Der Krieg im Jemen hat immer brutalere Konsequenzen für die dortige Bevölkerung. Anders als gerne behauptet geht es weniger um religiöse und ethnische Auseinandersetzungen, sondern um knallharte kapitalistische Interessen, auch der deutschen Rüstungsindustrie, die von der BRD freie Hand bekommt. Christoph Morich mit einer Analyse.
„Als zum erstenmal das Wort »Friede« ausgesprochen wurde, entstand auf der Börse eine Panik. Sie schrien auf im Schmerz: Wir haben verdient! Lasst uns den Krieg! Wir haben den Krieg verdient!“ (Karl Kraus, 1909)
„Rheinmetall – So sehen Sieger aus!“ So titelte die Internetseite Finanztrends im letzten Monat anlässlich des steigenden Aktienkurses des Konzerns. Nicht nur ließen die nackten Zahlen das Herz der Aktienbesitzer*innen höherschlagen, auch die „Stimmungslage in den sozialen Netzwerken war in den vergangenen Tagen überwiegend positiv.“ Rheinmetall, ein deutscher Autozulieferer und Rüstungskonzern, konnte seinen Gewinn im ersten Halbjahr 2019 um 2,2% auf circa 2,8 Milliarden Euro steigern. Die Einbußen in der Automobilsparte wurden durch zusätzliche Einnahmen im globalen Waffengeschäft kompensiert. Ein wichtiger Abnehmer dieser Waffenlieferungen war die Allianz um Saudi-Arabien, die seit 2015 im Jemen einen blutigen Krieg führt, dem die Zivilbevölkerung zum Opfer fällt. Insgesamt wurden der deutschen Waffenindustrie in der ersten Jahreshälfte 2019 Exporte im Wert von 1,1 Milliarden Euro an diese Allianz genehmigt. Die Menschen im Jemen sind die Verlierer*innen dieses Geschäftes. Während die Rüstungsindustrie und ihre Aktionäre hierzulande jubeln, herrscht bei den Opfern der saudischen Luftangriffe das blanke Elend.
Der Krieg im Jemen begann mit der saudischen Intervention, nachdem weite Teile des Landes durch Huthi-Rebellen erobert worden waren. Er wird gemeinhin als ein Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten bezeichnet, was der Komplexität des Geschehens jedoch keineswegs gerecht wird. Tatsächlich überlagern sich im Jemen verschiedene politische, ökonomische und ideologische Konflikte, regionaler und globaler Ausprägung.
Im Januar 2011 begannen Proteste gegen den korrupten Präsidenten Salih, der wenig später auf Anweisung Saudi-Arabiens durch seinen Stellvertreter Hadi ersetzt wurde. Unter beiden dienten die staatlichen Strukturen in erster Linie der Bereicherung einzelner Cliquen (insbesondere durch den Export von Öl), während ein großer Teil der Bevölkerung in bitterer Armut lebte. Ein Schicksal, das der Jemen mit vielen ehemaligen Kolonien teilt, die mittlerweile allesamt zu günstigen Rohstofflieferanten für den Weltmarkt geworden sind, während sich an den Schaltstellen der Macht eine kleine Elite bereichert. Die an den Protesten maßgeblich beteiligte Bevölkerungsgruppe der Huthis wurde im Zuge des Regierungswechsels übergangen und erkannte den neuen Präsidenten nicht an. Es gelang ihnen daraufhin weite Teile des Jemens zu erobern, was die Allianz um Saudi-Arabien zu einer Intervention veranlasste. Erst daraufhin kam es nach Ansicht vieler Beobachter*innen zu einer zunehmenden Konfessionalisierung des Konfliktes.
Ursprünglich sind wirtschaftliche und machtpolitische Interessen von entscheidender Bedeutung in dem Konflikt. Dem Kapital geht es darum sich Zugang zu profitablen Anlagemöglichkeiten, insbesondere den Ölvorkommen, und Absatzmärkten, z.B. für Lebensmittel, zu sichern. Um davon zu profitieren, sind verschiedene Fraktionen der politischen Elite der Region bemüht, die Herrschaft über entsprechende Regionen und Schaltstellen im Staatsapparat für sich zu sichern. Die vernachlässigten Teile der Bevölkerung, die eine entscheidende Rolle bei den Protesten seit 2011 spielten, fordern einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum ein. Deren Armut und erlebte Ungerechtigkeit nutzen diverse Gruppen, um Anhänger*innen für ihre mehr oder weniger ideologisch motivierten Kämpfe zu rekrutieren, hinter denen in der Regel ebenfalls materielle Interessen stehen. Auch die sezessionistischen Bestrebungen im Süden Jemens werden auf die gefühlte Benachteiligung der dortigen Bevölkerung gegenüber dem Rest des Landes zurückgeführt.
In diesen Kampf um Macht und Profit im Jemen sind zahlreiche Länder verwickelt. Vor allem Saudi-Arabien fürchtet um seine Vormachtstellung, da der Iran zunehmen Einfluss auf die Huthi-Rebellen gewinnt. Ähnliche Überlegungen trieben die USA zur Beteiligung am Krieg im Jemen, wo sie über lange Zeit eine Basis für ihren „Krieg gegen den Terror“ hatten. Auch Frankreich und Großbritannien leisten der Allianz logistische Unterstützung. Der „Krieg gegen den Terror“ wendet sich in erster Linie gegen Al-Qaida, die Teile des Jemens beherrschen, selbst aber in den vergangenen Jahren Konkurrenz vom ebenfalls sunnitischen Islamischen Staat bekam. Im Kampf gegen die Huthi-Rebellen (und somit indirekt gegen den Iran), verfolgten die USA und Saudi-Arabien wiederum dieselben Ziele wie Al-Qaida. Also die Gruppe, die das saudische Königshaus stürzen möchte und für die Anschläge vom 11. September auf das World-Trade-Center verantwortlich war. Ähnlich paradox erscheint, dass der ehemalige Präsident Salih sich nach seiner Entmachtung mit seinen ehemaligen Gegnern, den Huthi-Rebellen verbündete, sich dann erneut mit ihnen überwarf und letztendlich von ihnen umgebracht wurde. Die sunnitischen Stämme verfolgen ebenfalls eigene Interessen und sind mit verschiedenen Akteur*innen – der Regierung Hadi, Al-Qaida oder dem IS – verbündet. Auch die Sezessionisten gehen teils wechselnde Bündnisse ein.
In solchen Gemengelagen werden plötzlich Identitäten, die bislang kaum eine Rolle spielten, zur materiellen Gewalt, da bisherige Ordnungen in sich zusammenbrechen und sich keine neue an deren Stelle etablieren kann. Religiöse Identitäten bieten Orientierung. Sie erlauben das Dasein im täglichen Kampf ideologisch aufzuladen und zum „heiligen Krieg“ zu verklären. Gleichzeitige werden sie von Saudi-Arabien und dem Iran genutzt, um Verbündete zu rekrutieren und gegen den Gegner mobil zu machen.
Es handelt sich also bei dem Konflikt im Jemen weniger um einen schon immerwährenden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, als um eine zerfallende Gesellschaft im Zuge der globalen Krise, in der nicht vollends auszumachen ist, wer eigentlich gerade gegen wen kämpft.
Die UNO bezeichnet die Situation im Jemen als „die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts“. Nach Schätzungen des „Armed Conflict Location and Event Data Project« (Acled) haben seit Beginn des Krieges fast 100.000 Menschen ihr Leben verloren. Millionen von Menschen sind vertrieben und auf Hilfslieferungen angewiesen, die sie oftmals aufgrund der andauernden Kämpfe nicht erreichen. Videoaufnahmen und Fotos zeigen Kinder, die aus nichts als Haut und Knochen bestehen und zu jeglicher menschlicher Regung zu schwach sind. Viele von ihnen sterben aufgrund der mangelnden Ausrüstung in Krankenhäusern, wenn sich ihre Eltern den Weg dorthin überhaupt leisten konnten. Alle 10 Minuten verliert ein Kind im Jemen durch Hunger sein Leben. UNICEF bezeichnet das Land als „living hell for children“.
Diese lebende Hölle wird durch deutsche Waffen noch weiter befeuert. Die Hilfeschreie unzähliger Journalist*innen und Menschenrechtsorganisationen über die Situation im Jemen, die seit Jahren den sofortigen Stopp von Waffenlieferungen an die saudische Allianz fordern, verhallen ohne Konsequenz.
Der Allianz wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Bombardierungen von zivilen Einrichtungen, von Krankenhäusern bis Schulen und Schulbussen, nachgewiesen. Durch eine Seeblockade, die verhindert, das Lebensmittel und Hilfslieferungen ins Land kommen,ist sie maßgeblich für die Hungersnot im Jemen verantwortlich. Auch hierbei kamen in Deutschland gebaute Schiffe zum Einsatz. Dennoch: Saudi-Arabien wird weiterhin von der deutschen Rüstungsindustrie versorgt.
Bei der Produktion von Waffen kommt das Verhältnis von Tausch- und Gebrauchswert einer Ware in besonders brutaler Weise zum Ausdruck. Damit bei den Produzent*innen einer Ware und ihren Aktionären die Kurse stimmen, also durch den Verkauf der Ware aus Geld mehr Geld gemacht wird, muss sie andernorts gebraucht werden. Im Fall einer Waffe, indem sie Menschen tötet. Die Gewinne auf dem Aktienmarkt, werden mit dem Verlust von Menschenleben bezahlt. Die Undurchsichtigkeit der heutigen Weltgesellschaft erlaubt es dabei allen Akteur*innen die eigene Verantwortung für diesen offensichtlichen Zusammenhang zu leugnen. Es sei ja nicht Rheinmetall, die Bomben werfen, erklärt etwa ein Aktionär einem Team der ARD. „Und wenn wir die nicht liefern, dann tun es andere“, ist ein häufig angeführtes Argument von Seiten der Politik. Rheinmetall selbst beruft sich auf den Druck der Aktionär*innen, und den Erhalt der Werke in Deutschland, bei denen zumindest noch gewisse Mindeststandards in der Ausfuhrkontrolle existieren. Die Fabriken baut Rheinmetall aber mittlerweile in strukturschwachen Regionen in Sardinien und Südafrika, da dort mit wenig Widerstand gegen das Geschäft mit dem Krieg zu rechnen ist. An diesen, wie auch an den deutschen Standorten wird dann gerneauf die Notwendigkeit verwiesen, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um halbwegs würdig überleben zu können. Was Saudi-Arabien mit den Bomben macht, entzieht sich dann der europäischen Verantwortung. Und da es die Menschen aus dem Jemen nur in den seltensten Fällen bis ans europäische Festland und die Bilder der Sterbenden nur ausnahmsweise in die hiesigen Medien schaffen, können sich weiterhin alle stillschweigend darauf einigen, die Hände in Unschuld zu waschen.
Der, Ende letzten Jahres von der Bundesregierung verhängte, Exportstopp für Waffenlieferungen zeugt von der Scheinheiligkeit aller beteiligten Akteure. So waren es weder die saudischen Bombenangriffe auf Schulen und Krankenhäuser, noch die Tausenden Toten und Millionen von Hungernden im Jemen, die Deutschland zu einem Exportstopp veranlassten. Erst als die saudischen Behörden den Journalisten Jamal Kashoggi in ihrer Botschaft in der Türkei wohl bei lebendigem Leib zerstückelten und damit einen diplomatischen Skandal auslösten, sah sich die deutsche Regierung gezwungen zu handeln. Doch selbst bei diesen Maßnahmen einigte man sich auf genug Ausnahmen und Schlupflöcher, um die Profite deutscher Unternehmen nicht ernsthaft zu gefährden, wie die Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2019 belegen. Indem es Rheinmetall gestattet wird, Tochterunternehmen in Sardinien und Südafrika zu unterhalten, kann der Waffenhersteller ohnehin weitestgehend autonom gegenüber der deutschen Gesetzeslage produzieren und verkaufen. Die Sozialdemokraten sind in gewohnter Manier an dieser Heuchelei beteiligt. Bezeichnete es Sigmar Gabriel 2013 noch als „große Schande“, dass Deutschland als Waffenexporteur „Helfershelfer für die Aufrüstung von Diktaturen“ geworden sei, sind sie in der Regierungsverantwortung federführend an der Genehmigung von Waffenlieferungen an Akteur*innen in den blutigsten Konfliktregionen beteiligt. Der Zynismus, mit dem Politiker*innen der Regierungsparteien seit Jahren ihre Verantwortung für den Mord an Unschuldigen leugnen, ist nur schwer zu überbieten.
Doch gegen die Verwicklung Europas in den Krieg im Jemen regt sich vermehrt Protest. Bei der kürzlich in Berlin stattgefundenen Aktionärs-Hauptversammlung von Rheinmetall, gelang es Aktivist*innen kurzzeitig die Bühne zu besetzen, um auf das mörderische Geschäft des Unternehmens aufmerksam zu machen. In Italien und Frankreich streikten Hafenarbeiter*innen, um die Beladung eines saudischen Schiffes mit neuem Kriegsgerät zu verhindern. Für Anfang September veranstaltet das Bündnis ‚Rheinmetall entwaffnen‘ ein Protestcamp und ruft dazu auf, die Produktion des Rüstungsherstellers durch Blockaden lahmzulegen. Jede Unterbrechung der Produktion und Lieferung von Waffen kann Menschenleben im Jemen retten und hoffentlich langfristig dazu beitragen, einen Massemord zu beenden, an dem deutsches Kapital und deutsche Politik maßgeblich beteiligt sind.
#Titelbild: Zerstörte Häuser im Süden von Sanaa, wikimedia commons