Unsere Genossin Regina Antiyuta berichtet derzeit für lower class magazine aus Chile, wo sich Hunderttausende seit Monaten gegen die neoliberale Regierung Sebastián Piñera erheben. In einem ersten Text schrieb die Autorin über die „primera linea“, die militanten Jugendlichen in der ersten Reihe der Demonstrationen, die die Proteste vor den Angriffen der Polizei schützen. Heute zeigt sie euch, was die chilenischen Wände sagen. Denn die Revolte setzt zugleich eine riesige Kreativität frei, die sich in den Straßen auf tausend Arten zeigt.
Die soziale Revolte, die derzeit Chile erschüttert, beendet so viele Jahre der Misshandlung in einer Scheindemokratie. Der Aufschrei, der mit den Studierenden in Santiago begann und sich auf das ganze Land ausdehnte, schrieb sich auch in alle Wände an und hinterließ auf ihnen alle Arten von Kunstwerken.
Es sind Botschaften der Wut, der Hoffnung und des Optimismus, überall in jenen Vierteln, in denen es zu Protesten kommt.
Das neue Gewand, in das sich die Straßen kleiden, hat nicht einen einzigen grafischen Stil, der es bestimmt. Was alle Verschiedenheit zusammenbringt, ist der politische Diskurs. Die Zeichnungen, Poster und Grafiken bilden das Bühnenbild der Proteste und widerspiegelt das kollektive Bewusstsein des Widerstands, das trotz aller Bemühungen der Diktatur, es zu zerschlagen, nicht verschwindet.
Die Sprache des Volkes erhebt sich und schreit in kurzen witzigen Sätzchen und tiefen philosophischen Reflexionen. Die populären Plakate wurden wiedergeboren, und obwohl sie nie ganz verschwunden waren, sind sie heute stärker als je zuvor. Hunderte von Stencils und Graffitis, Gedichten und Kunstinstallationen sind zu sehen.
All das existiert zusammen, weil ein und dasselbe Ziel geteilt wir: Dass die Zeugnisse des Kampfes sichtbar für die Augen werden. Wenn du mich ansiehst, wenn du mich liest, wirst du mich verstehen können.
Die Monumente der Kolonisatoren wurden abgeändert. Die unterdrückerische Elite stammt direkt von den Kolonisatoren ab. Im Süden, dem Land der Mapuche, schlugen die Menschen den Statuen die Köpfe ab und legten sie in die Hände der Statuen von Mapuche-Helden.
Kunstkollektive wie trimexcrew oder delightlab haben ihren Werkzeuge den gemeinsamen Bedürfnissen der sozialen Revolte unterstellt. Sie greifen Worte oder Themen von der Straße auf und projizieren sie großflächig auf symbolisch wichtige Gebäude.
Betreten wir die Wohnviertel der Oberschicht überschreiten wir die Grenze in eine andere Welt. Die tadellos sauberen Wände schweigen. Sie haben kein Bedürfnis, über die Leiden des Volkes zu sprechen, ganz so wie die Reichen selbst keines haben, über das zu reden, was sie der Arbeiter*innenklasse antun.
Aber der Schrei wird lauter. Viele haben ihn schon gehört. Die einzigen, die sich taub stellen, sind die in der chilenischen Regierung.
# alle Fotos: Regina Antiyuta