After Europe, ein Festival der Sophiensaele Berlin, fand vom 9.-13. Oktober statt. Unsere Autorin Chandrika Yogarajah über gelungene und missglüchte Perfomances und welchen Anspruch De-kolonisierung erheben sollte.
De-kolonisierung der performativen Kunst war der große Fokus dieses Festivals. Kolonialität mit all seinen menschenverachtenden rassistischen und kapitalistisch ausbeuterischen Charakterzügen ist in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen fest verankert und beeinflusst stark die Grundstrukturen unserer Handlungen und Denkweisen. In Performances, Installationen, Podiumsdiskussionen von marginalisierten Künstler*innen, Akademiker*innen und Kulturschaffenden soll die universal kolonial geprägte Kunstwelt aufgebrochen, eurozentrische Geschichte neu geschrieben und eine vielfältige de-koloniale Perspektive angeboten werden.
Postkolonialität wird dabei nicht als ein Bruch und Ende des Kolonialismus verstanden, sondern als Kontinuität von Strukturen und Prozessen, die aus Verhältnissen des Kolonialismus hervorgehen. De-koloniales Denken bedeutet dementsprechend, sich von postkolonialen Denkweisen und Handlungen in jeder Alltagsinteraktion zu lösen.
Bei After Europe soll es jedoch nicht allein darum gehen, marginalisierte Künstler*innen und ihre Erfahrungen, ihr Wissen, ihre Positionen auf die Bühne zu bringen. Zudem soll auch herausgefunden werden, was genau Marginalisierung herbeiführt, sodass diese bekämpft werden können.
Dies ist in einigen starken Performances sehr gut gelungen. So zum Beispiel „Azimut Dekolonial/Remix“ von dem transnationalen Ensemble Hajusom aus Hamburg. Nicht-weiße Performer*innen erzählten Kolonialgeschichten aus ihren Herkunftsländern und ließen das Publikum an ihren Erinnerungen und ihrer kollektiven Geschichtsschreibung teilhaben. Azimut kommt aus dem Arabischen, as-sumūt, und bedeutet „die Wege“.
Die Installation „Untoured“ von *Foundationclass ist eine Audiotour, die ausgewählte Artefakte aus dem Pergamonmuseum und dem Deutschen Historischen Museum Berlin hinterfragt und Geschichte mit alternativen Erzählungen neu schreibt. Untoured dekonstruiert so die imperialistischen Praktiken westlicher Museen. Auch der nigerianische-britische Performer Igbálè entkoppelt sich mit seiner Sound-Performance „Zü“ von universaler Geschichtsschreibung.
„Fractured Memory“ von Ogutu Muraya fing mit einem starken Statement des Künstlers an. Er selbst war bei der Kunstperformance nicht anwesend. Er lebt auf dem afrikanischen Kontinent und benötigt für den Eintritt nach Europa ein Visa. Seine Abwesenheit begründete er damit, einen Kontinent oder ein Land nicht betreten zu wollen, welches ihm Rechte verwehrt und ihn so nicht willkommen heißt. Er unterstützt dieses System der Staatsbürgerschaft und der damit verbundenen Privilegien und Mobilität nicht. Er fühle sich in Europa mit all seinen rassistischen und faschistischen Zügen nicht willkommen und würde von nun an nur in Länder reisen, die er ohne Visa und ohne Papiernachweise problemlos betreten kann. Muraya stellt in seiner Performance „Fractured Memory“ die Gewalt in Kenia während seiner Jugend dar. Dabei entwirft er eine Zusammenstellung von persönlichen Geschichten bzw. Erinnerungen, historischen Film- und Fotoaufnahmen und literarischen Texten.
Einer der beeindruckendsten und auch sehr bewegenden Stücke dieses Festivals war „Cuckoo“ von Jaha Koo. Cuckoo ist einer der beliebtesten und erfolgreichsten südkoreanischen Marken für einen Reiskocher, welcher unter Druck Reis kocht. Dies sollte wahrscheinlich den Kapitalismus in der Performance symbolisieren. Jaha Koo erzählt zusammen mit drei Reiskochern -Hana, Seri und Duri- die Geschichte Südkoreas in den letzten zwanzig Jahren, als einer der wichtigsten Nationalökonomien der Welt. Jaha Koo kritisierte das Internationale Währungsfond (IWF), das Südkorea 1997 in der Wirtschaftskrise mit einem 58-Billionen Rettungsschirm angeblich „unterstützte“, tatsächlich aber gezwungen hatte, radikale Kürzungspolitiken durchzuführen. Das Land hat unter dem kapitalistischen Leistungsdruck der Aufstiegsgesellschaft weltweit einer der höchsten Suizidrate. Jaha Koo sieht dies als Konsequenzen des Rettungsschirmes 1997 und macht dabei überwiegend den IWF und die Machenschaften von US-Finanzminister Robert Rubin dafür verantwortlich. Die Kunstperformance war autobiografisch. Er erzählte von der Depression und Selbstmord seines verschuldeten Freundes, der mit Frau und Kind sehr prekär lebte, schließlich unter dem Druck der kapitalistischen Gesellschaft zusammenbrach und sich aus seinem Balkon hinunterstürzte. Auch ein weiterer Tod wird in der Performance behandelt. Ein völlig überarbeiteter 19-jähriger Mechaniker versuchte die Sicherheitstüren in Seoul, -Hauptstadt Südkoreas-, zu reparieren. Diese wurden konstruiert, um Menschen davon abzuhalten, sich vor Zügen zu werfen, was die herkömmlichste Art des Selbstmordes war. Er selbst kam dabei um, da er es unter dem Zeit- und Leistungsdruck nicht schaffte, rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu kommen. Auch er starb unter dem Druck der Gesellschaft- „A society under pressure“ wie es Jaha Koo in seinem Stück öfters bezeichnet hatte. Zum Schluss presste er den Reis, den einer dieser Cuckoos kochte, in eine kleine Tupperbox und formte so rechteckige Blöcke, die er aufeinander stapelte. Dann knetete er ein kleines Männchen aus Reis und ließ es von dem aufgestapelten Block herunterstürzen. Das Licht erlosch, Dunkelheit. Die Performance war vorbei. Jaha Koo drehte sich kurz um, bevor er sich vor dem Publikum mehrfach verbeugte. An seiner Brille sah man, dass er sich noch schnell die Tränen abgewischt hatte. Das Publikum war sehr gerührt von der gesamten emotionalen Performance.
Doch „After Europe“ bot auch Performances an, die nichts mit De-kolonisierung zu tun hatten. Im Gegenteil, koloniale Praktiken und koloniale Wissensvermittlungen wurden bestärkt. Beispielsweise Pop-Up-Restaurant ToskaChina von Leone Contini, ein italienischer Künstler aus der Toskana. Er präsentierte Gemüse von chinesischen Einwanderern in der Toskana. Die italienische Bevölkerung in der Toskana fühlte sich von den chinesischen Einwanderern und ihrem Gemüseanbau bedroht. Beim Erstarken der rechtspolitischen Regierung in Toskana wurde dieses Gemüse von den rechten Politikern misstrauisch beachtet: „Das sieht so aus wie Spinat, aber ist das tatsächlich Spinat?“. Die Felder und Gemüse der Chinesen wurden zerstört, sie mussten für das weitere Anbauen von ihrem Gemüse hohe Gebühren für die Felder zahlen. Dies war der Moment für Leone Contini, dem weißen Retter. Er sprach über und für die chinesischen Einwanderer und über ihre Probleme. Das Publikum saß u-förmig vor ihm und schaute sich seine Präsentation und seine Fotos an, die ihn oft lächelnd mit einem chinesischer Einwanderer mit Gemüse in der Hand zeigten. Contini brachte stolz das Gemüse in seinem Koffer mit, frisch von der Toskana und ließ es im Publikum herumgeben, mit der Aufforderung, daran zu riechen und es anzufassen. Die Zuschauer*innen, vor allem die nicht-weißen Menschen im Publikum, schmunzelten, waren empört oder intervenierten: Zusätzlich zum Gemüse, das im Publikum herumgereicht wurde, gab einer der nicht-weißen Zuschauer*innen ein Brötchen und einen angebissenen Apfel herum, ebenfalls mit der Aufforderung, daran zu schnüffeln und es anzufassen. Andere zeigten ihren Protest, indem sie demonstrativ Desinteresse an der gesamten Performance zeigten und sich mit ihrem Smartphone beschäftigten. Während Contini redete, kochte außerdem eine Person aus dem Orga-Team des Festivals mit dem selben Gemüse Suppe, welche dem Publikum abschließend angeboten wurde. Die überwiegend weißen Zuschauer*innen stürmten los, um die Suppe mit diesem tollen Gemüse zu probieren. Die meisten nicht-weißen Zuschauer*innen blieben sitzen und betrachteten dieses traurige Schauspiel. Eine der Zuschauer*innen meinte hinterher: „Ich konnte das nicht essen. Es ist so widerlich. Ich hatte einen inneren Widerstand, diese Suppe zu essen. Das Kochen dieser Suppe und anschließende gemeinsame Essen war der Höhepunkt dieser exotisierenden Darstellung von Essen.“ Das i-Pünktchen dieses Elends war jedoch, dass der italienische Künstler Contini Gemüse an einen interessierten weißen Menschen verkaufte und sich dabei lächelnd einen 10 Euro-Schein einsteckte. Diese Performance reproduzierte aktiv koloniale Exotisierungen und Ausbeutungen von Körper, Sprache, Essen und Kleidung mit einem weißen Held im Zentrum. Es war ein Schock, eine große Enttäuschung und sehr verletzend für einige Zuschauer*innen.
De-kolonisierung wurde zudem auch als Trend von Julian Warner, Kurator des Festivals, kritisiert. Institutionen der Kunst und Bildung wollen sich angeblich de-kolonisieren, um sich einer diversen Öffentlichkeit zu öffnen. Damit also mehr Menschen teilnehmen können, wollen Institutionen das Bild von Akteur*innen und Zuschauer*innen diverser gestalten. Dabei missbrauchen Theaterhäuser allerdings nicht-weiße Künstler*innen als Vorhängeschild der de-kolonialen Praxis und betonen dabei die angebliche Chancengleichheit, dass diese sich ebenso ethnisch repräsentieren könnten. Ein diverses Bild von Akteur*innen und Zuschauer*innen zu gestalten ist notwendig, jedoch nicht ausreichend für die De-kolonisierung in einem weißen bürgerlichen deutschen Theater. Zusätzlich müssen Praktiken und Wirkweisen des weißen deutschen Theaters kritisch analysiert werden. Der erste Schritt dabei ist die grundsätzliche Kolonialität, -also Praktiken und Strukturen, die aus kolonialen Verhältnissen hervorgegangen sind und bis in die Gegenwart fortbestehen- in den performativen Künsten anzuerkennen. Das heißt, dass De-kolonisierung kein Projekt der Marginalisierten um Chancengleichheit ist. Die Chancengleichheit ist ein Teil des de-kolonialen Kampfes. Doch De-kolonisierung ist ebenfalls ein Aufruf, sich zu dekonstruieren, das heißt koloniale Handlungen und Denkweisen kritisch zu betrachten und zu verändern. „After Europe“ soll dabei als Aufruf, als Angebot, als Zustand und ebenso als Kritik der De-kolonisierung als aktuellen Trend verstanden werden.
#Titelbild: Chandrika Yogarajah