Arbeiterkinder auf Merkels Dachterrasse

27. Dezember 2019

Kristina Lunz ist ein „Arbeiterkind“, verrät sie uns in der liberalen Soll-man-Geflüchtete-ertrinken-lassen-Postille Die Zeit in einem langen Gastbeitrag über sich selbst. Lunz ist eine Vorzeigeproletarierin. „Vorzeige“ deshalb, denn wie die meisten medial inszenierten „Arbeiterkinder“ ist Lunz eines, das es „geschafft hat“.

Und natürlich, was könnte man als Arbeiterkind denn schaffen? Den Sozialismus erkämpfen? Ist die Kollegin Streikführerin? Nö. „Viele Jahre später bin ich die Erste in meiner Familie, die an die Uni geht; unter anderem nach Oxford, um Diplomatie zu studieren. Beim Abendessen drehen sich die Gespräche um Neoliberalismus und feministische Außenpolitik. Der Habitus der Leute, die mich plötzlich umgeben, ist mir fremd.“ Lunz, eine der Gründerinnen des „Centre For Feminist Foreign Policy“, ist ganz oben mit dabei: „Inzwischen fliege ich für den Job mit dem Außenminister nach Brasilien, Mexiko und Kolumbien. Ich habe Zugang zu exklusiven und elitären Netzwerken und bin Direktorin meiner eigenen Organisation. Empfänge sind im Bundeskanzlerinnenamt oder auf der Dachterrasse des Auswärtigen Amtes.“

Frau Lunz und ihre Selbstdarstellung sind ein Extremfall. Aber Stories wie diese sind es, die den massenmedialen Diskurs um „Arbeiterkinder“ ausmachen. Frau Lunz ist hier nur ein Beispiel für die Erzählung, die immer wieder bemüht wird: Das beste, was ein Arbeiterkind erreichen kann, ist „aufzusteigen“. Wohin? Na letztlich in jenen Apparat, der den Kapitalismus politisch wie propagandistisch absichert: In ein Ministerium, zur Manager*in in einem Konzern, zur Redakteur*in in einem der Konzern- oder staatlichen Medien oder zum Politprofi in einer der bürgerlichen Parteien.

Einmal aufgestiegen, erzählt man dann die eigene Story; wie die Mama noch putzen musste, während andere eine Rolex hatten. Heute hat man aber selbst eine Rolex, sogar als Arbeiterkind. Alle klatschen anerkennend, die zwei Euro für die Bezahlschranke haben sich gelohnt. Dass sich dabei nichts, aber auch gar nichts daran geändert hat, dass die einen eine Rolex haben und die anderen putzen müssen – who cares?

Vermittelt werden soll: Das Ziel eines „Arbeiterkindes“ muss sein, seinen „Aufstieg“ zu bewältigen, um irgendwann auch mal mitmachen zu können – sei es bei der ZEIT oder beim außenministeriellen Besuch beim Faschisten Bolsonaro. Das ganze „kritische“ Potential dieses American Dream für Deutsche erschöpft sich dann darin, andauernd zu bemängeln, es sei immer noch nicht genug „Chancengleichheit“ für diesen Aufstieg geschaffen. Irgendeine Analyse von Ausbeutungsverhältnissen (globalen sowieso schon mal gar nicht), irgendeine Einsicht in das miese Ganze dieses Systems, in dem wir leben, gibt es nicht – und soll es auch nicht geben.

Dieser Diskurs ist dabei nichts anderes als die nachholende Anwendung der liberalen Identitätspolitik eines bürgerlichen „Feminismus“ oder „Antirassismus“ auf den Klassenwiderspruch: So wie weltgewandte Liberale es als Erfolg inszenieren, dass auch queere Personen für die ekelhaftesten Konzerne dieser Welt arbeiten, auch Frauen Kriege anzetteln können oder der Befehlshaber der US-Drohnenschläge eine Zeit lang schwarz war, wird eben die Qualifikation „Arbeiterkind“ fürs Bewerbungsschreiben an den Kapitalismus gehyped – bis hin zur grauenhaften Idee, es sei irgendwie „links“, eine „Arbeiterkinder“-Quote in Konzernchefetagen zu fordern.

Es gab und gibt für Leute aus dem Proletariat, einer unterdrückten Ethnie, einem missachteten Geschlecht oder einer anderen diskriminierten Identität immer zwei Möglichkeiten: Sich mit seines- oder ihresgleichen zusammenzutun, um die drückenden Verhältnisse insgesamt umzustoßen; oder die Ellenbogen auszufahren und sich den Herrschenden anzudienen, damit man für die Buntheit und den Pluralismus des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium eine gutbezahlte Rolle als Feigenblatt spielen darf. Neu ist das alles nicht. Kurt Tucholsky nannte die Arbeiterverräter aus der Arbeiterklasse den „schlimmsten Feind“ und dichtete: „Der will nur in den Reichstag hinein / aus seinen eigenen Reihn, aus seinen eigenen Reihn.“

Im Unterschied zu Ländern der Peripherie existiert in den imperialistischen Metropolen eine gewisse, wenn auch geringe soziale Durchlässigkeit zum Einstieg zumindest in den ideologischen Apparat der herrschenden Klasse. Dass nun einzelne aus der Klasse sich für die Sitzplätze am Katzentisch der Macht bewerben, ist wenig verwunderlich. Die Krümel, die dort abfallen, sind eben am Ende immer noch saftiger als die Brösel, die wir anderen vom Boden auflesen.

Was wir aber beenden sollten, ist, so zu tun, als ob es sich dabei um irgendetwas Vorbildliches oder Anstrebenswertes handelt. Aus welchem Haushalt das Begleitpersonal für Heiko Maas‘ Kungeleien mit dem brasilianischen Arbeitermörder und Faschisten Bolsonaro kommt, ist nämlich erst mal eines: egal. Und diese identitätspolitischen Erzählungen über die „Arbeiterkinder“, die „es“ geschafft haben, ist nichts anderes als Massenverdummung darüber, was „es“ denn überhaupt sein soll, zu dem sich ein Arbeiterkind entwickelt. Dass es irgendwie gut sei, zu denen zu gehören, die sich zum wie auch immer fresh-modern-liberal-toleranten Dienstpersonal der Regierungen, Konzerne, bürgerlichen Medien oder Thinktanks emporkämpfen, können sich irgendwelche liberalen (Ex-)Arbeiterkinder gegenseitig erzählen, solange sie wollen.

Diejenigen, die aber nicht nur selber vorankommen, sondern überhaupt wollen, dass es keine Ausbeutung von Arbeiter*innen, keine Diskriminierung entlang von Geschlecht, Hautfarbe oder Ethnie mehr gibt, sollten auf diesen Narrativ ganz proletarisch einen riesigen Haufen scheissen.

# Anmerkung: Der Autor hält diese Information für völlig irrelevant, aber bekundet vorsichtshalber als Arbeiterkind in eine Arbeiterfamilie geboren worden zu sein und bis heute von ein paar Hundert Euro im Monat zu leben, mal von Texten, mal von Gelegenheitsjobs. Zudem bekundet er, noch nie das Bedürfnis verspürt zu haben, im Tross eines deutschen Außenministers zu reisen.

#Bildquelle, Titel: https://www.pxfuel.com/

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