Am 1. November 2019, rund drei Wochen nach dem Beginn der türkischen Invasion in Nordsyrien, war der kurdische Politiker Gharib Hassou in Dresden zu Gast. Hassou ist Co-Vorsitzender von TEV-DEM (Tevgera Civaka Demokratîk, Bewegung für eine demokratische Gesellschaft in Nordsyrien) und ehemaliger PYD-Außenvertreter im Autonomiegebiet der Kurdischen Regional Regierung im Nordirak. Das folgende Interview führten Sven Wegner, Wissam Abu Fakher und Ricaletto nach einer Diskussionsveranstaltung in der Evangelischen Hochschule.
Die Türkei greift zusammen mit dschihadistischen Milizen den Norden Syriens an. Welche realistischen Persepktiven hat Rojava bzw. die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien in dieser Situation?
Vor dem jetzigen Einmarsch gab es Stabilität und alle Teile der Gesellschaft haben zusammengelebt auf der Grundlage der Völkerverständigung. Rojava war im Vergleich zu den Gebieten Assads und denen der syrischen Oppositionellen, die der Türkei nahestehen, viel besser. Sowohl von den Bedingungen dort als auch von dem was die Menschen für ihr tägliches Leben haben und alles Mögliche mehr. Das Ziel der Operation gegen Rojava und genauer gegen Serê Kaniyê (Raʾs al-ʿAin) und Girê Spî (Tall Abyad) ist es, diese Stabilität zu zerstören.
Der Wille der Menschen vor Ort soll gebrochen werden. Nach dem Einmarsches erlebten wir einen wirklichen Kriegszustand und wir sehen, dass auf uns ein Vernichtungskrieg zukommt. Die Türkei verübt zahlreiche Kriegsverbrechen. Zuletzt benutzten sie sogar Phosphorbomben und die sind eigentlich verboten.
Die Kämpferinnen und Kämpfer der YPG, YPJ und der SDF leisten einen großartigen Widerstand in den Gebieten, aber der türkische Staat macht keinen Unterschied und bombardiert einfach alles. Die internationale Gemeinschaft beobachtet das, aber handelt nicht. Außerdem sind alle internationalen Kräfte, also Russland, die USA, der Iran, die sich in den Syrienkrieg eingemischt haben, auch in diesem Gebiet.
Meine Frage war aber eine andere. Es ging mir um die Perspektiven, die Rojava jetzt noch hat. Da komme ich auf Fragen wie: Wie ist Ihre Sichtweise auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime, also mit Bashar al-Assad oder Russland? Ist man nicht gezwungen mit diesen Kräften zusammenzuarbeiten? Welche Positionen haben sie dazu?
Wir sehen den Demokratischen Konföderalismus als einzige Lösung für alle aktuellen Probleme in Syrien. Wir sehen die Zukunft Syriens nur in einer demokratischen Föderation, wenn es denn überhaupt eine Zukunft für Syrien gibt. Wir werden ganz einfach kämpfen, um das System und diese Idee und Philosophie zu beschützen und den Terror zu bekämpfen. Wenn unser Modell vernichtet wird, dann wird auch der Wille der kurdischen Bevölkerung vernichtet, denn Erdogan will die Gebiete auch ethnisch verändern. Das gleiche hat er auch mit dem Nordirak vor.
Also steht eine Zusammenarbeit mit Bashar al-Assad gar nicht auf dem Programm?
Wir haben es ja seit langem versucht, diplomatische Kanäle mit Damaskus zu öffnen, um Gespräche zu vereinbaren und Meinungen auszutauschen. Aber sie haben unsere Anfragen immer abgelehnt und sich dem Dialog verweigert. Es gab Konferenzen in Bozanê (Ain Issa), in Kobanê (Ain al-Arab) und in verschiedenen Gebieten, aber das Regime Assads akzeptiert keinen Dialog. Zuletzt gab es eine Vereinbarung zwischen den SDF und dem Regime darüber, dass Truppen an die Grenze entsendet werden und nicht um Gebiete der SDF zu übernehmen. Diese Vereinbarung wurde durch Russland vermittelt und auch wir wollten dem Regime die Aufgabe geben, die Grenze zu schützen, damit wir nicht allein diese Aufgabe übernehmen müssen. Aber genau hier sieht man auch, dass das Regime gar keine Kraft mehr hat und nichts mehr übernehmen kann. Es gibt keine Hoffnung, dass das Regime die Grenze sichert. Die Soldaten wurden mit Tiertransportern transportiert. Wir wissen natürlich auch, dass es bereits eine Vereinbarung zwischen dem Regime und Erdogan gibt. Und das gegen den Willen der syrischen Bevölkerung. Wir wollten dem Regime die Aufgabe des Grenzschutzes übergeben, doch es hat sich der Verantwortung entzogen.
Es besteht die Gefahr, dass ihr nun zwischen zwei Fronten zerquetscht werdet. Auf der einen Seite das Regime und Russland – gut das Regime hat kaum noch Kapazitäten, aber Russland hat eine Luftstreitmacht – und auf der anderen Seite die Türkei und ihre dschihadistischen Milizen. Es besteht also durchaus die Gefahr, dass ihr aufgerieben werdet und die Zivilbevölkerung darunter leidet, wenn man sagt: „Kämpfen, kämpfen, kämpfen!“
Wenn das Regime seine Verantwortung übernehmen würde, dann würde es eine Flugverbotszone errichten. Russland hätte auch diese Aufgabe erfüllen können. Beide haben dies aber nicht gemacht, mit der Absicht das unsere Stützpunkte und Gebiete von der Türkei bombardiert werden. Also werden wir nun kämpfen, denn es ist unser Traum und unser Land. Dieser Krieg ist bereits ein großer Krieg. Wem sollen wir die Gebiete und das Land überlassen? Erdogan und den Dschihadisten aus al-Raqqa, al-Baghuz, Tabqa und Minbic (Manbidsch), die die auch Efrîn (Afrin) und Idlib geraubt haben und die jetzt unser Land rauben wollen? Wir werden das Land nicht dem Besatzerstaat Türkei und nicht den Dschihadisten überlassen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Türkei uns besetzt und ausraubt.
Mit dem Blick auf die Flugverbotszone: Welche Rolle kann die EU spielen? Welche Rolle muss die NATO spielen? Was wären konkrete, realistische Schritte, um diesen Krieg einzudämmen? Wie ist die Meinung von TEV-DEM dazu?
Wir haben überall Ausschüsse in Washington, Moskau, der EU und in arabischen Ländern zu dem Thema und wir haben darüber bereits die notwendigen Schritte an die entsprechenden Länder übermittelt. Der erste Schritt wäre eine Flugverbotszone in Nord- und Ostsyrien, damit die türkischen Luftangriffe aufhören. Zweitens sollten UN-Truppen in die Grenzregion gebracht werden und die können die Aufgabe übernehmen, den Krieg auf dem Boden einzudämmen. Die Entscheidungen der UN sind wichtig und wir heißen UN-Truppen willkommen, aber es gibt bisher keine Fortschritte oder Entscheidungen in diese Richtung. Auch die USA haben gesagt, dass sie wirtschaftliche Sanktionen gegen die Türkei durchsetzen würde, wenn sie gewisse Linien überschreitet. Doch wo liegen diese Linien überhaupt? Bislang ist alles Theorie, aber wir hoffen, dass es in die Praxis umgesetzt wird. Die Europäer haben Angst wegen der DAESH-Gefangenen in unseren Gefängnissen und Camps, besonders wenn die Türkei diese befreit. Dann wird es eine große Katastrophe geben.
Gibt es noch diplomatische Beziehungen oder Kanäle zur Türkei?
Wir haben der Türkei mehrmals angeboten, dass wir in einen Dialog treten und darüber verhandeln, wie wir die Grenze sichern können und welchen Mechanismus wir dafür finden könnten. Die Türkei hat das bislang verweigert. Wenn sie dazu bereit wären, heißen wir das sehr willkommen und es könnte als Plattform für weitere Verhandlungen in der Zukunft dienen. Es wäre ein Vorteil für uns mit ihnen zu verhandeln, denn die gesamte nördliche Grenze ist eine Grenze mit der Türkei.
Was passiert momentan mit den DAESH-Gefangenen? Wie ist Ihre politische Haltung zu diesem Thema?
Die SDF sagen, sie haben keine Kapazitäten mehr, die Gefangenen zu kontrollieren, weil sie die Grenze schützen müssen. Ein paar DAESH-Gefangene sind bereits geflohen und kämpfen jetzt auf der Seite der Dschihadisten mit der Türkei zusammen.
Merkt ihr in Rojava, dass hier in Europa tausende Menschen auf die Straße gehen, demonstrieren, blockieren, besetzen und viele Aktionen in Solidarität mit Rojava machen?
Ja, wir haben es gesehen und mitbekommen, dass die Kurden im Exil und deren Freunde Aktionen machen. Und das freut uns natürlich.
Wir haben bereits darüber gesprochen, was Sie von der EU und von Staatsregierungen erwarten. Wie verhält es sich mit der Zivilgesellschaft in Europa? Was erwarten Sie von ihr?
Man kann Regierungen nicht vertrauen und wir vertrauen nur der Gesellschaft. Wenn wir von Gesellschaft reden, dann meinen wir die Gewerkschaften, Vereine und andere zivilgesellschaftliche Organisationen.
Der größte Beitrag, den die Zivilgesellschaft zum Widerstand in Rojava leisten kann, ist, Druck auf die Regierungen aufzubauen. Es gibt so viele Videos und Beweise wie die dschihadistischen Kämpfer Leichname schänden, „Allah u Akhbar“ rufen, als hätten sie gegen das Regime gewonnen oder die „Ungläubigen“ komplett zerstört. Da kann die Zivilgesellschaft helfen, diese Beweise und Videos zu sammeln und zu verbreiten, damit die Welt besser Bescheid weiß, gegen wen wir kämpfen.
Sie haben gesagt, dass man das Modell Rojava bekannter machen soll und wir hatten ja schon 2017 im Irak über den Aufbau von Räten gesprochen und auch darüber, ob Parteien überhaupt notwendig sind und ob sie sich nicht einfach auflösen sollten. Aber nun ist in Rojava ja Krieg und man scheint zu merken, dass die Entscheidungen nicht durch Räte getroffen werden. Räte brauchen lange, sie müssen diskutieren. Müssen die SDF nicht eigenständige Entscheidungen treffen, weil sie unter militärischem Zugzwang stehen? Ist Krieg nicht das komplette Gegenteil von Rätedemokratie bzw. Gift für diese?
Die Türkei versucht den Aufbau unserer Demokratie zu zerstören. Wir haben sieben demokratische Verwaltungen und 35 arabische, aramäische, assyrische und kurdische Parteien und diese tauschen sich aus und diskutieren untereinander und sie liefern ihre Meinungen und Perspektiven an den Regierungsrat in Nord- und Ostsyrien. Dieser Regierungsrat entscheidet dann für die SDF. Auch jetzt, in Kriegszeiten, ist es zwar schwierig, aber die Entscheidungen trifft immer noch der Regierungsrat und dieser Rat bekommt die Entscheidungen von der lokalen demokratischen Verwaltung.
Also auch durch die Räte?
Jede demokratische Verwaltung untersteht den Räten und so kommen die Entscheidungen von unten nach oben zu Stande.
Kritiker sagen aber es gibt diese Räte gar nicht wirklich. Das seien alles Illusionen und es steht die Frage im Raum, ob es wirklich sein kann, dass Räte unter Kriegsbedingungen im 21. Jahrhundert existieren?
Als die Türkei mit ihrem Angriff begonnen hat, hat sich die SDF-Führung mit dem Assad-Regime auf Hmeimim, einem russischen Militärflugplatz, getroffen, weil die Verwaltung, die Räte und die Parteien sich getroffen haben und alle dafür gestimmt haben, mit Assad zu kooperieren. Das war eine Entscheidung der Basis und deswegen musste die SDF-Führung sich dort mit dem Regime treffen. Ich will nicht, dass wir missverstanden werden. Wir wollten nicht mit Assad kooperieren. Seit drei Jahren haben wir versucht, einen Dialog mit ihm einzugehen. Nach dem türkischen Angriff waren wir gezwungen, zu Assad zu gehen und er hat es akzeptiert, aber wir sehen nun, dass er nicht in der Lage ist die Grenze zu schützen.
Wie bei der Besetzung von Efrîn?
Genau.
Es gibt immer wieder Berichte über Zwangsrekrutierungen und die Kritik an der Einführung der Wehrpflicht in Rojava. Es gibt Berichte von jungen Männern, die sich in Qamişlo (Qamischli) oder Kobanê verstecken müssen, um nicht von den Asayîş (Sicherheitskräfte der kurdischen Selbstverwaltung) verhaftet und zwangsrekrutiert zu werden. Wenn ich Bilder aus Rojava sehe, dann sehe ich ältere Frauen und ältere Männer, vielleicht noch ein paar junge Frauen, aber ich sehe kaum junge Männer, da diese fast alle zum Militärdienst müssen. Welche Positionen vertreten Sie zu Zwangsrekrutierung, Wehrpflicht und Militarisierung der Gesellschaft?
Wir wurden missverstanden. Wir sind seit sieben Jahren im Kriegszustand und seit sieben Jahren bekämpfen wir die Terroristen des Islamischen Staates. In der Zeit hat uns niemand für Rekrutierung und Militarisierung kritisiert. Nachdem wir jetzt aber mit Daesh militärisch fertig sind, wird die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt. Al-Nusra erzieht zum Beispiel Kinder zu zukünftigen Terroristen. Bei uns geht es um das Recht auf Selbstverteidigung und wir haben das Recht zu wissen, wie wir uns selber verteidigen können und genau das wollen wir auch erreichen. Wir haben unsere demokratischen Institutionen aufgebaut und diese brauchen nun auch Schutz. Zum Beispiel tragen die Leute nachts in unseren Viertel Waffen, um das Viertel zu verteidigen. Die Menschen müssen einfach wissen, wie man damit umgeht. Ich glaube, dass diese Kritik dazu benutzt wird, den türkischen Angriff zu legitimieren.
# Interview: Sven Wegner Übersetzung: Wissam Abu Fakher Zeichnung: Ricaletto
#Bildquelle: ANF
# Sven Wegner und Ricaletto veröffentlichen Anfang 2020 ihr Buch „Başur“ (Verlag Ichi Ichi) über ihre Reise durch Süd-Kurdistan 2017. Das Buch vereint Interviews und Sachtexte mit Comic- und Portraizeichnungen.