„Wenn ich sterben muss, sterbe ich nicht auf den Knien“ – Chiles Jugend ohne Gesicht

20. Dezember 2019

Chile ist aufgewacht. Und es befindet sich im Kampf gegen eine Scheindemokratie, die zu nichts anderem diente, als das neoliberale Regime der Pinochet-Diktatur fortzuschreiben, um die Interessen der Unternehmereliten zu schützen. Jahrzehnte dauert die Ära nun an, in der einige Wenige auf Kosten der Bevölkerung reicher und reicher wurden. Auf Kosten einer Bevölkerung, die keinen Zugang zu den einfachsten Grundbedürfnissen hat, zu einer Gesundheitsversorgung, Bildung oder einem Rentensystem, das auch nur das Minimum für ein Leben in Würde garantiert.

Chile ist ein Land, das nach den Bedürfnissen der Oberschicht gestaltet ist. Die Oberschicht beschimpft die Armen als Faulenzer, die alles umsonst wollen. Und der chilenische Präsident, Sebastián Piñera, markiert die Massen als einen mächtigen und skrupellosen Feind. Dieser “Feind” aber ist niemand anderes als das Volk selbst, geschändet und verletzt nach Jahrzehnten der Misshandlung und Missachtung. Die, die er Feind nennt, sind die Ausgebeuteten und Vergessenen, gegen die die Kräfte der Ordnung eine grenzenlose Form der Gewalt anwenden. Gegen sie ist alles erlaubt.

Doch niemand ist mehr bereit, alles zu ertragen. Aus den Massen der Protestierenden löst sich eine Gruppe. Junge, oft sehr junge Frauen und Männer, die bereit sind alles zu geben, weil sie nie etwas hatten, das sie verlieren könnten. Ihnen kann Gewalt angetan werden, aber man kann ihnen nichts mehr wegnehmen.

„Wenn ich sterben muss, sterbe ich nicht auf den Knien, sondern stehend”, schwört eine*r der Jugendlichen. „Ich bin in einem Heim aufgewachsen und ich habe die Folter dort gesehen. Wir haben diese Misshandlungen satt. Um hier zu sein, in der ersten Linie, musst du ein Herz haben. Das macht nicht jeder. Hier, in der Kampfzone habe ich meine Familie gefunden. Die Jungs und Mädels hier sind meine Familie. Und wir werden es ihnen nicht leicht machen, uns umzubringen. Wer kämpfend stirbt, der lebt für immer, sagt man.“

Es ist eine Jugend ohne Gesicht, die ihre Körper und Namen dem Kollektiv überantwortet. Die Masse ermächtigt sich selbst zum revolutionären Subjekt. „Hier fällst du in den Straßenschlachten und ein anderer kommt und hebt dich auf“, sagt eine Demonstrant*in. „Du siehst ihn an und du weißt nicht, wer er ist. Du speicherst diese Erfahrung. Du hast jetzt Freunde, die kein Gesicht haben. Ich vertraue niemanden – außer ihnen.“

Ausgerüstet mit Steinen, Molotov-Cocktails, selbstgemachten Schilden, verziert mit den Slogans des verzweifelten Aufschreis eines Volkes, das die Erniedrigung nicht mehr ertragen kann, stehen sie Spezialkräften gegenüber, die ihre Gewalt ohne Rücksichtnahme und ohne jedes Protokoll einsetzen. Die Cops zielen mit ihren Anti-Riot-Gewehren mitten in die Gesichter; sie versetzen das Wasser der Wasserwerfer mit ätzender Natronlauge; und sie versuchen, den Protest in Unmengen an Tränengas zu ersticken, das stärker und stärker wird.

Wenn die Jugendlichen von der Riot-Polizei gefangen werden, bringt man sie in die Polizeistationen, um sie zu schlagen und zu foltern. Die Polizeistation ist eine Blackbox. Es wird nicht einmal registriert, wen man hingebracht hat. Niemand geht vor Gericht. Die Polizei nimmt den Aktivist*innen ihre Ausweise ab, schlägt sie, zieht sie aus, foltert sie mit Wasser und Strom, gegen den Körper, gegen die Genitalien. Sie schlagen sie mit Stöcken, um die nasse Handtücher gewickelt sind. Um keine Spuren zurückzulassen. Sie bedrohen sie mit dem Tod. Und wenn sie fertig sind, fahren sie die Geschundenen irgendwo in die Peripherie der Stadt, oft in die Wohnviertel der Oberschicht, und werfen sie aus dem fahrenden Auto.

Die Gequälten erstatten keine Anzeige. Sie fürchten die Todesdrohungen. Und sowieso, wer würde ihnen zuhören? Ihre Stimmen wurden nie gehört. Und sie werden heute nicht gehört. „Wenn sie uns schlagen, dann sind sie nie da, die Kameras und die Medien“, sagt einer von ihnen.

Doch das Versprechen, das sie dem Kampf gegeben haben, ist stärker als die Repression. Die Familie, die in den Straßen geboren wurde, ist stärker. Jeden Tag kommen die Menschen zu denen, die in der ersten Reihe kämpfen, und danken ihnen. Auf dem umbenannten Platz der Würde stehen die Mapuche Machis und sprechen Schutzgebete für sie. Denn dank der Jugend ohne Gesicht können auch wir anderen protestieren. Ohne sie könnten die Hunderttausenden nicht auf den Plaza Dignidad.

„Wir nehmen in Kauf, geschlagen zu werden, damit die alte Frau, die protestieren will, die Mutter und ihre Kinder, protestieren können“, sagt eine*r aus der ersten Reihe. „Das ist für Chile. Die Chance haben wir jetzt, sie wird so schnell nicht wiederkommen. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird nichts passieren. Und so kämpfen wir für die Kommenden, nicht für uns, denn wir haben nichts mehr.“

# Übersetzung: LCM

# Titelbild: @Caiozzama

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