Seit der gesetzeswidrigen Aufhebung der Autonomieartikel des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir am 5. August 2019 herrscht dort der Ausnahmezustand. Am 31. Oktober 2019 wurde der Bundesstaat Jammu und Kaschmir in zwei föderale Unionsterritorienaufgeteilt, die vom indischen Parlament beschlossenen Verfassungsänderungen traten am 5. August ebenfalls in Kraft. Das Unionsgebiet von Jammu und Kaschmir hat zwei Abteilungen: Kaschmir-Tal und Jammu mit einer Bevölkerung von ca. 12,26 Millionen Menschen, wovon 68,8 % Muslime sind. Diese beiden neu entstandenen Unionsterritorien werden nun von zwei Vizegouverneuren, Girish Chandra Murmu und Radha Krishna Mathur, verwaltet. Beide sind dem indischen Innenminister mit Sitz in der Hauptstadt Neu-Delhi unterstellt sein. So hat die rechte hindunationalistische Regierung unter Premier Narendra Modi die mehrheitlich muslimische Region besser unter Kontrolle.
Das riesige Territorium Ladakh, eine Hochwüstenregion an der Grenze zu China, umfasst zwei Distrikte, Kargil und Leh, mit einer Bevölkerung von 274.289, davon 46,4 % Muslime und 39,65 % Buddhisten. Viele Menschen aus Ladakh, das kulturell, religiös und ethnisch anders als das Kaschmir-Tal ist, wünschen sich, dass ihr Land als separates Unionsgebiet anerkannt wird. Die beiden Distrikte Ladakhs wurden von sogenannten „hill councils“ verwaltet, wodurch sie mehr Autonomie als andere Teilen des Staates Jammu und Kaschmir hatten. Historisch betrachtet gibt es einen langjährigen Konflikt zwischen China und Indien um die Grenze in der Region Ladakh. 1962 verlor Indien einen kurzen Krieg mit China in Arunachal Pradesh, welches Indien unter seiner Kontrolle hat. China hingegen besitzt ein großes Gebiet namens Aksai Chin, das an Ladakh grenzt.
Das neue Unionsterritorium Jammu und Kaschmir hat eine eigene gewählte Versammlung mit einer fünfjährigen Amtszeit, jedoch keine eigene Verfassung und keine eigene Flagge mehr. Die meisten Befugnisse über diese Region liegen bei Neu-Delhi. Ladakh ist unter der direkten Verwaltung der Bundesregierung mit einem eigenen Vizegouverneur. Jammu und Kaschmir haben fünf Vertreter im indischen Unterhaus, während Ladakh einen Vertreter in das Parlament in Neu Delhi entsendet.
106 Bundesgesetze, einschließlich das indische Strafgesetzbuch, sind nun auf die Region anwendbar. Jammu und Kaschmir darf keine eigenen Gesetze zur Polizeiarbeit und zur öffentlichen Ordnung erlassen. Den Sicherheitsapparat übernimmt Neu-Delhi. Mehr als 150 Gesetze der Landesregierung wurden ebenfalls aufgehoben, sieben weitere Gesetze verändert. Das Verbot der Verpachtung von Land an Personen, die nicht in Jammu und Kaschmir leben, soll aufgehoben werden. Jede*r indische Staatsbürger*in darf nun Eigentum in Jammu und Kaschmir erwerben sowie andere staatliche Vergünstigungen erhalten. Menschen aus Jammu und Kaschmir befürchten, dass das zu einem Zustrom von außen und einem externen Aufkauf von Land führen wird. Nach dem lokalen Bildungsgesetz konnten Menschen in Kaschmir kostenlos Bildung von der Grundschule bis zur Universität genießen, jetzt wird das nicht mehr möglich sein. Des Weiteren dürfen indische Bürger sich für Arbeitsplätze in Jammu und Kaschmir bewerben, und Menschen, die in Kaschmir arbeiten, können auch in andere Orte Indiens versetzt werden. Auch ist noch nicht klar, welche offizielle Sprache in Jammu und Kaschmir gelten soll. Bislang war es Urdu, doch die indische Verfassung erkennt nur Hindi als offizielle Sprache an.
Gescheiterte Treffen
Die Neuordnung der ohnehin traditionell umkämpften Region schreckte auch Indiens Nachbarn auf. Der pakistanische Außenminister Shah Mahmood Qureshi wandte sich an die Vereinten Nationen und warnte, dass Indien Raketenwerfer in Kaschmir positionierte. Er befürchte, dass Indien einen Angriff auf Pakistan plant, um so die internationale Aufmerksamkeit von den Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir abzulenken.
China hat eine ursprünglich für den 17. Dezember geplante Diskussion des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen über die Situation in Kaschmir verschoben, weil die dortige UN-Friedensmission nicht bereit war eine kurze Erklärung abzugeben. Peking hatte am Tag zuvor um eine Geheimbesprechung gebeten, nachdem Shah Mahmood Qureshi an die UN geschrieben hatte. Die Friedensmission geht auf UN-Resolutionen zurück und soll den Waffenstillstand zwischen Indien und Pakistan überwachen.
Der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar wurde zudem am 20. Dezember zu einem Treffen mit Mitgliedern des Außenausschusses des US-Kongresses geladen, zu dem auch die demokratische Vorsitzende Pramila Jaypal gehörte. Letztere positioniert sich kritisch zur Situation in Kaschmir und unterstützt eine Resolution, die Indien unter Druck setzen soll, die Kommunikations- und Internetbeschränkungen in Kaschmir aufzuheben und die Religionsfreiheit zu respektieren. Jaishankar forderte den Kongress auf, Jaypal aus der Sitzung auszuschließen. Dies wurde abgelehnt, weshalb der Außenminister das Treffen abrupt absagte. Jaypal schrieb auf Twitter: „Die Absage dieses Treffens war zutiefst beunruhigend. Es fördert nur die Vorstellung, dass die indische Regierung nicht bereit ist, auf irgendeine abweichende Meinung zu hören.“
Weltwirtschaftliche Konstellation
Was ist tatsächlich zu beobachten? Die USA geben nach außen vor, „zu vermitteln“, unternehmen jedoch keine ernsthaften Schritte gegen Indien. Es sei „innere Angelegenheiten Indiens“ und man vermeidet eine Verurteilung. Die Vereinten Nationen versagen komplett und richten ihre Entscheidungen nach politischen und wirtschaftlichen Vorteilen der USA.
Indien ist ein wirtschaftliches Schwergewicht – und stellt so perspektivisch auch für die USA einen ernstzunehmenden Konkurrenten dar. Derzeit allerdings sind die USA ein Verbündeter Indiens und brauchen letzteres auch wirtschaftlich, sowie auch geopolitisch, besonders im Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China, der sich in den letzten Jahren verschärft hat. Auf beiden Seiten gab es gegenseitig Zollerhöhungen im Handelsstreit, die nun bei der ersten Teileinigung voraussichtlich teilweise zurück genommen werden. Der Handelskriegs hat in beiden Ländern das Wirtschaftswachstum verlangsamt und die gesamte Weltkonjunktur gebremst.
Doch im Juni 2019 gab es auch wirtschaftliche Konflikte zwischen Indien und den USA, nachdem Donald Trump Indien den Status als bevorzugter Handelspartner entzog und Zollerhöhungen für Stahl und Aluminium für diverse Länder, darunter auch Indien beibehielt. Indien reagierte nun mit Vergeltungszöllen auf 28 US-Güter, unter anderem Walnüsse, Mandeln und Äpfel. Dennoch sind Indien und die USA aufeinander angewiesen. 2018 verkauften die USA nach offiziellen Angaben Güter und Dienstleistungen im Umfang von 142,1 Milliarden US-Dollar an Indien. Demnach betrug das US-Handelsbilanzdefizit mit Indien 24,2 Milliarden US-Dollar. Handelsbeziehungen zwischen USA und Indien sind nach wie vor wichtig für beide Staaten und es besteht die Bereitschaft, Gespräche zu führen.
China steht in dem Konflikt um Kaschmir auf Seiten Pakistans und versucht dieses gegen Indien und die USA zu unterstützen. Pakistan würde einen möglichen Atomkrieg gegen Indien jedoch nicht wagen, da dieses mit den USA und anderen imperialistischen Staaten wie auch Deutschland Bündnisse pflegt. Zwischen Indien und China gibt es ebenso wirtschaftliche Konkurrenzkämpfe, wie sich das beispielsweise um die Vorherrschaft in Sri Lanka zeigt.
In dieser Situation ergibt sich für die USA kein Vorteil daraus, das Verhalten Indiens in Kaschmir zu kritisieren oder Sanktionen gegen Indien zu verhängen. UN-Friedenstruppen haben in Kaschmir nichts Nennenswertes geleistet.
Auch für Deutschland ist Indien ein wichtiger wirtschaftlicher Handelspartner. So hatte der bilaterale Handel zwischen Indien und Deutschland im Jahr 2018 ein Volumen von rund 18,2 Mrd. Euro in den ersten Monaten. Deutschland liegt als Abhnehmer indischer Waren an sechster Stelle, und als Lieferant auf Platz zehn. In der Rangfolge der deutschen Handelspartner steht Indien auf Platz 26 und bei Einfuhren auf Platz 27. Wenn Deutschland nun den Handel mit Indien stoppen würde, wäre dies ein immenser wirtschaftlicher Schlag für Indien und würde die indische Regierung tatsächlich unter Druck setzen. Deshalb ist eine ernstzunehmende Kritik und Handlung auch nicht bei Deutschland zu erwarten.
Potenzial der indischen Arbeiter*innenklasse
Am 12. Dezember verabschiedete die hindunationalistische Regierungspartei BJP ein umstrittenes Gesetz, den Citizenship Amendment Act (CAA), das von Präsident Ram Nath Kovind ratifiziert wurde. Bereits im August 2019 waren bereits fast zwei Millionen Menschen im Nordosten des Bundesstaates Assam aus dem Nationalen Bürgerregister (NRC) gestrichen und staatenlos geworden.
Das CAA ermöglicht zwar allen verfolgten religiösen Minderheiten wie Hindus, Sikhs, Christen, Buddhisten, Parisis und Jains aus den Nachbarstaaten Afghanistan, Pakistan und Bangladesch die indische Staatsbürger*innenschaft. Muslim*innen, Tamil*innen aus Sri Lanka, Ahmadiyyas und Schia aus Pakistan und Bangladesch sowie Hazaras aus Afghanistan und Rohingyas aus Myanmar sind davon aber ausgeschlossen. So hat dieses Gesetz in den letzten Wochen erhebliche Massenproteste ausgelöst, wobei es vor allem zwischen Student*innen und der indischen Polizei in Neu-Delhi zu gewaltsamen Zusammenstößen kam.
Analysen von Aktivist*innen wie Soumi Sarkar zufolge hat diese landesweite neue Protestwelle das Potenzial, die Machtverhältnisse im Land ernthaft zu verschieben und der indischen politischen Elite zu schaden. Die Proteste können nur erfolgreich sein, wenn sie sich von der politischen Elite und der Opposition lösen, die sich in dieser Situation völlig opportunistisch verhalten.
Denn es war auch die Opposition, die sich an der neoliberalen Politik beteiligt hat, die der BJP dazu verholfen hatte, an die Macht zu kommen. Die stalinistischen linken Parteien Indiens wie die Communist Party of India, (CPI), die Communist Party of India (Marxist), CPI(M), und die Mitte-Links-Kongresspartei unterstützen seit langem neoliberale Politik und haben Austeritätsprogramme umgesetzt, sowie Militärausgaben erhöht. Die BJP konnte die Wut der Massen über die Sparpolitik und die neoliberale Politik von liberalen und linken Parteien, vor allem der Kongresspartei nutzen, um mithilfe der indischen Bourgeoisie an die Macht zu gelangen und ihre rassistische hindunationalistische Agenda durchzuführen. Die Opposition nutzt die momentanen Klassenspannungen für ihre eigenen Vorteile.
In diesen Massenprotesten in Indien reicht es nicht aus nur gegen das CAA und NRC zu protestieren. Es muss auch für die Rechte und Freiheiten der Menschen in Jammu und Kaschmir und aller undokumentierten Einwanderer*innen eingestanden werden. Delhi hat im August 2019 Zehntausende Soldaten in die Region verschickt. Menschen in Kaschmir sind brutal in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und tausende Politikeren und Aktivist*innen sind weiter in Haft. Proteste und Zusammenstöße mit dem indischen Militär in Kaschmir haben zu zahlreichen Toten und Verletzten geführt. Allein letztes Jahr 2018 starben 400 Menschen durch staatliche Gewalt. Im August 2019 wurde der Internetzugang, kaschmirische Fernsehsender und das mobile Festnetz in Kaschmir blockiert. Menschen waren in ihren Häusern eingesperrt und konnten ihre Familien außerhalb Kaschmirs nicht erreichen und auch keine Sozialen Medien benutzen. Kaschmirische Zeitungen und politische Zeitschriften konnten nur sehr schwer über ihre eigene Lage publizieren. Jetzt im Januar 202 wurde die Internetblockade und der blockierte Zugang zum Festnetz nur teilweise aufgehoben. Der 10-seitige Bericht Kashmir Caged von dem solidarischen Team von indischen Aktivist*innen Kavita Krishnan (CPIML und AIPWA), Jean Drèze (Ökonom), Maimoona Mollah (AIDWA) und Vimal Bhai (NAPM) von 9. August bist 13. August verfasst wurde, beschreibt die verheerende Situation Kaschmirs im August 2019. Seit dem hat sich jedoch die Situation nicht groß verändert.
In Indien ist die Situation aktuell politisch höchst angespannt. In den Großstädten Indiens gibt es regelmäßige Massenproteste gegen die BJP-Regierung und Modi. Die momentanen Widerstände in Indien sind Teil eines weltweiten Aufstiegs von Arbeiter*innenkämpfen wie die aktuellen Massenproteste in Chile und Irak gegen den Neoliberalismus, in Frankreich gegen die Rentenreformen der Regierung, in Bolivien gegen den Putsch, in Sri Lanka gegen die neoliberale Politik der singhalesisch chauvinistischen Regierung. Die internationalen Kämpfe sind unterschiedlich und in ihren geografischen und sozio-ökonomischen Kontexten einzigartig, doch das global organisierte Kapital ist der gemeisame Feind.
Titelbild: KennyOMG Pahalgam Tal in Kashmir, CC-BY-SA 3.0