Nie entnazifiziert: Warum der deutsche Staat nicht gegen Nazis taugt

28. Oktober 2019

Am 9.9.1952 marschierte der frühere SS-Hauptsturmführer Hans Otto in eine Polizeistation in Frankfurt am Main und gab an, Teil einer geheimen antikommunistischen Untergrundorganisation zu sein, die – rekrutiert aus NSDAP-, SS- und SA-Mitgliedern – den Partisanenkampf trainiere. Der „Technische Dienst“ (TD) des „Bundes der deutschen Jugend“ (BDJ) flog auf. Er war eine der zahlreichen sogenannten Stay-Behind-Zellen, die US-Geheimdienste in Deutschland aufbauten.

Sie sollten nicht nur im Falle eines sowjetischen Angriffs den Krieg hinter den Linien organisieren, sondern auch jeden demokratischen Prozess in Richtung Sozialismus unterbinden. Durch Propaganda, aber auch durch bewaffnete Aktionen. Die unter dem Namen „Gladio“ bekanntgewordenen Schwesterorganisationen in Italien verübten zu diesem Zweck Bombenattentate mit dutzenden Toten und betrieben eine Strategie der Spannung mit dem Ziel, einen Bürgerkrieg auszulösen, um Linke töten zu können. In Deutschland legte der „Bund der deutschen Jugend“ Listen von Kommunisten und Sozialdemokraten an, die „im Falle X ‚kaltgestellt’“ werden sollten. Die Stay-Behind-Programme blieben noch lange nach der Entdeckung des „Bundes der deutschen Jugend“ bestehen.

Geht es zu weit, hier eine Parallele zum rechtsterroristischen NSU und der rechten Prepper-Truppe Uniter zu sehen? Der NSU ist zweifellos eng mit dem Verfassungsschutz verwoben. Und die Bundeswehr-, Polizei- und KSK-Offiziere bei Uniter erinnern schon sehr an dieses Modell einer für den „Tag X“ geschulten Putschistentruppe. Die USA werden es wohl nicht mehr sein, die diesen Apparat unterhalten. Aber die Förderung klandestiner rechter Verbände ist den Institutionen des deutschen Staates quasi in seine DNA eingeschrieben. Vom Generalmajor der Wehrmacht und erstem Chef des Bundesnachrichtendienstes, Reinhard Gehlen, bis zum geschassten Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen.

Die Wiederverwendung von Nazis im neu entstehenden westdeutschen Staat betraf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens: Das Großkapital und die Kriegsprofiteure blieben unangetastet, Justiz, Schulwesen, Politik, Geheimdienste und Armee waren voll von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Eine wirkliche Entnazifizierung hat zumindest in Westdeutschland nie stattgefunden.

Dieses Erbe ist es, das die Gefahr einer Faschisierung der Bundesrepublik befördert. Die politische Kultur, die in diesen Institutionen produziert wurde, war stets eine, die den Hauptfeind links sah. Und die nach ganz weit rechts mehr als nur offen war.

Wen wundert es da, dass zahlreiche Offiziere und Polizisten bereits heute stramm hinter der AfD oder anderen faschistischen Parteien stehen? Vom Rechtsterrorismus der mit Uniter verbandelten „Nordkreuz“-Gruppe führen Spuren direkt in den AfD-Parlamentarismus. Björn Höckes Theorie des „Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“, gegen den nur ein „Aderlass“ durch einen „Zuchtmeister“ helfe, schließt den Kreis zu völkischen Terroristen auf der einen und den sich bürgerlich gebenden Identitären auf der anderen Seite. Anschlussfähig ist sie bis in „wertkonservative“ Kreise der CDU und CSU. Die AfD ist der politische Arm eines Rechtsterrorismus, der zum Teil aus nichtstaatlichen, zum Teil aus tief im Staatsapparat verankerten Kräften entspringt.

Man kann sich fragen: Was braucht man für eine faschistische Machtübernahme? Einen politischen Arm, der einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung hat; einen Teil des Staatsapparats, insbesondere seiner bewaffneten Teile; und die Förderung eines Teils der herrschenden Klasse.

Wie dieser Faschisierungsprozess in Deutschland aussehen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Aber dass er in vollem Gange ist, wird man nicht mehr leugnen können. Polizeiaufgabengesetze, die Inhaftierung ohne Straftaten ermöglichen, ein immer brutaleres Vorgehen gegen Migrant*innen samt deutsch-finanzierten Folterlagern in Libyen, das Zunehmende Drängen auf offenere militärische Interventionen im Ausland wird schon durch die „Mitte“ durchgesetzt. Und die sich immer deutlicher um die AfD gruppierenden verschiedenen Stränge des offenen Faschismus konsolidieren sich im durch die „Mitte“ geschaffenen Klima der Normalisierung von staatlicher Repression, Rassismus und Sozialchauvinismus. Im Jahr 2019 ist die Befürchtung, es könne wirklich einen dieser „Tage X“ geben, an dem „kaltgestellt“ wird, jedenfalls keine irrationale Verschwörungstheorie mehr.

Noch gibt es eine Mehrheit der Bevölkerung, die diesen Weg nicht gehen will. Aber in dieser Mehrheit herrschen Illusionen darüber vor, dass es dieser Staat am Ende schon richten wird. Nach allem, was wir von der Geschichte der Bundesrepublik aber wissen, wird er das nicht tun.

# Titelbild: Reinhard Gehlen, später Erster Chef des BRD-Bundesnachrichtendienstes, hier noch in alter Uniform; Quelle: wikipedia

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