen Lagern der Corona-Virus ausbreitet.

Die Diskussion um eine vorzeitige Aufhebung von Distanz-Maßnahmen und die Untätigkeit in Bezug auf z.B. Geflüchtete und Altenheimbewohner*innen (wie in Spanien) sind der pure Sozialdarwinismus. Die Nützlichen sollen überleben und arbeiten, die Kostenfaktoren können an Covid-19 verrecken.

Während sich im Bürgertum also der Sozialdarwinismus ausbreitet, scheint sich die Linke an einem sehr bürgerlichen Freiheitsbegriff festzuhalten, bei dem das „ich“ wichtiger ist als das „wir“.

„Ich habe das Recht auf Bewegungsfreiheit, ich habe das Recht auf Party!“, stellt das individuelle Recht über das kollektive Recht, nicht infiziert zu werden. Denn auch, wenn abstrakt der Kapitalismus, sein kaputt gespartes Gesundheitssystem und nicht die Corona-Partys für die Pandemie verantwortlich sind, verbreitet sich der Virus konkret durch die Menschen, die auf die zwei Meter Abstand einen Dreck geben.

Das individuelle Recht auf Bewegungsfreiheit ist, so betrachtet, in Zeiten einer potentiell tödlichen Pandemie auch nicht anders, als das vom Bürgertum proklamierten Recht auf freies Unternehmertum: „Ich“ habe die Freiheit, Arbeitskraft auszubeuten. „Ich“ habe die Freiheit, mit meinen Produkten und Konsumgütern die Umwelt zu versauen. „Ich“ habe die Freiheit, Party zu machen und damit die Gesundheit anderer erheblich zu gefährden…

Kollektive Interessen zu verteidigen, beinhaltet natürlich auch, Konzepte zu entwickeln, wie die physischen und psychischen Folgen der sozialen Distanzierung abgemildert und erträglicher gemacht werden können. Denn für den Staat ist das keine Priorität und selbst wenn Regierungen dies wollten, fehlen ihnen die materiellen und kreativen Mittel dazu. Ein (gehöriges) Stück demokratischer Konföderalismus, die autonome Organisierung von unten, ist die beste Medizin!

Wer sich jetzt aber – propagandistisch und/oder praktisch – darauf konzentriert, gegen die staatlichen Maßnahmen anzukämpfen, die objektiv (auch!) im Interesse einer Bevölkerungsmehrheit sind, begeht einen strategischen Fehler, sucht sich gezielt die gesellschaftliche Isolation, während es jede Menge Alternativen an Themenschwerpunkten/ Arbeitsfeldern gibt.

Auf die wichtigen Fragen konzentrieren

Aber worauf, wenn nicht auf der Kritik am repressiven Staat, kann dann eine linke Strategie aufbauen? Laut aktuellen Zahlen des Ifo-Institutes wird die Coronakrise allein in Deutschland Kosten in Höhe bis zu 729 Milliarden Euro verursachen. Es droht eine Rezession zwischen minus 7 und minus 20 Prozent. 1,8 Millionen Arbeitsplätze sind in Gefahr, dazu kommen 6 Millionen, die von Kurzarbeit betroffen sind.

Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen, dass das Kapital versuchen wird, einen Großteil der wirtschaftlichen Folgen auf die Masse der Lohnarbeiter*innen abzuwälzen. Die Pläne der Regierung deuten schon jetzt in diese Richtung.

Von etablierten Akteur*innen der in der „Sozialpartnerschaft“ aufgegangen Reste sozialdemokratischer Politik ist dabei nichts zu erwarten: Die DGB-Gewerkschaften haben angesichts der Krise ihre sowieso schon minimale Gegnerschaft zum Bund der Arbeitgeber begraben. Und die letzte vorgeblich sozialdemokratische Partei „Die Linke“ hat ihren Krisenbewältigungsburgfrieden mit der Regierung schon längst geschlossen. Die Aussichten für eine linke Gestaltung der Krisenpolitik sind also eigentlich niederschmetternd.

Wären da nicht die aktuellen Erfahrungen von unheimlich vielen Menschen, dass gigantische Umverteilungen offensichtlich generell möglich sind, dass der Markt überhaupt nichts regelt und, dass Privatisierungen scheiße sind. Dass Supermarkt-Kassierer*innen, Pflegekräfte etc. relevant, Immobilien-Makler*innen, CEOs und Konsorten dagegen völlig irrelevant sind. Dass ich Nachbar*innen habe, gleich welcher Herkunft oder Religion, die zu mir halten, mit denen ich identische Interessen habe, während die AfD aus den Talkshows verschwunden ist, weil sie nicht mal mehr Hetze beizutragen hat.

Und während Linke sich an der Ausgangssperre abarbeiten, ist selbst das bürgerlich-neoliberale Boulevard-Magazin FOCUS dabei die Dystopie für die herrschende Klasse zu erahnen: „Am Ende steht die Frage, ob unser Geld- und Wirtschaftssystem wirklich noch funktioniert“. Es stelle sich sogar „die Systemfrage“.

Klassenkampf in der global gleichzeitigen Krise

Solchen herzerfrischenden Optimismus kenne ich sonst nur von Trotzkist*innen und teile ihn auch nicht. Aber auch wenn sich die „Systemfrage“ stellt, sind die Aussichten trotz alledem nicht so rosig, wie uns der FOCUS vielleicht glauben machen will. Außer in weiten Teilen Kurdistans und einigen Bereichen Süd-/Mittelamerikas gibt es keine in der Bevölkerung verankerte und gut organisierte revolutionäre Linke, die dieses Zeitfenster der Krise zum Sturz des Kapitalismus ausnutzen könnte. Und sie lässt sich auch nicht innerhalb von Monaten herbei zaubern.

Richtig ist aber: es öffnen sich Fenster und Möglichkeiten. Angesichts der materiellen und ideologischen Krise des Systems wird immer offensichtlicher dass die vermeintliche Alternativlosigkeit der Austeritätspolitik der letzten Jahre reine Interessenpolitik war. Die gesamtgesellschaftliche Destabilisierung kann mit solidarischer Organisierung von unten und konkreten linken Positionen zwar nicht gleich zu einer Revolution führen, ist jedoch eine Chance auf ihre Verankerung in der Gesellschaft.

Ein Faktor dabei verdient meiner Meinung nach ganz besondere Beachtung: Globaler als die Corona-Krise ist nichts! Die Krise trifft nicht nur alle Länder, sie trifft sie auch gleichzeitig! Und damit stehen alle Länder auch gleichzeitig vor den selben Fragen. Es wird deshalb auch gleichzeitig ein ganzes Spektrum an Lösungsvorschlägen- und Maßnahmen geben.

Genauso wie Widerstand gegen die bisherigen Maßnahmen, die schon jetzt hauptsächlich einer Umverteilung von unten nach oben gleichkommen. Für eine Internationalisierung von Protest, von einem globalen Voneinander-lernen ist das eher ein Scheunentor als ein Fenster der Optionen für linke Politik.

Das wäre in den nächsten Monaten und Jahren zu nutzen, statt sich mit marginalen Fragen wie Ausgangssperren aufzuhalten.

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Die Corona Pandemie verschärft gesellschaftliche Widersprüche und spitzt vorhandene Krisenfelder zu. Nirgendwo sonst wird das deutlicher als im Gesundheitssystem. R. Eifeldorf ist seit sieben Jahren in der Pflege tätig, betreibt in seinem Betrieb gewerkschaftliches organizing und muss jetzt auch noch mit immer knapper werdenden Schutzmaterialien auskommen. Er schreibt von seiner Arbeit in Zeiten der Krise und von möglichen Auswegen:

Zur Zeit scheint es nur noch ein Thema zu geben: Covid19. Der sogenannte Coronavirus geistert durch alle Talkshows und Brennpunkte. Auf den Straßen keine Menschen und in den Regalen keine Nudeln mehr. In jedem zweiten Fernsehbeitrag ist das Gesicht Jens Spahns, eines x-beliebigen Arztes oder Virologen zu sehen. Während Sie versuchen, die Bevölkerung und Aktienmärkte zu beruhigen, schuftet sich still und heimlich im Hintergrund eine Berufsgruppe die Buckel krumm: Die Pflegekräfte. Diejenigen, die dieses kollabierende Gesundheitssystem irgendwie doch noch am Laufen halten.

Aber wir Pflegekräfte wissen: Nicht mehr lange. Wir können nicht mehr. Wir wollen auch nicht mehr. Zumindest nicht mehr unter diesen Bedingungen und vor allem nicht mehr für dieses Gehalt. Die aktuelle Krise des Gesundheitswesens während der Corona-Pandemie ist nur die Spitze des Eisbergs für uns Pflegekräfte. Der Pflegenotstand und der damit einhergehende mögliche Kollaps des medizinischen Sektors hat sich lange genug angebahnt. Wir haben versucht darauf aufmerksam zu machen. Doch zu lange wollte man uns nicht hören.

Ich arbeite seit ca. 7 Jahren in der Altenpflege. 7 Jahre lang habe ich versucht zu verstehen, warum meine Arbeit, die ich doch eigentlich so gerne mache, nicht gewürdigt wird. Ich möchte die Gunst der Stunde nutzen, um den Pflegenotstand näher zu beleuchten, Gründe und Auswege aufzuzeigen sowie auf die mangelnde Organisierung zu sprechen zu kommen.

Schlechte Arbeitsbedingungen befördern die Personalnot

Ein Blick auf die demographische Entwicklung in Deutschland reicht, um zu verstehen, dass wir in einer überalternden Gesellschaft leben. Es fehlt an Nachwuchs, der jetzt und vor allem in kommenden Jahren die immer größer werdende Gruppe der Pflegebedürftigen pflegen könnte. Ein Fakt, der uns allen schon lange bewusst ist.

Um dies aufzufangen ist, wie ihr schon ahnen werdet, folgendes passiert: Nichts. Es hätten bereits vor vielen Jahren Tausende neue Lehrkräfte für Universitäten und Berufsschulen ausgebildet werden müssen, um die hunderttausenden neuen Pflegekräfte, die es brauchen wird, auszubilden. Aber selbst wenn dies geschehen wäre, bräuchte es ausreichend Interessierte, die dann eine solche Ausbildung angehen würden. Verständlicherweise ist jedoch die Begeisterung, sich zur Pflegefachkraft ausbilden zu lassen, äußerst gering. Schichtdienst, Wochenendarbeit, harte physische sowie psychische Belastung, ständiges Einspringen, purer Stress, Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, straffe Hierarchien, kaum gesellschaftliche Anerkennung und ein Durchschnittsgehalt von ca. 2400€ brutto ist dann vielleicht doch nicht so attraktiv. Die ca. 15€ Mindestlohn, die Jens Spahns Pflegepersonalstärkungsgesetz beinhaltet sind dabei blanker Hohn, kommt man damit ohnehin nur auf das in der Pflege gängige Durchschnittsgehalt. Diejenigen die sich trotzdem getraut haben, diese Ausbildung anzufangen, springen meist schon nach der Hälfte der Ausbildungszeit wieder ab.

Bis 2030 werden 500.000 Pflegekräfte fehlen

So kommt es, dass in Deutschland bis 2030 etwa 500.000 Pflegekräfte fehlen werden. Das hat sogar die rationalisierungsfreudige, neoliberale Bertelsmannstiftung erkannt. Zwar soll mehr Personal durch das oben genannte Pflegepersonalstärkungsgesetz mit millionenschweren Programmen aus dem Ausland rekrutiert werden, jedoch würde solches Fachpersonal andernorts genauso dringend gebraucht. Vielleicht könnte man stattdessen auch einfach aufhören, angehende Pflegekräfte, die zuvor nach Deutschland geflohen sind, in Kriegsgebiete abzuschieben.

Dass es noch nicht längst zu einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems gekommen ist, ist vor allem den oft schwarz arbeitenden und aus Ost-Europa stammenden 24/7-Kräften zu verdanken. Diese leben meist bei den hochbetagten Menschen zuhause und kümmern sich dort unter prekärsten Arbeitsbedingungen um den Haushalt und die Pflege. Ohne zuvor eine angemessene Pflegeausbildung erhalten zu haben.

Patriarchale Rollenbilder und Prekarisierung von „Frauenberufen“

Aber auch die Pflegekräfte in den Heimen, Krankenhäusern und ambulanten Diensten haben durch Einspringen und Überstunden dafür gesorgt, dass eine Grundversorgung bislang noch möglich war. Das wird auch von uns erwartet. Das zutiefst religiös und patriarchal geprägte Rollenbild der pflegenden Nonne ist noch immer tief in den Köpfen verankert: Sie soll barmherzig, aufopferungsvoll und für Gottes Lohn jeder Zeit verfügbar sein und sich empathisch um die Patient*innen kümmern. Genau diese Erwartungshaltung an uns Pflegekräfte macht sich momentan während der Corona-Pandemie bemerkbar. Jens Spahn hat mal eben die die Personaluntergrenze für uns ausgesetzt und es wird erwartet, dass wir notfalls in den stationären Einrichtungen vorübergehend einziehen, um die Versorgung aufrecht zu erhalten. Dass eine solche Krise nur mit mehr und ausgeruhtem, statt mit weniger und überarbeitetem Personal überwunden werden kann, scheint angesichts der angeblichen Aufopferungsbereitschaft unsererseits egal. Die Gesellschaft schweigt währenddessen dazu oder begrüßt die Maßnahmen.

Doch auf den ersten Blick hat sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten hinsichtlich der Emanzipation der Frau zum Positiven gewandelt. Dieser Wandel macht sich jedoch hauptsächlich in der liberalen Gesetzgebung bemerkbar, nicht aber im materiellen Sinn. Die Bedingungen in den so genannten „Frauenberufen“, in der Reproduktions- und Carearbeit sind weiterhin prekär.

Dieser Umstand überträgt sich auch auf den gesellschaftlichen Status von uns Pflegekräften. Nach wie vor gelten wir als „Arschabwischer“ die einen Job ausüben, den jeder Idiot machen kann. Doch unser Beruf ist eine medizinisch höchst anspruchs- und verantwortungsvolle Arbeit. Das Wissen und Können, das uns abverlangt wird, ist immens. Mit der steigenden Alterserwartung nehmen auch die komplexen Krankheitsbilder zu, die wir zu verstehen und behandeln haben.

Bessere Löhne und Arbeitsbedingungen müssen erkämpft werden

Doch eine angemessene Bezahlung für diese Tätigkeiten findet nach wie vor nicht statt. Das hat gute Gründe, haben wir Pflegekräfte es doch verpasst uns zu organisieren. Nur etwa 10% von uns sind Mitglied in einer Gewerkschaft. Arbeitskämpfe oder gar Streiks sind entsprechend rar. Insbesondere Verdi hat es jahrelang verpennt, sich mehr im Pflegesektor zu engagieren und dort zu mobilisieren. Viele Kolleg*innen wollen dies auch gar nicht, haben sie doch Angst vor Repression des kirchlichen Arbeitsrechts. Dieses gilt in vielen der Einrichtungen hierzulande, schränkt gewerkschaftliche Betätigung ein und untersagt jede Form von Streik.

Ein weiterer sehr bedeutender Grund liegt historisch begründet: Seit den 70er Jahren haben sich die Pflegekräfte hauptsächlich im Berufsverband organisiert. Das vorhaben war, endlich als die professionelle Berufsgruppe wahrgenommen zu werden, die man ist. Dies ist ein logischer Schritt, denn wenn du nicht als professioneller Beruf angesehen wirst, sieht auch niemand ein, dass du besser bezahlt werden solltest.

Uns fehlt es nach wie vor an einer Lobby. Insbesondere aus der (radikalen) Linken fehlt es hier an Solidarität. Dabei wären wir so sehr auf die Unterstützung organisierter Gruppen und Menschen angewiesen, wo wir doch selbst kaum Organisierungserfahrung haben. Doch statt sich real auf die so gerne propagierte „Solidarität mit der Arbeiterklasse“ zu beziehen, beschäftigt man sich lieber mit der eigenen akademischen Karriere, verliert sich in innerlinken Diskursen und erfreut sich am Hedonismus im nächstgelegenen AZ. Insbesondere die feministische Dimension einer Erkämpfung besserer Arbeitsbedingungen in der Care-Arbeit wird außer Acht gelassen. Der Feminismus vieler Linker verortet sich nämlich immer mehr in postmodernen Diskursen. Der Fokus liegt dabei meist auf Sprachgebrauch und Verhaltensweisen statt auf konkreten materiellen Bedürfnissen.

Wir Pflegekräfte müssen unsere Lobby also eigenständig aufbauen. Doch ob wir diese Anstrengung zusätzlich zu den krassen Belastungen unser Arbeit gestemmt kriegen bleibt dahingestellt.

Eine Chance wäre die aktuelle Krise allemal.

Auf Dankesworte müssen Taten der Solidarität folgen

Die Relevanz unserer Arbeit und die Notwendigkeit eines entprivatisierten Gesundheitswesens mit ausreichend und gut bezahltem Personal, das nicht ständig überlastet ist, wird so langsam erkannt. Dies ist unsere Chance, Forderungen zu stellen. Und das tun wir auch: Die Forderung nach einem Bruttolohn von 4000€ wird gestellt. Zurecht! Warum sollen wir auch weniger als den deutschen Durchschnittsbruttoverdienst von ca. 3800€ verdienen? Außerdem würde ein solches Gehalt mehr Leute dazu bewegen, diese Arbeit zu tätigen. Nur so kann die Personalnot bekämpft und eine Arbeitszeitverkürzung sowie Belastungsreduzierung möglich gemacht werden.

Es werden immer mehr Forderungen laut. Insbesondere die nach Gefahrenzulagen und einer Entprivatisierung des Gesundheitswesens. Wir Pflegekräfte realisieren gerade, wie viel Macht wir haben, wenn erkannt wird, dass ohne uns nichts läuft. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir nach der Corona-Krise unsere Forderungen auf die Straße tragen. Dass wir nicht wieder an den Rand jeder Debatte gedrängt werden, sondern laut bleiben. Das können wir aber nicht alleine! Wir können nicht mal einfach so in den Streik treten, sind wir doch tagtäglich damit beschäftigt, Menschen am Leben zu erhalten. Wir brauchen die Solidarität derer, die jetzt auf den Balkonen stehen und für uns Abends applaudieren. Lasst den Applaus nicht verhallen, wenn die jetzige Krise vorübergeht, sondern wandelt ihn um. Wandelt ihn in eine breite Bewegung, die auf die Straße geht und in den solidarischen Streik tritt. Aus den Dankesworten müssen Taten der Solidarität werden. Taten die die konkreten materiellen Bedingungen von uns Pflegekräften und damit auch derer, die wir versorgen massiv verbessern.

Denn der Pflegenotstand geht uns alle an!

Wenn ihr mehr von R. Eifeldorf lesen wollt, könnt ihr im auf Twitter folgen @Amanoman1

Titelbild: Gemeinfrei

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Das kapitalistische Weltsystem tritt in die schwerste Krise seiner Geschichte ein, deren Folgen – sollte sie nicht schnell überwunden werden – selbst die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in den Schatten stellen könnten.

Es ist mal wieder so weit – die Zeit des ganz großen “Wir” ist angebrochen. Wenn der von inneren Widersprüchen zerfressene Spätkapitalismus von einem abermaligen Krisenschub erfasst wird, dann bricht der Moment der großen Appelle an den Gemeinsinn, an den Zusammenhalt und die Opferbereitschaft an. Alle Insassen einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft werden gleichermaßen aufgerufen Opfer zu bringen – vom Milliardär, über den Lohnabhängigen, bis zum Obdachlosen. Es geht ja ums große falsche Ganze, wenn unzählige Milliarden zur Stützung eines zerstörerischen und irrationalen Systems verfeuert werden müssen. Doch diesmal scheint der Opfergang für den Mammon buchstäblich Blut zu fordern. Der Kapitalismus wird dadurch als die säkularisierte Religion demaskiert, die Walter Benjamin schon 1921 beschrieb.

Blood for the Blood God

Wie wäre es also mit dem Opfer des Lebens? Es ist ja für eine gute Sache, für die Wirtschaft! So wird inzwischen tatsächlich argumentiert. Alle müssten Opfer bringen, forderte jüngst etwa Dan Patrick, seines Zeichens Vize-Gouverneur des US-Bundesstaates Texas, von seinen Bürgern. Die Wirtschaft müsse schließlich weiter laufen. Die Lohnabhängigen sollten folglich trotz Pandemie zur Arbeit gehen, man müsse die Alten, die überdurchschnittlich oft an Corona sterben, einfach opfern, damit die Enkel weiterarbeiten können – so die Forderung des Vize-Gouverneurs. Er selber sei bereit, sein Leben für die Wirtschaft zu geben, behauptete der 70-jährige Patrick. Ähnlich argumentiert auch Trump selber, der sein Land “nicht dafür gemacht” sieht, “geschlossen zu bleiben”. Der US-Präsident sprich inzwischen davon, die USA bis Ostern wieder “aufzumachen”.

Doch auch in der Bundesrepublik werden Forderungen laut, sich die Wirtschaft nicht von einer dahergelaufenen Pandemie ruinieren zu lassen. Das Handelsblatt hat beispielsweise zuletzt die Absonderungen des Investors Alexander Dibelius (McKinsey, Goldman Sachs) in Artikelform gegossen, der ebenfalls dafür plädierte, dass die Räder wieder rollen müssen: “Besser eine Grippe als eine kaputte Wirtschaft.” Gerade in zynischen Sätzen wie diesen, die es eigentlich nur in Krisenzeiten bis zum Rampenlicht der veröffentlichten Meinung schaffen, kommt der zivilisationsbedrohende Irrationalismus der kapitalistischen Produktionsweise klar zum Vorschein. Das Kapital ist der amoklaufende, fetischistische Selbstzweck einer uferlosen Verwertungsbewegung, ein Selbstzweck, dem wirklich alles geopfert werden kann.

Solche Aufrufe zum regelrechten Blutopfer für das Kapital machen deutlich, wie dramatisch die Lage ist. Der gegenwärtige Krisenschub ist viel stärker als die Krise von 2008/09. Es scheint, als ob das System aufgrund seiner zunehmenden inneren Widersprüche bei einer länger anhaltenden Pandemie tatsächlich kollabieren könnte – obwohl die Politik aus einer binnenkapitalistischen Perspektive bloßer Krisenbekämpfung alles “richtig” macht. Der Corona-Virus ist nur der Trigger, der ein labiles System zum Einsturz zu bringen droht.

Wirtschaft im freien Fall

Es stellt sich inzwischen nur noch die Frage, ob die kommenden Rezessionen schlimmer ausfallen werden, als der gewaltige Einbruch von 2009. Damals ging die Weltwirtschaft nach dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und der EU in einen Sturzflug über, der nur um durch gigantische Konjunkturprogramme und massive Gelddruckerei abgefangen werden konnte. Diesmal geht der primäre Schock von dem raschen Einbruch der Nachfrage, den Produktionsstilllegungen und der Disruption der bestehenden globalen Lieferketten aus – und er hat das Potenzial, eine historisch einmalige Kontraktion des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Länder im Zentrum des spätkapitalistischen Weltsystems auszulösen.

Mory Obstfeld, ehemaliger Chef des IWF, verglich jüngst die sich derzeit entfaltende Kontraktion der Wirtschaft mit den Folgen der Großen Depression in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Heftigkeit des konjunkturellen Absturzes lässt die entsprechenden Prognosen im Rekordtempo zur Makulatur werden. Das zweite Quartal 2020 könnte in den USA den schlimmsten Einbruch seit 1947 verzeichnen; laut JPMorgan Chase & Co. droht eine Kontraktion von 14 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, die Bank of America prognostiziert inzwischen einen Einbruch von 12 Prozent, während Goldman Sachs gar einen katastrophalen Absturz von 24 Prozent für die kommenden drei Monate erwartet.

Die krasseste Warnung sprach der Präsident der Federal Reserve Bank of St. Louis, James Bullard, aus, der einen Einbruch des BIP von zu bis zu 50 Prozent am Ende des zweiten Quartals gegenüber dem ersten Quartal 2020 befürchtet. Das hätte ein Hochschnellen der Arbeitslosenquote auf bis zu 30 Prozent zur Folge und entspräche einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 25 Prozent. Zum Verglich: in der Großen Depression von 1929-33, die einen Absturz breiter Bevölkerungsschichten in extreme Armut auslöste, sank das US-BIP insgesamt um 25 Prozent.

Entscheidend ist hier der Faktor Zeit: je länger die Bekämpfung der Pandemie dauert, je länger der Verwertungsprozess des Kapitals in der warenproduzierenden Industrie weitgehend lahmgelegt ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer lang anhaltenden Depression, die eine große Schicht von Lohnabhängigen ökonomisch “überflüssig” machen würde – um sie in existenzbedrohendes Elend zu stoßen. Sollte der Virus nicht “durch eine wunderbare Wendung binnen der kommenden Monate verschwinden” , so der Harvard-Professor James Stock gegenüber Medienvertretern, dann werde es “wie die Große Depression” sein. In Kalifornien sind schon die Vorboten dieser drohenden sozialen Katastrophe zu spüren: seit dem 13. März, also binnen einer Woche, haben sich dort rund eine Million Lohnabhängiger arbeitslos gemeldet.

Die eingangs erwähnten, absurd anmutenden Aufrufe, trotz Pandemie wieder Lohnarbeit zu verrichten, und sich um des Geldgottes willen zu opfern, sind gerade von dieser Einsicht in den fetischistischen Sachzwang uferloser Kapitalverwertung getragen. Ansonsten droht der Kollaps einer kapitalistischen Gesellschaft, die sich nur bei gelingenden Akkumulationsprozessen auch sozial reproduzieren kann. Die aus der sich schubweise entfaltenden Systemkrise des Kapitals resultierende Produktion einer ökonomisch überflüssigen Menschheit, die bislang im Verlauf der Krisenkonkurrenz weitgehend auf die Lohnabhängigen der Peripherie abgewälzt werden konnte, würde bei längerfristiger Pandemiebekämpfung folglich auch die Zentren mit voller Wucht erfassen. “Wir” können uns den Schutz vor der Pandemie im Rahmen der kapitalistischen Sachzwänge einfach nicht leisten.

Auch in der EU hat inzwischen das große Kleinrechnen der Konjunkturaussichten eingesetzt. Die EU-Kommission ging anfangs davon aus, dass das BIP in der Europäischen Union um 1,0 Prozent zurückgehen würde. Doch nun werden auch in Brüssel Parallelen zum Jahr 2009 gezogen. Die Wirtschaft der EU dürfte demnach 2020 ähnlich stark schrumpfen wie nach dem Platzen der Immobilienblasen beim letzten Krisenschub, der die nicht enden wollende Eurokrise zur Folge hatte: damals betrug die Kontraktion der Wirtschaftsleistung 4,5 Prozent in der Eurozone und 4,3 Prozent in der EU. Die abermalige Erschütterung der ohnehin erodierenden europäischen Staatenallianz dürfte den nationalistischen Zentrifugalkräften insbesondere im Währungsraum weiteren Auftrieb verschaffen. Schon hält eine regelrechte Wegelagerermentalität Einzug in die europäische “Union”, wo für Italien bestimmte OP-Masken in Deutschland plötzlich “verschwinden” oder von Polen und Tschechien schlicht in einem staatsräuberischen Akt beschlagnahmt werden.

Das Worst-Case-Szenario für die BRD geht von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von 20 Prozent aus, der den Anstieg der Arbeitslosigkeit um eine Million Lohnabhängige zufolge hätte. Die Prognose des berüchtigten Münchener Ifo-Instituts sieht im günstigsten Fall einen heftigen Rückgang des BIP um 7,2 Prozent 2020. “Die Kosten werden voraussichtlich alles übersteigen, was aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte in Deutschland bekannt ist”, warnte Ifo-Chef Fuest. Je nach Szenario würde die Krise zwischen 255 und 729 Milliarden Euro kosten. Ähnlich argumentierte Bundesbank-Chef Weidmann, der ein Abdriften “in eine ausgeprägte Rezession” als unvermeidlich ansieht. Die Folgen dieser kommenden konjunkturellen Einbrüche sind für die Lohnabhängigen oft schon jetzt zu spüren: VW schickte aufgrund einbrechender Nachfrage und gestörter Lieferketten rund 80 000 Arbeiter in Kurzarbeit.

Auch global wird die Konjunkturentwicklung in ersten Prognosen, etwa von IWF, ebenfalls negativ beurteilt, wobei auch hier Parallelen zum Crash von 2008 gezogen werden. Die globale Konjunktur hängt allerdings wesentlich von China ab, wo die Produktion ersten Berichten zufolge schon wieder hochgefahren wird. Das könnte den globalen Absturz mindern, wobei aber der chinesische Kommandokapitalismus staatsoligarchischer Prägung nicht die Rolle der globalen Konjunkturlokomotive spielen kann, da China ebenfalls unter der Last hoher Schuldenberge leidet. Die Abhängigkeiten der “Volksrepublik” von den Exportmärkten sind darüber hinaus trotz aller partiellen Erfolge bei der Stärkung der Binnennachfrage immer noch sehr stark.

Im maroden Land der Fantastzillionen

Angesichts dieses drohenden Zusammenbruchs der Wirtschaftsleistung in den Kernländern des kapitalistischen Weltsystems wundert es nicht, dass die Politik nun sehr freimütig mit Billionenbeträgen hantiert. Die werden in einem Irrsinnstempo in das System gepumpt, als ob es kein Morgen gäbe. Es geht den politischen Funktionseliten tatsächlich darum, den Kollaps zu verhindern. Dabei bleibt es völlig offen, ob diese Anstrengungen auch diesmal, wie beim Platzen der Immobilienblasen 2008/09, die Agonie des Kapitals durch abermalige Blasenbildung verlängern können.

Die Dimensionen der Stützungsmaßnahmen sind historisch einmalig – vor allem in den USA. Am Mittwoch einigten sich die Demokraten und Republikaner im Kongress auf ein Konjunkturprogramm mit einem Umfang von zwei Billionen US-Dollar (das sind 2 000 Milliarden!). Das zuvor belächelte Helikoptergeld, also die Auszahlung von Geld an Bürger zwecks Stimulierung der Nachfrage, ist in den USA Realität geworden. Jeder US-Bürger mit einem Jahreseinkommen unter 75.000 US-Dollar erhält ein Geldgeschenk von 1.200 US-Dollar, jedes Kind bringt noch zusätzlich 500 Dollar ein. Für die dysfunktionale, private “Gesundheitsindustrie” werden 100 Milliarden fällig, Kleinunternehmer können mit 350 Milliarden rechnen, der Großindustrie werden 500 Milliarden nachgeworfen, um sie noch am Leben zu halten, für Städte und Kommunen sind 150 Milliarden vorgesehen, etc., pp.

In der EU und in der BRD werden alle von Schäuble & co. dem Währungsraum aufgenötigten Austeritätsmaßnahmen aufgehoben, während die EZB ein gigantisches Aufkaufprogramm für Anleihen im Umfang von 750 Milliarden Euro ankündigte, um so indirekt, über den Umweg des Kapitalmarktes, eigentlich verbotene Staatsfinanzierung der ehemaligen – und künftigen – Krisenländer in der Eurozone zu betreiben. Die EU hat inzwischen die Haushaltsregeln der Eurostaaten aufgeweicht, um die kreditfinanzierten Staatsinvestitionen zu fördern, die dank der Geldflut der EZB möglich werden. Die schäublerischen Schuldenbremsen werden in der EU wie in der BRD ausgesetzt. Derweil erklärte sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier bereit, über “unkonventionelle Maßnahmen” wie Konsumschecks nachzudenken, nachdem er jüngst die Verstaatlichung von Betrieben ankündigte, um sie vor ausländischen Übernahmen zu schützen.

Die Bundesrepublik ist tatsächlich in der Lage, aufgrund jahrelanger Exportüberschüsse im Rahmen der deutschen Begger-thy-Neighbor-Politik, massive Konjunkturprogramme aufzulegen, die – in Relation zur Wirtschaftsleistung – durchaus mit der amerikanischen Gigantomanie mithalten können. Berlin mobilisiert insgesamt rund 750 Milliarden Euro, um den konjunkturellen Aufprall abzufedern, einhergehend mit einer Neuverschuldung von rund 156 Milliarden. Mit dieser zusätzlichen Verschuldung sollen alle Sozialmaßnahmen, zusätzliche Finanzspritzen für die marode Infrastruktur, etwa das kaputtgeschlagene Gesundheitswesen, und Hilfen für Unternehmen und Selbstständige finanziert werden. Rund 600 Milliarden sind für die Sicherung der deutschen Konzerne und Exportindustrie vorgesehen, um sie vor Bankrott oder feindlicher Übernahme durch Verstaatlichung oder Staatskredite zu schützen.

Diese Milliardenbeträge verblassen in Relation zu den in Billionen zu quantifizierenden Summen, die die Notenbanken in die schwindsüchtigen Finanzmärkte pumpen müssen, um eine Kernschmelze des Weltfinanzsystems zu verhindern. Dabei geht es vor allem darum, das Platzen der Liquiditätsblase zu verhindern, die selbst durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen der geplatzten Immobilienblasen 2008/09 initiiert wurde. Es sind gerade diese seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre aufsteigenden, an Umfang beständig zunehmenden Finanzmarktblasen (Dot-Com-Blase, Immobilienblase, gegenwärtige Liquiditätsblase), die den beständig wachsenden Schuldenberg von inzwischen 322 Prozent der Weltwirtschaftsleistung generieren, unter dem das hyperproduktive, auf kreditgetriebene Nachfrage angewiesene Weltsystem zusammenzubrechen droht.

Die panischen Billionenmaßnahmen der Notenbanken dienen dazu, diesen gigantischen Schuldendturm vor dem Einsturz zu bewahren. Hierzu zählen etwa die besagten 750 Milliarden an neuen Anleihekäufen seitens der EZB genauso, wie die sich auf 1,5 Billionen Dollar summierenden Maßnahmen, die die US-Notenbank Fed im Bemühen aufgebracht hat, den Absturz der US-Börsen zu revidieren. Letztendlich handelt es sich hierbei um Gelddruckerei, genannt „quantitative Lockerungen“, die in der Finanzsphäre betrieben wird, indem Anleihen und “Wertpapiere” von den Notenbanken aufgekauft werden, um das System “liquide” zu halten (der Anstieg der Wertpapierpreise bildet den daraus resultierenden, inflationären Effekt). Inzwischen gibt es bei der Fed keine offiziellen Grenzen mehr: es seien “aggressive Aktionen” notwendig, man werde quantitative Lockerungen – also Gelddruckerei – ohne Limit betreiben, hieß von dort am 23. März.

The syk is the limit – bis zum großen Entwertungsschub, der in Wechselwirkung mit dem Absturz der Konjunktur einsetzen könnte. Das Problem besteht eben darin, dass ein großer Teil dieses wachsenden Schuldenbergs nicht mehr bedient werden kann, sobald die Rezession länger dauert – insbesondere bei den Unternehmenskrediten. Das labile spätkapitalistische Kartenhaus auf den Finanzmärkten würde dann einstürzen, was katastrophale Folgen nach sich zöge. Bei ersten entsprechenden Modellrechnungen wurden die Unternehmensschulden von acht Ländern – China, USA, Japan, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland – berücksichtigt. Bei einem ökonomischen Schock, der nur halb so stark ausfiele wie die globale Finanzkrise von 2008, würden Verbindlichkeiten im Umfang von 19 Billionen US-Dollar (19.000 Milliarden) nicht mehr bedient werden können. Das wären 40 Prozent der gesamten Unternehmensschulden in den besagten Ländern. Die Krise droht aber, in vielen Regionen dem Einbruch des Jahres 2009 zu ähneln.

Somit drohen die konjunkturellen Einbrüche, die nun mit Billionenbeträgen gemildert werden sollen, in Wechselwirkung mit dem Finanzschrott im aufgeblähten Weltfinanzsystem zu treten, was dessen Entwertung und einen irreversiblen Crash zufolge hätte. Das ist die eigentliche Gefahr der gegenwärtigen Krisendynamik: Der Zusammenbruch des globalen Schuldenberges würde einen regelrechten Kollaps auslösen. Das hat die Politkaste auch richtig erkannt, weshalb nun die Schleusen von Fed und EZB bis zum Anschlag geöffnet werden.

Die eingangs erwähnte archaische Forderung nach Opfern, um die Märkte wieder zu besänftigen, hat also tatsächlich einen wahren Kern im objektiven kapitalistischen Sachzwang. Trump hat recht. Sollte die notwendige Pandemiebekämpfung über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten werden, droht buchstäblich der Kollaps der Zentren des kapitalistischen Weltsystems. Die Ankündigung Trumps, schon nach Ostern die USA wieder zum Normalbetrieb hochzufahren, sorgte übrigens gemeinsam mit dem beschlossenen “Konjunkturprogramm” an den US-Finanzmärkten für den höchsten Kurssprung seit 1933. Der Baal des Geldes nimmt die angekündigten Menschnopfer gütig an. Auch wenn Hunderttausende elendig krepieren mögen, es muss wieder Kapital per Lohnarbeit verwertet werden. Das irrationale Wesen des Kapitalismus als eine “irre Selbstmordsekte” (Robert Kurz), als ein im blinden Wachstumszwang wild wuchernder Todeskult, wird in solchen Krisenmomenten evident.

Evident wird aber auch die Notwendigkeit der emanzipatorischen Überwindung dieses in Auflösung und Barbarei versinkenden Systems, dessen Apologeten zu Hohepriestern dieses Todeskults mutieren. Letztendlich ist es eine blanke Überlebensnotwendigkeit, Wege gesellschaftlicher Reproduktion jenseits der totalitären Wertvergesellschaftung zu finden. Das ist die einzig Vernünftige politische Forderung, die nun in Reaktion auf das sich entfaltende Desaster formuliert werden muss.

Von Tomasz Konicz erschien aktuell das Buch “Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört”.

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Italien steht kurz vor dem Höhepunkt seiner Coronavirus-Kurve und ein Unternehmen aus Brescia (Lombardei) verkauft eine halbe Milionen Test-Kits an die USA.

Am 16. März 2020 schickte ein im Bereich digitale Mikrobiologie und Künstliche Intelligenz agierendes Unternehmen aus Brescia 500.000 Kits zum Durchführen der Tests wegen dem tödlichen Virus in die USA. Brescia liegt in der bisher am stärksten betroffenen Region Lombardei, die bis dato 19.884 Infizierungen und 2.168 Todesfälle registrierte. Im ganzen Stiefel wurden seit Beginn des gewalttätigen Ausbruchs des Covid-19 Mitte Februar lediglich 100.000 Tests durchgeführt. Bis zum 16. März wurden in den USA “nur” 4.500 Infizierungen und 86 Todesfälle gezählt. Wer hätte die Test-Kits nun dringlicher gebraucht? In Zeiten des von allen Seiten als kriegerisch bezeichneten Kampfes gegen den Coronavirus verfolgen die Regierungen weltweit einen Krieg jeder gegen jeden, der den Bevölkerungen unterm Strich nichts erfreuliches bescheren.

Die Meldung wurde am Abend des 19. März von der italienischen sozialdemokratisch ausgerichteten Tageszeitung “La Repubblica” preisgegeben: ein Unternehmen, das im seit mehreren Wochen kochenden Herd des Ausbruchs von Covid-19 angesiedelt ist, hat 500.000 Kits zum Durchführen des Tests an die USA verkauft. Die 13 Paletten wurden von der im Nordosten Italiens liegenden US-amerikanischen Militärbasis von Aviano mit einem C17 Globemaster Militärflugzeug nach Memphis überführt. In der Tat gab es unweit vom italienischen Epizentrum des Covid-19 einen ungeheuren Bestand an genau dem Test-Kit, den viele Regionen des Landes verzweifelt suchen, um die Ausbreitung der Plage einzudämmen, aber nicht finden. Selbst in düsteren Zeiten einer rabiaten Pandemie, bleibt der unmittelbare Bedarf an einer medizinischen Ware zweitrangig. Viel wichtiger jedoch ist aus Sicht eines Unternehmens sein Tauschwert, sprich wie lukrativ sie auf dem Markt ist und wer das bessere Angebot unterbreitet. Und dies kam nun mal aus dem Pentagon.

In der Tat feierten die USA am Mittwoch Abend die Einfuhr der Test-Kits und der US-amerikanische Botschafter in Italien Lewis M. Eisenberg brachte dem italienischen Unternehmen sogar schäbige Glückwünsche dar: “Wir sind erfreut, dass die italienische Firma Copan Diagnostics weiterhin die Nachfrage von Test-Kits auf Coronavirus in Italien und im Ausland befriedigen kann. Der private Sektor in Italien rettet Leben auf der ganzen Welt. Ich spreche meinen Lob für diese Bemühungen aus”. Wenn Copan Diagnostics wirklich Interesse an der Rettung von Menschenleben gehabt hätte, wären die Test-Kits schon längst in Nord Italien im Einsatz. Durch das massive Durchführen von Tests hätte man konsequent verhindern können, dass asymptomatische Patienten frei und unbekümmert das Virus herum kutschieren. Der amtierende Präsident der Region Venetien Luca Zaia brachte am 20. März seine Fassungslosigkeit gegenüber diesem Vorfall zum Ausdruck: “Mir scheint es nicht normal, dass ein US-amerikanisches Frachtschiff mit 500.000 in Brescia hergestellten Test-Kits an Bord von Aviano aufbricht, wo wir doch keine finden”. Es bleibt jedoch fragwürdig, wie diese Entscheidung an den politischen Akteur*innen vorbei gehen konnte und ob letztere nicht doch über den Verkauf im Bilde waren.

Jedoch wurde das Gezänk um die Kontrolle der Schlüsselelemente zur Bekämpfung des Covid-19 bereits am 17. März mit Trumps Versuch sich die Rechte auf den Impfstoff zu sichern, eröffnet. Der US-amerikanische Präsident versuchte mit happigen Schecks das Team der deutschen Firma CureVac, das zur Zeit intensiv an der Herstellung eines Impfstoffs arbeitet, auf das anderen Ufer des Teichs zu locken. Wie “Die Welt” berichtet, nahm der Chef der Firma Daniel Menichella bereits Anfang März an einem Treffen von Pharmamanagern im Weißen Haus teil. Vorerst scheint es, als ob die EU die Flucht des Patents mit der Bereitstellung von 80 Mio. Euro verhindern konnte.

Ein ähnlich jämmerliches Beispiel sind die Streitigkeiten zwischen dem deutschen Staat und dem italienische Unternehmen Dispotech srl, das unweit von Mailand seinen Hauptsitz hat. Letzteres hatte 830.000 chirurgische Schutzmasken aus China bestellt und wollte diese ursprünglich über Deutschland nach Italien versenden. Doch am 4. März 2020 verließ das deutsche Außenministerium eine Verordnung, die den Export von gewissen Medizinprodukten verbietet. “Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um diese Schutzmasken nach Italien zu bringen – erklärte die Inhaberin von Dispotech srl am 13. März der lokalen Tageszeitung “Il Giorno” – jedoch können wir sie nicht mehr aufspüren.

Der Zwietracht wegen der Schutzmasken vermehrt sich aber nicht nur auf zwischenstaatlicher Ebene. Auch zwischen den italienischen Regionen wird immer hitziger um die grundlegenden Medizinprodukte gerungen. Am 13. März meldete die Tageszeitung “Il Mattino”, dass eine von der öffentlichen Gesundheitseinrichtung in Neapel geordneten Lieferung von 70.000 Schutzmasken von der Landesregierung Toskana angehalten wurde. Der Präsident der Region Kampanien Vincenzo De Luca spricht Tacheles: “Wenn ein von uns bestellter Lastwagen voller Schutzmasken angehalten wird, dann haben wir uns nicht deutlich genug ausgedrückt. In diesem Fall machen wir Krieg”.

Der Coronavirus hat die schmähliche Knappheit an Medizinprodukten wie Test-Kits, Schutzmasken und Atemgeräten auf allen Ebenen glasklar und lapidar zum Ausdruck gebracht. Die Jahrzehnte der koordinierten und virulenten Auskernung des Sozialstaates können nicht mehr rückgängig gemacht werden. So geben sich Staaten und Länder zu einem bisweilen kannibalischen und zynischen Krieg her, in dem sie sich um den Besitz der noch verfügbaren medizinischen Krümel balgen. Die oben genannten Beispiele zeigen, dass in Zeiten einer verheerenden Gesundheits- und Wirtschaftskrise nur jene Staaten, die finanziell am längeren Hebel sitzen, möglicherweise glimpflich davonkommen können. “Im Kapitalismus nichts Neues” würde manch ein politischer Visionär sagen. Allerdings verleihen die tödlichen Auswucherungen des Covid-19 diesem Satz einen extrem bitteren Geschmack.

Titelbild: Governor Tom Wolf/CC BY 2.0

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Corona begleitete mich in den vergangenen Wochen durch drei Länder. Als der Name mir zum ersten Mal begegnete war ich in Österreich. Es interessierte mich nicht, ich kannte niemanden, den es interessierte und wenn ein Gespräch sich darauf bezog, dann höchstens scherzhaft. Als Covid-19 dann Ende Februar in Italien ankam, war ich bei Genoss*innen in Rom zu Gast. In der Nacht zum 22. Februar starb in Padua ein 78-jähriger, nicht viel später wurden in der besonders betroffenen Lombardei die ersten Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus durchgesetzt. Zu der Zeit hatte ich Fieber, Husten, Schnupfen, Nachtschweiß – die üblichen Grippesymptome. Und ich hatte Kontakt zu Genoss*innen aus Norditalien, die ebenfalls krank waren. Testen wollte mich niemand, ich blieb zuhause bis die Grippe vorbei war und reiste dann zum Arbeiten weiter.

Der Transitflug ging über München. Noch Mitte März war das problemlos möglich. Viele Flüge waren gestrichen, aber man konnte ohne größere Probleme in Bayern ankommen, Fieberchecks – in Italien schon seit Wochen üblich, gab es genauso wenig wie Schutzequipment bei den Arbeiter*innen und Secus am Flughafen. Auf den Straßen war in Rom zu dieser Zeit schon kaum noch Leben. Die Restaurants und Sehenswürdigkeiten waren geschlossen, Großveranstaltungen untersagt, viele Menschen gingen kaum noch aus dem Haus. In Deutschland: alles normal.

Diese Asymmetrie war erstaunlich. In Italien war am Ende der zweiten März-Woche bereits klar: Diese Pandemie ist gefährlich und sie kann ein Land in völliges Chaos stürzen. In Deutschland verschloss man die Augen, wartete mit Maßnahmen, obwohl für auch für die Regierung schon klar sein musste, dass die Sache nicht von selbst vergehen würde.

Dann ging alles schnell – bis zu dem Punkt, an dem wir heute stehen. Was in den vergangenen Wochen passierte, ist eine Kombination aus mehreren Faktoren. Und weil die Situation so unvorhergesehen ist, so neu, ist es nicht immer leicht, beide auseinanderzuhalten. Der eine von beiden Faktoren ist die Pandemie selbst – ein bedrohliches Krankheitsgeschehen, auf dass die Gesellschaften dieser Welt reagieren müssen, will man hunderttausende oder gar Millionen Tote wie bei der Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs vermeiden. Das zu verharmlosen ist dumm.

Der zweite Faktor sind die Maßnahmen, die durch die herrschenden Gruppen des globalen Kapitalismus im Zuge der Krise umgesetzt werden. Die Krise hat dabei dermaßen weitreichende politische, geopolitische, ökonomische Auswirkungen, dass noch kaum absehbar ist, wie die Welt nach dem durch das Virus getriggerten Veränderungen aussehen wird.

I

Covid-19 fungiert in vielen Bereichen als eine Art Brandbeschleuniger. Wie alle Pandemien in der Menschheitsgeschichte trifft es auf gegebene politische, soziale und ökonomische Bedingungen, beschleunigt einige, beendet oder verlangsamt andere Tendenzen. Die Spanische Grippe war auch deshalb so verheerend, weil sie nach dem Ersten Weltkrieg auftrat. Und der Pest gingen 1315 bis 1317 Getreidekrise und Hungersnöte voraus. Die wirtschaftliche Rezession, die sie einleitete, gründete nicht nur in ihr, sie war wie Fernand Braudel schreibt, „nicht der einzige Totengräber des Aufschwungs“.

Das Corona-Virus schlägt in eine kapitalistische Ökonomie ein, die ihre letzte große Krise mit Müh und Not verschoben hat. Die Banken, die jetzt so tun, als seien sie unverschuldet durch die Pandemie in neue Nöte geraten, standen ohnehin auf tönernen Füßen. Man kann sicher sein: Sie werden aus der Not eine Tugend machen und die Gunst der Stunde nutzen.

Das Virus trifft aber auch auf eine globale Ordnung im Umbruch. Das US-Imperium als hegemoniale kapitalistische Macht befand sich seit langem am absteigenden Ast, militärisch wie ökonomisch. Covid-19 könnte einer der letzten Sargnägel werden. Denn der Hauptrivale um weltweite Vorherrschaft, China, hat das Virus deutlich schneller unter (relative) Kontrolle gebracht als irgendeine andere Nation. Das bedeutet aber auch, Peking kann Produktionskapazitäten wieder hochfahren, da wo für Washington der große Knall erst noch bevorsteht. Es geht aber nicht nur um die harten ökonomischen und militärischen Elemente, sondern auch um die ideologische Hegemonie. Die Vorherrschaft der USA lebte auch davon, dass der american way of life als ein der Nachahmung wertes Entwicklungsmodell galt. Bröckelte diese Wahrnehmung seit langem, so schlägt Corona eine weitere Kerbe. Chinesische Expert*innen-Teams werden vom Irak bis nach Italien zu Rate gezogen. Und mag Trump noch so oft vom „China-Virus“ schwadronieren, global dürfte es sehr wenige Regierungen oder Wissenschaftler*innen geben, die den US-amerikanischen Umgang mit der Krankheit als vorbildlich ansehen.

II

Im Inneren bedeutet Corona eine Beschleunigung der Tendenz zum Autoritarismus, die sich in vielen Nationalstaaten dieser Erde seit langem abzeichnet. Der Ausnahmezustand kann nun mit Zustimmung der ihm Unterworfenen ausgerufen werden. Regime wie das Israels, Chiles oder des Iran sehen die Gelegenheit, um Befugnisse ihrer Geheimdienste zu erweitern oder Proteste loszuwerden. In Deutschland setzt sich die in den Polizeiaufgabengesetzen eingeschlagene Richtung beschleunigt fort. Dass die Einführung der Ausgangssperren dabei keine rein medizinische Maßnahme ist, kann man sich schon dadurch verdeutlichen, dass sich zwar nicht mehr als zwei Menschen im öffentlichen Raum treffen dürfen, die Regel aber nicht für die Lohnarbeit gilt, wo lasch die „Arbeitgeber“ aufgefordert werden, irgendwie für Gesundheit zu sorgen.

Die Tragik der Situation ist, dass die durch den Staat entmündigte Gesellschaft den Ausnahmezustand geradezu braucht. Das zum Egoismus herangezogene, nur auf sich achtende Individuum der kapitalistischen Moderne kann ohne den Befehl des Staates keine kollektiven Handlungsoptionen entwickeln, und so befürworten am Ende auch jene die Notstandsdiktatur, die „freiwillig“ auf kein Clubbing, kein Spring Break und keinen Urlaub verzichten wollen. In der Krise macht sich gerade in Nationen wie Deutschland der „Soziozid“ des Kapitalismus bemerkbar. Der kapitalistische Staat hat der Gesellschaft jede Selbstverteidigungskraft genommen, und ohne staatliche Reglementierung können sich die vereinzelten Monaden zu keiner gemeinschaftlichen Handlung mehr zusammenraufen.

Unabhängig davon, ob man die Maßnahmen der jeweiligen Regierungen im konkreten Fall aus epidemologischer Sicht nachvollziehen kann oder auch nicht, setzen sie ein neues politisches Paradigma. Die Verschiebungen in dem, was akzeptabel ist, werden bleiben, auch wenn das Virus irgendwann seine Brisanz einbüßen wird: Vorratsdatenspeicherungen, Telekommunikationsüberwachung zur Erfassung von Bewegungsmustern, erweiterte Polizeibefugnisse, Grenzschließungen, Ausgangssperren, Kontaktverbote, Eingriffe in alle Lebensbereiche der Menschen.

III

Das Gros der Maßnahmen ist auf die Stabilisierung der kapitalistischen Ökonomie und ihres politischen Überbaus ausgerichtet. Die Kosten der geschäftsschädigenden Krankheit müssen so gut es geht verstaatlicht oder auf jeweils andere abgewälzt werden. 750 Milliarden Euro machte die Europäische Zentralbank locker, die US-amerikanische FED pumpte 700 Milliarden US-Dollar in „die Wirtschaft“. Weltweit überbieten sich Regierungen in Ankündigungen von „Hilfen“ für Unternehmen. Diese wiederum arbeiten schon jetzt fleißig daran, die eigenen Arbeiter*innen noch härter auszunehmen. Das Virus übt jetzt schon Druck auf die Löhne aus, lädt zur Umgehung des Kündigungsschutzes ein, ermöglicht Konzernen erweiterten Zugriff auf Steuergelder.

Ist für bestimmte Kapitalfraktionen die Krise eine Chance, führt sie in anderen Sektoren zum Bankrott einiger Player sowie zu einer Verstärkung der Monopolisierungstendenz. Ein Kapitalist schlägt viele tot, oder aber auch, wenn ein Virus einige tot schlägt, übernehmen die Überlebenden dankend dessen Marktanteil.

IV

Die Begleitmusik zur Durchsetzung des Ausnahmezustands und der Aufweichung von erkämpften Rechten ist die alte Leier, dass wir „alle in einem Boot sitzen“. Vom Milliardär bis zur illegalisierten Putzkraft, von der Pflegerin zum CEO des Pharmakonzerns. Wir sollen keine Klassen mehr kennen, nur noch die geeint gegen das Virus stehende Nation. Die Lüge ist offensichtlich: Wem welcher Schutz zur Verfügung steht, wer welche Versorgung erhält, wer seine Miete noch zahlen kann und wer nicht, wer Zugriff auf welche Ressourcen hat, wer eingepfercht im Knast, im Flüchtlingslager, im Billigaltenheim auf die Infektion wartet und wer in der Villa den Außenkontakt auf die Bediensteten reduziert, die einkaufen gehen. Die Kassiererin im Supermarkt wird sich nicht beim ersten Hüsteln in die Privatklinik einweisen lassen können und in den griechischen und libyschen Lagern waren Desinfektionsmittel und Klopapier schon alle, bevor deutsche Kleinbürger das Hamstern entdeckten.

Ist die Rede davon, dass Corona „uns alle“ gleichermaßen trifft, schon innerhalb der reichsten kapitalistischen Nationen Blödsinn, so wird sie global gesehen zur zynischen Menschenverachtung. Selbstverständlich wird eine Pandemie im vom saudi-arabischen Vernichtungsfeldzug geplagten Jemen, in Syrien, den Armenvierteln Indiens, in Mexiko oder in den vergessenen Regionen Afrikas tödlicher sein als in Deutschland. Man wird möglicherweise nur durch Hochrechnungen überhaupt sagen können, wie viele gestorben sind, weil die Leben der Habenichtse dieser Erde eben weniger zählen als unsere hier in Europa oder die der US-amerikanischen Mittelschicht.

V

Die parlamentarische „Linke“, deren Daseinszweck von SPD über Grüne bis zur Führung der Linkspartei die möglichst reibungslose Verwaltung des Bestehenden ist, wird keine Impulse setzen. Der überwiegende Teil wird die Parole ausgeben: Wir kennen keine Parteien mehr, sondern nur noch Virologen. Der DGB hat bereits verlautbaren lassen, sich zusammen mit den „Arbeitgeberverbänden“ – sprich: Kapitalisten – „für das Gemeinwohl einsetzen“ und Konflikte „hinten anstellen“ zu wollen. Vorbild ist die deutsche Sozialdemokratie. Die hatte schon im Ersten Weltkrieg erklärt, ja klar, man wolle für Arbeiter*innen irgendwas tun, aber doch nicht jetzt, wenn die Nation in der Krise ist. Da müssen dann schon die Werktätigen auf die Völkerschlachtbank, für Gott, Kaiser und Vaterland. Hurra.

Dabei wäre gerade die akute Krise jener Ort, in dem es organisierte Kräfte braucht, die den nun unter der Lupe vergrößerten Konflikt austragen. Wem diese Rolle für Deutschland zufallen sollte, ist leider noch nicht abzusehen. Die generelle Unorganisiertheit der radikalen Linken ist durch die Ratlosigkeit, wie mit der jetzigen Situation umzugehen sei, nicht kleiner geworden.

Und sollte sich das nicht ändern, kann man eines über die Post-Corona-Welt sagen: Wie auch immer sie aussieht, „besser“ wird es nicht sein. Denn es gibt keinen Automatismus, dass nun durch die vor aller Augen nackt dastehende Unvernunft des Kapitalismus gleichsam von selbst eine sozialistische, anarchistische, kommunistische Zukunft eintritt. Von selbst wird alles nur schlimmer, will man, dass etwas besser wird, muss man es erzwingen.

#Titelbild: Gemeinfrei/ Pixabay

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Kommentar

Gunnar Schupelius frohlockt: „Der Staat zeigt auf einmal eine Schlagkraft, die wir bisher nicht kannten. In den zurückliegenden Krisen hätte man sich eine Portion von dieser Konsequenz gewünscht, zum Beispiel im Kampf gegen Drogenhandel und Clankriminalität, zum Beispiel in der Flüchtlings- und Asylkrise von 2015 und den Terroranschlägen dieser Jahre.“ Der BZ-Kolumnist, dessen ganze Karriere darauf aufbaut rechtskonservative bis faschistoide Positionen zu beziehen, zeigt sich erfreut über das harte Agieren des Staates angesichts der Coronakrise. Wo er doch schon längst hätte so handeln müssen, angesichts der permanent rechtlosen Zustände in diesem Land. Und mit seinen Positionen ist er leider nicht alleine.

Twitter quillt über mit Tweets die eine Ausgangssperre fordern, weil sich die Leute nicht selbst in eine solche begeben. Social Distancing ist nicht genug, man muss die Leute wegsperren. Wenn die Leute nicht „vernünftig“ handeln, dann muss es eben der Staat richten. Die Vernunft, an der sich die neugewonnene Erkenntnis orientiert, ist eine vermeintlich gesundheitspolitische: Nur mit noch stärkeren Ausgangsbeschränkungen könne man verhindern, dass sich das Coronavirus weiter verbreitet und die voranschreitende Pandemie aufhalten. Am besten von der Polizei kontrolliert und durchgesetzt.

Dass die Forderung sich in der Wohnung einzuschließen für manche Menschen schwerwiegendere Folgen hat als für andere, spielt dabei keine Rolle. Mit Netflix und Homeoffice in der mit dem*der Partner*in bewohnten Drei-Zimmer-Altbau-Wohnung, ist es einfach nach Ausgangssperre zu rufen. Für Menschen die nicht das Glück haben, über so viel Wohnraum zu verfügen – sei es wegen Armut oder ihrem illegalisierten Status – ist der öffentliche Raum wesentlich wichtiger. Ganz zu schweigen von der bereits in China dokumentierten Zunahme patriarchaler Gewalt während der dortigen Ausgangsbeschränkungen.

Dass diese Maßnahme selbst bei epidemiologischen Expert*innen wegen ihres unklaren Nutzens nicht unumstritten ist, ist scheinbar auch irrelevant. Und vor allem bleibt bei allen Forderungen nach der harten Hand des Staates völlig unterbeleuchtet, dass die Entscheidung eine Ausgangssperre zu verhängen nicht nur ein Akt zur Seuchenbekämpfung ist, sondern auch eine politischer. Und die Maßnahmen, die jetzt getroffen werden, werden sich in Zukunft verselbstständigen.

Beispiele dafür gibt es reichlich: Pfefferspray wurde ursprünglich eingeführt, um den Schusswaffengebrauch von Polizist*innen zu verringern. Heute wird es auf Demos wie Lufterfrischer eingesetzt. Der Antiterrorparagraf 129 b wurde vor dem Hintergrund der islamistischen Terroranschläge auf das World Trade Center 2001 eingeführt, heute dient er vor allem der Kriminalisierung linker Exilbewegungen in Deutschland. Der nach den Terrorsanschlägen von Paris eingeführte Ausnahmezustand in Frankreich, wurde kurzerhand zum Normalzustand erklärt und gegen die Bewegung der gîlets jaunes in Stellung gebracht.

Auch in der Coronakrise selbst zeigt sich, dass die jetzt getroffenen autoritären Maßnahmen manchen Politiker*innen sowieso sehr gut in den Kram passen. In Chile wurde nach den ersten Ausbrüchen von Corona der Katastrophenfall ausgerufen: Militär ist in den Straßen und kontrolliert, dass niemand das Haus verlässt. Damit ist das vorläufige Ende der Sozialproteste und des Aufstands gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell eingeläutet worden. Eine der ersten Maßnahmen der Militärs war es dann auch, die für die Proteste emblematische Plaza Dignidad von sämtlichen Spuren der Proteste zu bereinigen. Die mit Parolen bemalte Statue in der Mitte des Platzes wurde gesäubert und wieder hergerichtet, die autonom aufgebauten Monumente vernichtet; Ein Zaun wurde um den Platz gezogen um zukünftige Proteste zu erschweren. Der „Normalzustand“ gegen den sich die Proteste richteten wurde wieder hergestellt. Man bereitet sich auf die Zeit nach Corona vor.

In Israel hat der wegen Korruptionsermittlungen politisch schwer angeschlagene Ministerpräsident Netanyahu kurzerhand das Parlament ausgehebelt und regiert über den Erlass von Dekreten. Der Inlandsgeheimdienst überwacht durch die Abfrage von Mobilfunk-Metadaten Menschen, die unter Quarantäne gestellt wurden – ein Mittel das bisher angeblich nur zur Terrorbekämpfung eingesetzt wurde.

Wenn jetzt unbedarft nach einer Ausgangssperre gerufen wird, wird das mittel- und langfristig schwere Konsequenzen haben. Was einmal politisch als Handlungsoption durchgesetzt ist, kann zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder angewandt werden. Unabhängig vom ursprünglichen Kontext, oder der eigentlichen Begründung, mit der die Maßnahme möglich gemacht wurde.

Deswegen ist es umso wichtiger, angesichts der jetzt um sich greifenden Rufe nach einem autoritären Staat, selbst aktiv zu werden: Sich diesen Rufen aktiv entgegen zu stellen und vor allem Solidarität zu organisieren. Nur so kann die Pandemie von uns aufgehalten werden. Und nur so können wir verhindern, dass die reaktionäre Law&Order Fraktion diese Krise für sich nutzt und noch repressivere Bedingungen für die Auseinandersetzungen der Zukunft schafft.

#Titelbild: Computer-Simulation des Corona-Virus, Felipe Esquivel Reed, wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0

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Während das islamische Regime am 11. Februar 2020 den 41. Jahrestag seiner Herrschaft im Iran mit Massenversammlungen feierte, bereitete sich das Coronavirus im ganzen Land rasch aus. Als am 21. Februar die Parlamentswahl stattfand, bemühte sich das Regime um eine möglichst hohe Beteiligung der Bevölkerung bei der Wahl, anstatt die notwendige Maßnahmen und Informationen für die Verhinderung der Ausbereitung von COVID-19 zu ergreifen. Infolgedessen verheimlichte die iranische Regierung über Wochen die Ausbreitung des Coronavirus und die tatsächlichen Zahlen der Opfer. Nicht das einzige Verbrechen des Regimes.

Profit und Religion über Menschenleben

Die Entstehung eines unbekannten Virus im 21. Jahrhundert ist eigentlich nichts Seltsames. Wir werden in naher Zukunft aufgrund des alarmierenden Klimawandels und der drastischen Veränderung des Ökosystems durch die kapitalistische Produktionsweise viele unbekannte Phänomene sehen. Die Inkompetenz und Vernachlässigung bei der Eindämmung der Coronaverbreitung ist im Iran, wie auch weltweit, eine rein politische und ökonomische Angelegenheit, die ein klares Spiegelbild der Auswirkungen eines Systems zeigt, welches nur auf Profit aus ist.

Wir haben nicht die Mutation und das Auftreten tödlicher Viren von SARS, MERS über Ebola, Zika, Schweinegrippe bis Corona und dergleichen in unserer Kontrolle, aber die Geschwindigkeit. Die weite Verbreitung dieser Viren zeigt jedoch ein Weltklassesystem, dessen Ressourcen einer parasitären Minderheit ausgeliefert sind. Wenn Corona heute wie ein Hurrikan Tausende Menschen tötet, dann weil vor einigen Jahren, nachdem die SARS-Epidemie abgeklungen war, Pharmaunternehmen die wissenschaftliche Forschung, um ein SARS-Impfstoff herzurstellen eingestellt haben. Anscheinend war es nicht rentabel genug. Wenn der SARS-Impfstoff in diesen Jahren hergestellt worden wäre – durch die 80% genetische Ähnlichkeit von SARS und Corona – könnte die Grundlage für einen Corona-Impfstoff bereits heute vorhanden sein. Aber die Mehrheit der Gesundheitssysteme weltweit, heruntergewirtschaftet und immer stärker privatisiert, sind auf Profite von Krankenhausbetreibern und Pharmaunternehmen ausgerichtet.

Während hochkritischen Phase der dann noch Coronaepidemie (und nicht -pandemie), hat die iranische Fluggesellschaft Mahan Air ihre Passagierflüge nach China nicht eingestellt. Im Gegenteil kam es zu einer Intensivierung der Flüge von und nach China. Im Grunde wurde nach chinesischem Modell vorgegangen, denn in China traten die ersten Fälle des neuartigen Virus bereits im Dezember in der Provinz Wuhan auf. Die chinesische Regierung verheimlichte dies jedoch. Selbst Wochen nach der Meldung des Virus wurden noch Touristenfestivals durchgeführt. Währenddessen verhaftete die chinesische Regierung Whistleblower (insbesondere Krankenhauspersonal) unter dem Vorwand der „Verbreitung von Gerüchten“ und der „Störung der öffentlichen Meinung,“ bis die Katastrophe ihr unkontrollierbares Niveau erreichte. Im Iran passierte genau das gleiche.

Der theokratische „Gottesstaat“des Irans und die ökonomische Wichtigkeit religiöser Beiträge und Spenden an Bonyads (gemeinnützige, also steuerbefreite Stiftungen der öffentlichen Wohlfahrt sowie zur Unterstützung von Wissenschaft, Kunst und Kultur), spielten dabei eine zentrale Rolle. Die heilige ideologische Schiitenstadt Ghom (eine Hochburg der schiitischen Kleriker, etwa 125 Kilometer südwestlich von Teheran), in der mehr als 600 theologische Studenten aus China an Seminaren in Hawsa (schiitische Universitäten) studieren, von denen mutmaßlich einer das Virus eingeführt hat, wurde zwar als Risikogebiet eingestuft, aber die iranische Regierung stellte nichts und niemanden unter Quarantäne. Die ersten beiden SARS-CoV-2-Fälle im Iran wurden in Ghom bekannt. Beide starben auch dort. Die Behörden hielten den dortigen Fatima-Massumeh-Schrein gleichwohl geöffnet, der rund um die Uhr und an jedem Tag der Woche von Menschenmengen besucht wird, die die Heiligtümer mit den Händen berühren und küssen.

„Der religiöse Beiname der Stadt – ‚das Heim des Propheten und seiner Familie‘ – sollte Gläubigen weltweit versichern, dass sie vor Epidemien und anderen Katastrophen geschützt“ sind, so Mehdi Khalaji, der in Ghom Theologie studiert hat und heute am Washington Institute for Near-East Policy tätig ist.

Da die Pilger*innen dort aus fast allen schiitischen Städten der Region kommen, ist das Virus so massenhaft verbreitet worden. Der Iran ist nach China und Italien am stärksten von Coronakrise betroffen. Aktuell sterben täglich 30 bis 40 Menschen daran. Etwa neun von zehn Infektionsfällen in Westasien sind aus dem Iran. Mehr als 18.000 Infektionen und über 1284 Todesfälle sind bis gestern offiziell gemeldet worden. Allerdings enthalten die Zahlen lediglich die durch Corona nachgewiesenen Todesfälle und nicht Todesfälle mit Lungenerkrankungen, bei denen die Patient*innen nicht auf das Virus getestet wurden. Es wird aber befürchtet, dass die tatsächliche Zahl der Infektionsfälle viel höher liegt und die Islamische Republik die tatsächliche Zahl der Infektionen und Todesopfer verheimlicht. Die Krankenhäuser sind überlastet und es mangelt an medizinischen Verbrauchs- und allgemeinen Virustest-Materialien. Bis jetzt sind dutzende Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen am Coronavirus gestorben.

Das iranische Neujahr im Schatten eines Virus, imperialistische Sanktion und Massengrab

Am heutigen 20. März steht das kurdisch-iranische Neujahrsfest Newroz an. Normalerweise ist Newroz für Iraner*innen und die anderen Völker des Landes eine Hauptreise- und Besuchszeit. Dieses Jahr sieht aber alles anders aus. Ein ungewöhnlicher Jahresanfang im Schatten des Covid-19-Virus mit Reiseverboten, Quarantäne, Bestrafung und Militarisierung des Landes. Der Repressionsapparat des Staates wird bei Autofahrer*innen auf den Landstraßen Fiebermessungen vornehmen. Weder Hotels noch private Unterkünfte dürfen Zimmer an Reisende vermieten. Wer das dennoch tut, dem droht eine Bestrafung. Der Corona-Ausbruch trifft Irans Tourismusbranche knapp einen Monat vor dem Neujahrsfest „Newroz“ hart. Deren Umsätze sind nach dem Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine Anfang Januar mit 176 Toten eh schon um 70 Prozent eingebrochen. Weder die Schulen noch die Universitäten werden wie geplant Anfang April geöffnet. Betriebe, Fabriken und öffentlichen Dienstleistungen bleiben aber ohne jeglichen Schutzmechanismen weiter geöffnet. Die Reinigungskräfte auf den öffentlichen Straßen – meistens Immigrant*innen aus Afghanistan– verfügen nicht über Masken und oder Desinfektionsmitteln.

Nicht nur die Inkompetenz und Vernachlässigung des islamischen kapitalistischen Regimes bei der Coronakrise, sondern die imperialistische Sanktionen machen die Lage im Iran äußerst dramatisch. Eine Verschärfung der Rezession, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und die verstärkte Verarmung Tausender Menschen werden befürchtet. Die Menschen im Iran kaufen schon jetzt nur das Nötigste ein. Nicht alle werden den Virus und die Sanktionen der USA und der EU überleben. Wegen letzterer fehlt es an medizinischen Hilfsmitteln. Viele kranke Menschen sind in letzten Jahren aufgrund der Knappheit von lebenswichtigen Medikamenten zur Behandlung etwa von Krebs, Herzbeschwerden, Multipler Sklerose, Bluterkrankheit, Nierenleiden, Grippe und Immunschwäche gestorben. Selbst einfache Betäubungsmittel für Operationen sind rar geworden. Verstärkt wurden die Probleme noch durch den dramatischen Fall der iranischen Währung durch die imperialistische Unterwerfungspolitik und die Verschlechterung der Wirtschaftslage unter dem Kommando des Internationalen Währungsfonds (IWF), die den Import von Medikamenten und die zu ihrer Herstellung benötigen Rohstoffe verteuert. Die Lage ist so ernst, dass der Iran seit der Gründung der islamischen Regierung 1979 zum ersten Mal den IWF um einen Kredit in Höhe von 4,5 Miliiarden Euro gebeten hat.

Sind alle im Iran gleich von Corona betroffen?

Irans Vize-Gesundheitsminister erklärte vor ein paar Wochen bei einer Pressekonferenz, dass „die iranische Regierung die Coronavirusausbreitung unter Kontrolle hat“. Ein Tag danach wurde mitgeteilt, dass er selbst erkrankt ist. Solange nur einige wenige Regierungsmitglieder vom Coronavirus betroffen waren, hat die Regierung die Situation komplett verharmlost. Unter Zehntausend Infizierten und mehr als tausend Toten vom Virus sind weniger als zehn Regierungsmitglieder von Corona betroffen. Das macht deutlich, dass alles im Kapitalismus ohne Ausnahme in Verbindung zur Klassenzugehörigkeit steht, auch die Betroffenheit vom Virus. Die Arbeiterklasse bezahlt für diese Krise, während die herrschende Klasse kaum vom Virus betroffen ist, da sie Zugang zu allen Medikamenten und adäquater medizinischen Versorgung, wie privaten Krankenhäusern hat. Sie sind außerdem nicht dazu gezwungen, unter prekären unhygienischen Arbeitsbedingungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Sie werden in der Quarantänezeit in ihren Palästen das Leben genießen, bis es alles vorbei ist. Arbeiter*innen und Bäuer*innen werden die Hauptopfer des Coronavirussein – und das nicht nur im Iran.

Im Iran leben viele verarmte Menschen in Peripherie von großen Metropolen wie der Hauptstadt Teheran. Teilweise sind sie von geschützten Wohnräumen ausgeschlossen. Viele, vor allem die geflüchteten Menschen aus Afghanistan sind Slum-Bewohner*innen, oft in die „Illegalität“ gezwungen, denn selbst nach Jahrzehnten im Iran, sogar in der zweiten und dritten Generation, haben sie keinen Aufenthaltstitel und keine demokratische Rechte. In den Regionen, wo unterdrückte Nationen wie Araber*innen, Balutsch*innen, Kurd*innen usw. leben, ist die Infrastruktur unzureichend. Vor allem Krankenhäuser werden von der iranischen Zentralregierung systematisch schlecht versorgt; wenn es diese dort überhaupt gibt.

Ein anderes Beispiel für das in den Augen der iranischen Regierung weniger lebenswerte Leben unterdrückter Nationen, ist die Lage der Menschen im besetzten Teil von Kurdistan (Rojhelat). Zwei Jahre sind seit dem Erdbeben in Sarpul-Zahab in Rojhelat vergangen, und die meisten Überlebenden des Erdbebens leben immer noch in Containern und in Zelten, in einer Region, wo bitterkalt wird und zwar ohne jegliche Schutzmechanismen gegen Corona. Die Zugehörigkeit zu den unterdrückten Völkern und die Klassenzugehörigkeit sind entscheidende Faktor im Iran, um die Möglichkeit zu haben das Coronavirus zu überleben.

Streiken, um zu überleben

Was jedoch Mut macht, ist, dass die Arbeiter*innen in zahlreichen Bereichen die Arbeit niedergelegt haben und gegen die Vernachlässigung der Regierung und der Bosse, die keine Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Coronavirus ergriffen haben, protestieren. Die Straßenkehrer*innen in mehreren Städten oder auch die Arbeiter*innen der Qazvin-Glasfabrik gehören zur Avantgarde der aktuellen Arbeiterbewegung im Land. Letztere schreiben folgendes:

Leider ist die Fabrik seit dem Ausbruch des Corona-Virus weiter aktiv, anstatt, dass die Besitzer sie vorübergehend schließen und andere Maßnahmen für unsere Gesundheit zu ergreifen. Die Arbeiterfahrten werden weiterhin mit dem Bus durchgeführt, eine Fahrt, die eine Stunde von Qazvin nach Farsjin dauert und umgekehrt genauso. Die Arbeiter sitzen dicht an dicht. Das ist eine ernsthafte Bedrohung für uns. Die einzige Maßnahme, die vom Unternehmen ergriffen wurde, war ein Fiebermessen im Bus und vor dem Betreten des Unternehmens, um Verdachtsfälle unter Quarantäne zu stellen. Ein paar von unseren Kolleg*innen stehen unter Verdacht, infiziert zu sein, da sie Fieber hatten. Trotzdem bleibt die Fabrik offen.

Am vergangenen Donnerstag riefen die Eisenbahner*innen zu einem Generalstreik der Eisenbahner*innen auf. Sie schreiben:

Das Leben der Arbeiter ist jetzt aufgrund der Ausbreitung des Corona-Virus und der mangelnden medizinischen Versorgung durch Vernachlässigung der Eisenbahnbeamten sowohl in Eisenbahn-Fabriken als auch in allen Bereichen der Eisenbahn gefährdet. Wir werden nicht bezahlt und können es uns nicht leisten, Masken und Desinfektionsmittel für uns und unsere Familien zu kaufen. Monate zuvor wurden 7.000 Eisenbahnarbeitern unbefristete Verträge versprochen, aber bisher wurden keine Maßnahmen ergriffen […]. Aus diesen Gründen treten wir ab Freitag in den Streik, um unsere Forderungen zu erreichen.

Die Hoffnung koordinierter Aktionen der Arbeiterselbstorganisierung bleibt.

Narges Nassimi ist kurdische Marxistin und lebt in München.

#Titelbild: Skyline von Teheran Von Amirpashaei – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Collage: LCM

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Corona heißt das Thema. Was denn sonst?! Man kriegt es ja nicht aus dem Kopf. Alle reden darüber, das Internet ist voll davon, TV und Presse sowieso. Die Krise schlägt auf alle Lebensbereiche durch, ist überall spürbar, keine und keiner kann ihr entgehen. Es ist verblüffend, wie schnell man sich an Situationen und Bilder gewöhnt, die einem gestern noch völlig grotesk erschienen wären. Dass im Bus zwischen den ersten beiden Bänken ein Kreuz aus Flatterband hängt, um den Fahrer zu schützen und man ungestraft schwarz fahren kann. Dass sich im Discounter in diesem reichen Industrieland Lücken in den Regalen auftun. Dass Leute, die sich auf dem Markt unterhalten, eineinhalb Meter voneinander entfernt stehen.

Irgendwie fühlt sich der Alltag surreal an. Die Ereignisse überstürzen sich, man kommt nicht mehr hinterher. Die Stimmung auf den Straßen changiert zwischen autofreiem Sonntag, WM-Endspiel und Apokalypse. Sie erinnert an eine Atmosphäre, wie sie Katastrophenfilme der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vermitteln, zum Beispiel „Der Tag, an dem die Erde Feuer fing“. Auch als Linke*r kann man sich diesem Sog nicht entziehen. Die Position des analysierenden Beobachters am Rand der Gesellschaft, lässt sich schwer aufrechterhalten.

Dabei ist gerade jetzt kritische Distanz gefragt, in einer Zeit, in der sich hehre Appelle zum gesellschaftlichen Zusammenhalt häufen, in der überall von Solidarität geredet wird. Es ist Misstrauen angebracht, wenn den Leuten auf allen Kanälen erklärt wird, dass sie jetzt zusammenstehen müssten. Hashtags lauten #miteinanderstarksein. „Helden des Alltags“ werden bejubelt. Menschen klatschen auf Balkonen, um sich bei den Helfer*innen in der Krise zu bedanken. Die bürgerlichen Leitmedien singen das hohe Lied auf die Demokratie, die sich in der Pandemie erst wahrhaft bewähre.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sind Nachbarschaftshilfe und Gemeinsinn das Gebot der Stunde. Aber das ist etwas, was in dieser Gesellschaft regelhaft von unten erzeugt und organisiert werden muss, aus privatem Antrieb. Wir sollten nicht vergessen, dass die politische Rede von der Gemeinschaft, das Erzeugen eines großen Wir-Gefühls, was in dieser Krise offensichtlich angesagt ist, dass das in diesem System noch immer dazu genutzt wurde, soziale Gegensätze und politische Defizite zuzudecken. Vor allem aber sollte klar benannt werden, dass Solidarität das Gegenteil von dem ist, was die innerste Triebkraft des Kapitalismus ist.

Wie verlogen ist es etwa, wenn sich Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hinstellt und von Gemeinschaft fabuliert. „Die Corona-Krise fordert uns heraus“, barmte er in einem Interview. Und weiter: „Wir haben es in der Hand, ob die Solidarität nach innen und außen die Oberhand gewinnt – oder der Egoismus des Jeder für sich.“ Das sagt der Mann, der zu den Architekten der Agenda 2010 gehörte, die eine Aufkündigung der Solidarität mit den Abgehängten bedeutete, wie sie deutlicher nicht ausfallen konnte und Hunderttausende in noch schlimmere Armut gestürzt hat.

Dasselbe Wortgeklingel kam von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die zum ersten Mal überhaupt jenseits ihrer Neujahrsansprachen zum Volk sprach. Ihre wenig konkrete Rede triefte nur so von Pathos. „Jeder wird gebraucht“, hieß es da, „Niemand ist verzichtbar“, „Es kommt auf jeden an“ und so weiter. Von Gemeinschaft sprach sie, von Rücksicht, von „gemeinsamen solidarischen Handeln“. Es war so eine Art Billigversion der berühmten „Blood, sweat and tears“-Rede von Winston Churchill, die der britische Premier 1940 hielt, also im Zweiten Weltkrieg.

Aus dem Mund von Politiker*innen wie Steinmeier und Merkel sind solche Statements verlogen und heuchlerisch, denn diese Leute verkörpern ein System, das auf Profitgier, Egoismus und Rücksichtlosigkeit aufgebaut ist. Sie vertreten eine Politik, die eine dauerhafte und tiefgehende Spaltung der Gesellschaft forciert hat und auch weiterhin forcieren wird. Die wichtigsten Grundregeln des Kapitalismus heißen: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „Jeder ist sich selbst der Nächste.“ Was derzeit an Nachbarschaftshilfe auch von Links organisiert wird, ist begrüßens- und lobenswert. Aber es geschieht sozusagen gegen den Trend, eben nicht im Einklang mit den kapitalistischen Imperativen, sondern prinzipiell im Widerspruch zu ihnen.

Das Gerede der Politiker*innen vom Zusammenhalt ist auch deshalb hohl, weil vermutlich auch in dieser Krise wieder die unter die Räder kommen, die ohnehin schon arm dran sind. In den Großstädten schränken zum Beispiel immer mehr Einrichtungen der Obdachlosen- und Drogenhilfe ihre Angebote ein oder schließen gleich ihre Tore. Wer kümmert sich denn dann um Obdachlose und Suchtkranke, die wegen ihres schlechten Gesundheitszustands und ihrer Lebenssituation zu den Hochrisikogruppen gehören. Und wer denkt zum Beispiel darüber nach, dass viele, die sich bisher mit Betteln in S- und U-Bahnen über Wasser gehalten haben, in den leeren Bahnen keinen Schnitt mehr machen. Oder über die Flaschensammler, die kein Pfandgut mehr finden, weil das Nachtleben zum Erliegen kommt.

Stattdessen sind die Medien voll mit Ratschlägen von Verbraucherschützer*innen und Rechtsexpert*innen für materiell abgesicherte Mittelschichtler*innen. Ob man die Urlaubsreise storniert bekommt, wird da debattiert, oder ob die Konzertkarte erstattet wird. Das sind verdammte Luxussorgen! An dieser Stelle zeigt sich wieder in aller Deutlichkeit die Spaltung dieser Gesellschaft: Für die einen geht es um die Existenz, für die anderen darum, wie sie im „Homeoffice“ klar kommen oder was man am Wochenende unternehmen soll, jetzt wo Clubs, Diskotheken und Bars geschlossen haben.

Der Kapitalismus zeige jetzt seine Leistungsfähigkeit in der Bewältigung von Krisen, ist zu hören, und er zeige auch sein „menschliches Antlitz“. Aber der Kapitalismus hat kein menschliches Antlitz – das Solidaritätsgelaber ist nur Schiebekulisse für solche Fälle wie die Corona-Pandemie. Und darum sollten auch die Warnungen von Leuten wie Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, gehört werden.

Wie einige andere auch hat Jelpke zu recht darauf verwiesen, in der jungen Welt vom 19. März, mit welch beängstigender Geschwindigkeit derzeit Bürgerrechte eingeschränkt werden. „Wir erleben Grundrechtseinschränkungen in einem Ausmaß wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“, schreibt sie. Mit Verboten und Geboten greife der Staat massiv in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger ein, selbst privateste Bereiche – Besuche bei Angehörigen in Pflegeheimen, Hochzeiten und Beerdigungen – seien betroffen. Jelpke zweifelt nicht grundsätzlich an, dass die angeordneten Maßnahmen aus gesundheitspolitischer Sicht notwendig seien. Nur dürfe eine freie Gesellschaft ihr Schicksal „weder in die Hände vermeintlich neutraler Experten legen noch blindes Vertrauen in die Regierung haben“.

Dass all diese Entwicklungen nicht geplant waren, bedeute nicht, so die Linke-Politikerin weiter, „dass die Herrschenden nicht sehr wohl ihre Lehren daraus ziehen“. Im Kampf gegen das Virus seien militärische Vokabeln üblich geworden, faktisch herrsche der „Verteidigungsfall“. Die Herrschenden sähen, „dass eine schwere Verunsicherung der Bevölkerung einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens für diktatorische Maßnahmen schafft“. Wir erinnern uns, dass es vor drei Jahren in Hamburg ein Treffen gab, bei dem die Behörden bereits einen nicht erklärten Ausnahmezustand durchexerziert haben. G 20 kam manchem im Herrschaftsapparat sicher wie gerufen, SARS-CoV-2 vielleicht ja auch.

#Titelbild: Computer-Simulation des Corona-Virus, Felipe Esquivel Reed, wikimedia commons, CC-BY-SA 4.0

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Das Gesundheitssystem in Chile ist größtenteils privatisiert. Die Versorgung der Bevölkerung ist nicht nur nicht sichergestellt, sondern für die meisten nicht erschwinglich. Angesichts der seit Oktober andauernden Proteste und den tausenden durch Polizeigewalt Verletzten, haben sich autonoma Sanitäterstrukturen gebildet, die die Verwundeten versorgen. Regina Antiyuta hat sie getroffen.

Jedes Mal, wenn ich auf die Straßen von Santiago gehe, um zu protestieren, wird mein Körper mit der solidarischen und subversiven Energie aufgeladen, die ihn überschwemmt. Ich sehe ein Volk, das nach so vielen Jahren der Unterdrückung und des erzwungenen Schweigens seinen Kampfschrei nicht mehr zurückhalten konnte. Wir haben uns gefunden und wir wollen uns nicht loslassen. Und so gehen die Chilen*innen jeden Tag, vor allem freitags, wenn eine große Versammlung stattfindet, auf die Straße, um Gerechtigkeit und den Sturz dieses neoliberalen Systems zu fordern, das uns in seiner extremsten und grausamsten Version während der Diktatur aufgezwungen wurde.

Die Solidarität auf der Straße zeigt uns unser Potenzial. Sie zeigt uns den unzerstörbaren Willen, unsere Würde wiederzuerlangen.

Einige Tage nach Beginndes Aufstandes begann sich die so genannte „Gesundheitsbrigaden“ zu bilden, Gruppen von medizinischen Fachleuten, die sich freiwillig organisierten, um den Verletzten zu helfen, die die brutale Unterdrückung der Demonstrationen durch den chilenischen Staat hinterließ. Viele sind in diesen Monaten im ganzen Land gebildet worden.

Viele von uns kamen mit ihren Rucksäcken mit Hilfsmitteln, aber es war nicht genug. Das hat uns auf die eine oder andere Weise mehr Sorgen bereitet. Man kam nach Hause und hat geweint, und sich wie eine Katze im Käfig gefühlt. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Angelegenheit zu professionalisieren. Als wir hier auf dem Platz waren, kamen wir eines Tages zusammen und diskutierten darüber. Wir beschlossen, eine Brigade zu bilden, die es ernst meint und die die Mindeststandards der Versorgung in jedem Krankenhaus erfüllt.

Die Brigade nahm Anfang November ihre Arbeit auf. Es begann mit zwei Personen, und heute sind es mehr als 60 medizinische Fachkräfte, Student*innen und andere Freiwillige. Sie verfügen über eine Sektion für physische Traumata, eine für Atmungsprobleme und eine Sektion mit Schildern, die Schutz bietet. Es war so viel Arbeit, dass sie anfingen, in wechselnden Schichten zu arbeiten, um Leute zu behandeln. Sie sind jeden Tag ab 17.00 Uhr da, bis niemand mehr auf der Straße ist. Und sie alle sind Freiwillige. Die Vorräte werden von der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Sie haben auch Bargeld gespendet bekommen, mit dem sie Schutzausrüstung wie Helme, Masken, Brillen usw. kaufen. Die enormen Spenden, die die Nachbar*innen für die „Brigada Zona Zero“ geleistet haben, haben ein Netzwerk geschaffen, um Hiflsmittel in Regionen zu senden, wo diese die nicht so gut zugänglich sind wie in Santiago.

Freitags, wenn mehr Menschen zur Plaza Dignidad kommen, erhalten wir mehr Spenden. Mehrere Brigaden kontaktieren uns über soziale Netzwerke, sagen uns, was sie brauchen, und wir stellen Kisten zusammen und lassen sie ihnen zukommen.

Seit dem Beginn der Bewegung bis heute gab es eine Veränderung bei den Patienten. Am Anfang gab es viele Schusswunden, das war die Hauptsache. Das mutierte später zu Verbrennungen durch das Wasser der Wasserwerfer. Es ist klar, dass es mit Chemikalien versetzt ist, aber wir wissen noch nicht welche, wie ich höre. Auch die Symptome derjenigen, die Tränengas eingeamtet haben, haben sich verändert. Viele Menschen, die in früheren Jahren an Demonstrationen teilgenommen haben, sagen, dass es nichts gibt, was sich mit dem vergleichen ließe, was sie heute einsetzen. Es gab recht komplexe Atemwegskrisen, die an Krankenhäuser überwiesen werden mussten. Die Atemwege waren vollständig verschlossen. Wir mussten uns sogar schon mehrmals gegenseitig behandeln.

In dieser Revolte zeigen wir alle, die wir auf der Straße sind unseren Widerstand. Es gibt viele Aufgaben, die für denjenigen da sind, der sie übernehmen will. Wir sehen die Leute aus der primera linea, die ihre Körper zwischen die repressive Polizei und die Menschen, die schreien wollen, stellen. Wir sehen Menschen, die diese Leute mit Materialien unterstützen. Wir sehen Leute, die Sprays mit selbstgemachten Mischungen dabeihaben, die helfen, die Symptome des Tränengases zu lindern. Wir sehen die Leute, die künstlerische Darbietungen machen, so dass das Bewusstsein ein aktiver Akteur der Revolution ist. Wir sehen diejenigen, die Lebensmittel an die Front bringen. Und so gibt es viele kleine Welten, die im Widerstand verwoben sind, und wir erzeugen eine rebellische Erinnerung.

Die Gesundheitsbrigaden bewegen sich zwischen all diesen gleichzeitigen Ereignissen, um die die stürzen aufzufangen und aufzurichten. Es gibt heute so viele Brigaden, dass wir uns glücklich schätzen, dass sie überall sind. Ich habe gesehen, wie inmitten eines Regens von Tränengasgranaten, Steinen und Schrotkugeln ein brigadista in wenigen Minuten zu einem Verletzten kommt, um ihn zu versorgen.

Ich habe auch gesehen, dass die Polizei vermehrt Angriffe auf ihre Posten verübt. Sie werfen Tränengasgranaten direkt auf ihre Stationen und durchnässen ihre Arbeitsmittel mit dem Wasserwerfer. Sie wollen nicht, dass die Opfer ihrer feigen Angriffe behandelt werden. Mehrere Brigadisten wurden durch Schrotladungen verwundet. Mehrere haben auch unter einer Gasvergiftung gelitten. In letzter Zeit haben sich die direkten Angriffe verstärkt. Am Freitag, dem 21. Februar, zerschlug ein Polizist den Helm eines Brigadisten mit dem Schlagstock und prügelte einen anderen bewusstlos, so dass er in das Regionalkrankenhaus von Concepción überwiesen werden musste. Sowohl in Santiago als auch in anderen Regionen wurden Brigadisten verhaftet.

Aber trotz all dem kehren sie jeden Tag zurück, um das Volk zu unterstützen. Denn wie sie mir mit großer Überzeugung sagten: “Die Motivation beginnt dort, in der Berufung. Wir sind hier, um uns um jeden zu kümmern, der verletzt wird. Das ist unsere Grundlage. Niemand soll Schaden davon tragen, weder in seiner psychischen noch in seiner physischen Integrität.“

#Titelbild: Brigadisten schützen Feuerwehr vor Übergriffen durch die Polizei, frentefotografico

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Fußball-Bundesliga: Hopp ist kein Opfer, sondern Teil des Problems

Nachdem Dietmar Hopp bei einem Fußball-Bundesliga-Spiel zwischen der TSG Hoffenheim und dem FC Bayern München beleidigt wurde, wurde erstmals ein Bundesligspiel wegen Äußerungen von Fans fast abgebrochen. Henri, aktiver Kurvengänger und -aktivist, analysiert, dass das mit Herrschaftsverhältnissen zu tun hat nicht mit „Diskriminierung“ von Hopp.

Gerade zwei Wochen ist das „Skandalspiel“ der TSG Hoffenheim gegen den FC Bayern München her, da trifft den Fussballbetrieb ein weiteres Novum. Die Spiele werden, wo sie nicht ganz abgesagt werden, vor leeren Rängen ausgetragen. Doch um Corona und seine Auswirklungen soll es hier nicht gehen. Die Fakten zu Spiel Hoffenheim-Bayern am 29.02.2020 dürften bekannt sein: Zwei Spruchbänder gegen Dietmar Hopp in der Kurve der Bayernfans. Das Spruchband der Schickeria lautete „Alles beim Alten: Der DFB bricht sein Wort – Hopp bleibt ein Hurensohn.“ Das von Red Fanatic München „Du Hurensohn“ (D und H jeweils hervorgehoben). Was folgte war ein neuartiges Verhalten der Spieler und Funktionäre und eine aufgebrachte Debatte um die Deutung der Ereignisse.

Die Besonderheit der Ereignisse war, dass das laufende Spiel, das Herzstück des modernen Fussballgeschäfts, nicht nur zweimal unterbrochen wurde, sondern nach der zweiten Unterbrechung die 22 aktiven Spieler auf dem Platz in einen Streik traten und sich 15 Minuten lang den Ball gegenseitig zuschoben. Sexistische Spruchbänder, antisemitische Sprechchöre, rassistische Rufe, nichts hält den Lauf des Spielbetriebs auf, niemals darf der Fussballzirkus pausieren. Doch diesmal traf es eben nicht diskriminierte Menschengruppen, noch gab es überhaupt eine diskriminierende Handlung. Vielmehr wurde einer der Eigentümer und Funktionäre des Fussballs kritisiert, für den jedoch offensichtlich andere Regeln gelten. Doch wie konnte es so weit kommen?

Fankurven vs Vereine

Aktive Fankurven sind schon lange in einer permanenten Auseinandersetzung mit den Betreibern der Stadien und Veranstaltern der Spiele, namentlich den Fussballvereinen. Es geht um vieles: Um eine selbstverwaltete Kurve, Meinungsfreiheit, Kartenpreise, Anstoßzeiten, Vermarktung, Mitgliederstruktur der Vereine auf der einen Seite. Den Eigentümern und Funktionären der Vereine andererseits sind jedoch diese kritischen Meinungen ein Dorn im Auge. Sie hätten gerne ein reiches, meinungsloses, unpolitisches und unkritisches Publikum, das Fussball konsumiert und sich weiter nicht engagiert.

Spruchbänder sind neben organisiertem Stimmungsboykott das Mittel Nummer Eins in der Auseinandersetzung um politische Fanangelegenheiten. Sie sind ein Mittel, Meinungen kundzutun, ob dies den ökonomischen Verwaltern des Fussballs passt oder nicht. Schon jetzt ist es mehr Regel denn Ausnahme, dass Spruchbänder unerlaubt gezeigt werden müssen, weil sie nicht einmal mehr angemeldet werden können. Die freie Meinung hat eben in einem Fussballstadion nichts verloren. Bei besagtem Spiel am 29.02.2020 gab es jedoch ein Novum. Der Spielbetrieb selbst wurde unterbrochen, um dem Spruchband den Raum zu nehmen.

Doch das allein erklärt nicht die ganze Absurdität der Ereignisse. Wäre das Spruchband tatsächlich ein diskriminierendes Spruchband gewesen,… Wäre. Hätte. Könnte. Doch langsam. Ja, die Beleidigung „Hurensohn“ ist sexistisch und deshalb diskriminierend. Eine Abwertung von Frauen, insbesondere Frauen, welche als Sexarbeiterinnen tätig sind. In einer patriarchalen Gesellschaft gilt „Hurensohn“ eben als Beleidigung, in den Stadien der Bundesliga tausendfach gerufen. Dieses Mal hat es aber den Milliardär Dietmar Hopp getroffen, der mit der Software-Firma SAP reich geworden ist und teile seines abgeschöpften Milliardenprofits in die TSG Hoffenheim steckt. Und dann ist alles anders. Karl-Heinz Rummenigge sah jedoch in den Fans das “hässlichen Gesicht des Fußballs” und sagte: “Ich schäme mich zutiefst, aus Sicht des FC Bayern, für diese Chaoten.”

Und hier beginnt der ganze Wahnsinn erst richtig. Weil sich die weißen, deutschen Männer, die reichen und angesehenen Funktionäre und Profis gemeinsam mit Hopp angegriffen fühlen, meinen sie, geschlossen dagegen vorgehen zu müssen. Und was gibt es besseres als in einer Zeit, in der tatsächlich Sexismus, Rassismus und Antisemitismus zunehmen, sich reaktionäre und faschistische Bewegungen im Aufschwung befinden, sich selbst als Opfer von Hass und Hetze zu inszenieren. Was sich dort auf dem Rasen abspielte, ist ein geschicktes Manöver der herrschenden Klasse, in diesem Fall der Fussballindustrie und ihrer Handlanger. Ob es dabei einen abgesprochenen Plan gab oder nicht, spielt keine Rolle. Vielmehr ist die Tatsache von Bedeutung, dass eben so und nicht anders reagiert wurde.

Um die Kritik an den Praktiken der Eigentümer und Verwalter des Fussballs zu unterbinden, wurde diese Kritik als Diskriminierung dargestellt. „Ist das der Fußball, den wir wollen? NEIN! Gebt Hetzkampagnen, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und allen anderen Anfeindungen keine Chance. Aus Liebe zum Spiel! Für mehr Toleranz in unserer Gesellschaft!“ twitterte Bayern-Profi Thomas Müller in Folge das Spieltages. Als sei Dietmar Hopp zu beleidigen, weil er die Durchkapitalisierung des Fußballs wie andere auch vorantreibt und autoritäre Maßnahmen gegen kritische Fans durchsetzt, das gleiche, wie Menschen rasssistisch, antisemitisch oder homophob zu diskriminieren. Und während sich die Herrschaften sich inszenieren und als große Vorkämpfer von Demokratie und Menschenrechten lobpreisen, sind es im Grunde sie, die sämtliche Werte einer offenen Gesellschaft mit Füßen treten, von rechtsstaatlichen Prinzipien ganz zu schweigen. In den Worten des Mainz-Trainers Achim Beierlorzer heißt das dann: „Man sollte diese Menschen aus dem Block ziehen. Den Block absperren, rein, raus – Ende. Nie mehr Stadion plus alles, was gerichtlich geht.“ Man sieht, der herrschenden Klasse dieser Gesellschaft ist nichts zu schade, um ihren Herrschaftsanspruch zu verteidigen.

Moderner Fussball

Dass sich die Fußball-Bourgeoisie genötigt sieht, so gegen organisierte Fans vorzugehen, hängt mit den Entwicklungen im europäischen Profifußball zusammen. In der kapitalistischen Marktwirtschaft hat jeder Verein seine eigenen ökonomischen Grundlagen zu sichern und steht somit nicht nur sportlich, sondern auch auch wirtschaftlich den anderen Vereinen als Konkurrent gegenüber. Spieler wechseln zum Meistbietenden, das Ausmaß der Jugendförderung, die Zahl der Mitglieder und Zuschauer*innen, die Einschaltquoten, usw. – all dies steht für den wirtschaftlichen Wettbewerb, der stattfindet, noch bevor überhaupt ein einziges Spiel ausgetragen wird.

In diesem marktwirtschaftlichen Umfeld ist jeder einzelne Verein von Sponsoren, Werbeeinahmen, Übertragungsrechten und Investoren abhängig. Und deren steigende Macht und Profitinteresse führen zu einigen allgemeinen Tendenzen: Die Vermarktung der Vereine als Ware (Merchandise, Werbung und der Kampf um Märkte auf der ganzen Welt). Die Professionalisierung der Vereine zu Wirtschaftsunternehmen (Verwertung der Spieler, der Spiele, des Stadionerlebnisses, der Übertragungsrechte, usw.). Die Reglementierung, Überwachung und Verwertung der Stadien und insbesondere der Kurven (Verstärkte Videoüberwachung, Einlasskontrollen, Polizeipräsenz, Repression, Stadionverbote, Eintrittspreise, Arenacard, usw.). Ausbau der Lobbyarbeit der wirtschaftlich stärksten Vereine und Fussballfinanziers (Bestimmung der Ausrichtung der Spieltage anhand von Vermarktungsrechten, Präsenz der Polizei, Dominanz in Politik, Presse und Medien, usw.).

Gegend diese stetige Entwicklung des gesellschaftlichen Fussballs zum kapitalistischen Unterhaltungsspektakel gab seit Beginn Protest. Meist ausgehend von den Kurven, organisieren sich häufig große Teile der Fanlandschaft für die Anliegen der einfachen Fussballfans. Die Palette des Widerspruchs ist dabei ebenso breit wie das Ausmaß der kommerziellen Verwertung des gesellschaftlichen Fussballs. Jedoch sind die Widersprüche immer größer geworden, haben sich die Interessen mehr und mehr auseinanderentwickelt und sind kaum mehr in Einklang zu bringen. Die Geschehnisse vom 29.02.2020 müssen auch in diesem Kontext gesehen werden. Da der Widerstand der Fanbasis groß ist, die weitergehende Vermarktung des Fussballs jedoch mehr und mehr an seine Grenzen stößt und die europäischen Konkurrenzligen, im Gegensatz zur Bundesliga, schon seit Jahren für Investoren geöffnet sind, steht die deutsche Fussball-Bourgeoisie in Bedrängnis und wird jede Möglichkeit nutzten, den Konflikt mit den Fans zu verschärfen.

Dietmar Hopp steht exemplarisch für diesen privaten Kampf des Kapitals gegen die Fanbasis. Jeder, der ihrem Interesse, mit Fussball Geld zu verdienen im Wege steht, wird denunziert, verfolgt und verbannt. Erst heißt es „diese sogenannten Fans“, dann werden Kamerabilder ausgewertet und Kleidung analysiert und später sorgt ein Stadionverbot dafür, dass kritische Stimmen vor den Toren der Stadien bleiben. Hopp selbst hat bereits mit unzähligen Maßnahmen (Rechtsstreit, DFB-Gerichte, Beschallung, Belauschung)versucht, seine Kritiker*innen mundtot zu machen. Auf der anderen Seite gibt er sich medial als unschuldig und unwissend, was die bösen Fans von ihm denn wollen. An den Aussagen seines Anwalts lässt sich außerdem festmachen, an welche autoritäre Gesellschaft diese Herrschaften glauben. „Es muss zu Hausdurchsuchungen kommen, da muss man auch mal ein paar abgreifen und auch mal einen Tag in der Zelle lassen. Das hat sich immer bewährt“ Doch Hopp kann sich nicht nur auf die Unterstützung anderer Fußballkapitalisten verlassen (Tönnies, Mateschitz, Kind, usw.), sondern auch auf den Beistand strategischer Sympathisanten (Rummenigge, Hoeneß, Watzke, usw.), Teile der Profispieler selbst und sogar der Fans, die jedes Wort ihrer großen Vorbilder – aufbereitet durch die bürgerliche Presse – glauben..

Was zählt ist die Show

Was weiter erschreckt, ist wie das Skandalspiel medial insziniert wurde. In der Liveübertragung überschlugen sich die Kommentatoren mit moralischer Phrasendrescherei und beleidigten die „sogenannten Fans“ wegen ihrer vermeintlich menschenunwürdigen Beleidigung. Teile des Publikums im Stadion pfiffen die Kurve aus und stellten sich so symbolisch hinter die „protestierenden“ Spieler und Funktionäre. In den Fernsehshows und der Presse wird zwar hier und da darauf hingedeutet, dass die Reaktionen bei rassistischen Vorfällen bei weitem nicht so stark waren. Auf der anderen Seite melden sich dann aber Menschen wie Mario Basler bei Sport-1 zu Wort und phantasieren frei ihre autoritären und sexistischen Gelüste: „Du musst bezahlte Leute nehmen, die sich vor den Fanblock stellen. Du musst einem zwischen die Beine greifen. Das musst du einfach tun.“ Die herrschende Meinung wird in den herrschenden Institutionen eben gestärkt und nicht hinterfragt.

Und so schließt sich der Kreis und die Inszenierung auf dem Platz gewinnt an gesellschaftlicher Relevanz. Die herrschende Klasse schreibt ihre Narrative, weil die Gesellschaft auf ihre Pseudokritik hereinfällt und glaubt, was die hohen Herren sagen. Sie spielen so das Spiel genau jener, denen es sowieso um die Abschaffung der freien und offenen Gesellschaft geht. Sie stehen hinter all jenen, die notfalls mit Gewalt die herrschende Ungleichheit verteidigen und schmücken sich, in der Hoffnung niemand werde es bemerken, mit den hohen Werten von Freiheit und Gleichheit. Worum es aber in den Stadien wie in der Gesellschaft geht, ist das eigene Profitinteresse, das komme was wolle verteidigt werden muss, dabei ist jedes noch so verwerfliche Mittel recht. Und was heute in den Stadien funktioniert, wird morgen gegen andere, die sich gegen die Logik von Herrschaft und Kapitalismus stellen, in Stellung gebracht.

Perspektive

Wer sich herablässt, die Solidarität mit den Opfern von Diskriminierung zu missbrauchen, hat nichts anderes zu erwarten als Verachtung und Widerspruch. Diese Heuchler spielen ihr widerliches Spiel mit den wirklichen Opfern von Diskriminierung, den kritischen Fans und allen anderen, die für eine freie Kurve und Gesellschaft kämpfen. Dieses Verhalten kann weder geduldet noch unentschuldigt bleiben. Um solchem Verhalten einen felsenfesten Riegel vorzuschieben, gibt es perspektivisch nur einen Weg: Der Fussball muss in die Hände derer, welche ihn leben und lieben. Solange Kapitalisten und ihre Verwalter und Funktionäre den Fussball als ihre Plattform für Profit, Einfluss und Propaganda verwenden, wird sich nichts ändern. Dass sich diese Aufgabe nicht im Fussball allein lösen lassen wird, ist klar; es sind die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse, die aufgehoben werden müssten. Jedoch könnte eine kritische und solidarische Bewegung der Kurven und Fans wiederum einen Beitrag zu den notwendigen großen gesellschaftlichen Umbrüchen liefern.

# Titelbild: Stadion der TSG Hoffenheim, michaeltk, CC-BY SA 2.0

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