In Berlin treffen wieder zwei Lager aufeinander. Es geht um Rassismus, um Kolonialismus und um die Frage was linke Politik eigentlich in Deutschland heute bedeutet. Dies mal geht es aber auch darum, welche queeren Menschen das Recht haben, im öffentlichen Raum Kämpfe zu führen und zu verteidigen. Wir waren auf dem diesjährigen Radical Queer March in Berlin und haben die Diskussionen im Vorhinein, die Situation vor Ort und die Debatten im Nachhinein verfolgt.
Am vergangenen Samstag fand um 12 Uhr der kommerzielle 41. Cristopher Street Day (CSD) Marsch in Berlin mit mehr als einer Millionen Teilnehmenden vom Kurfürstendamm bis zum Brandenburger Tor statt, bei dem, wie jedes Jahr, unter anderem der obligatorische USA-Truck vertreten war. Daneben wurde um 18 Uhr auch zu einem alternativen „Radical Queer March“ aufgerufen, der vom Mariannenplatz im Herzen Kreuzbergs startete. Vor der Demo kam es jedoch zu Antisemitismus-Vorwürfen gegenüber möglichen Teilnehmenden.
Nachdem am 15. Juli, auf Facebook Bodo Niendel auf der Seite des Radical Queer March Berlin die Frage stellte, wie sich Organisator*innen des Radical QueerMarch zu Antisemitismus verhalten würden und ob Aktiven der Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) die Teilnahme untersagt werden würde, brach eine große Diskussion aus. Die Organisator*innen des Radical Queer March bezeichneten dabei BDS und dessen Aktive platt und ohne Argumentation als antisemitisch.
Alle Radikalen Queers, die sich solidarisch mit Palästina zeigen und BDS unterstützen seien Antisemit*innen, und deshalb auf der Demo nicht willkommen und würden auch aktiv ausgeschlossen werden, hieß es.
BDS ist eine gewaltfreie Bewegung, die von hunderten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Palästina ins Leben gerufen wurde, um den Boykott, den Abzug von Investitionen und Sanktionen gegenüber dem israelischen Staat gemäß Internationalem Recht durchzusetzen. Die Kampagne fordert das Ende der illegalen Besatzung palästinensischer Gebiete, die 1967 von Israel besetzt wurden, sowie die Gleichberechtigung für Palästinenser*innen und Israelis in Israel selber. Auch kämpft die Kampagne für das Recht, dass vertriebene Palästinenser*innen wieder in ihr Land zurückkehren dürfen und nicht verstreut und entrechtet, teils unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern zusammengepfercht überleben zu müssen. BDS wird von zahlreichen Organisationen, die für soziale Gerechtigkeit einstehen, sowie von antirassistischen Kämpferinnen wie den Marxistinnen Angela Davis und Tithi Bhattacharya aktiv unterstützt.
Als Antwort auf diese Ausladung und Gleichsetzung von BDS mit Antisemitismus, formte sich daraufhin kurzfristig ein Queers for Palestine Block, der zur aktiven Teilnahme antikolonialer und antiimperialistischer Queers und Freund*innen aufrief. Hierauf gab es zwei unterschiedliche Reaktionen. Auf der einen Seite befürworteten einige die Ausladung durch den Radical Queer March und bezeichneten BDS Befürworter*innen als Rassist*innen. Sie forderten zudem, die Ausladung von Palästina-solidarischen Queers aufrechtzuerhalten. Um dies zu unterstreichen wurden unter anderem Bilder von nackten, verpügelten queeren Palästinenser*innen gepostet. Auch wurden jüdische Befürworter*innen von BDS offen als Nazis bezeichnet. Auf der anderen Seite, wurde von mehrheitlich Jüden*innen, Araber*innen und andere nicht-weißen Menschen immer wieder betont, wie BDS in einer Tradition antikolonialer und antirassistischer Boykott-Bewegungen steht und wie die platte Unterstellung des Antisemitismus in die zionistische Logik einer jüdisch-Ashkenazim, also weiß-vorherrschaftlichen udn kolonialen Ideologie des israelischen Staates spielt, der jede Kritik an seiner Entstehung und Politik als „antisemitisch” zurückweist.
Dieser unbegründete Antisemitismusvorwurf wurde als erneuter Versuch gewertet, Stimmen zum Schweigen zu bringen, die sich solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf zeigen – dieses Mal von queeren palästinensischen und jüdischen Menschen.
Am 25. Juli veröffentlichten die Organisator*innen des Radical Queer March eine Stellungnahme, in der sie sich für „die pauschale, undifferenzierte Gleichsetzung vom BDS mit Antisemitismus“ entschuldigten. Dennoch würden sie „bestimmte Methoden und Argumentationsgänge von Teilen des BDS […] durchaus kritisch“ sehen und stuften diese – wieder ohne genauere Beispiele oder Argumente – „als eindeutig antisemitisch“ ein. „Vergleiche von der israelischen Politik mit dem deutschen Nazi-Regime sowie die Art und Weise, wie der pinkwashing-Vorwurf gegen Israel vorgebracht wird“ gehörten für sie dazu.
Pinkwashing in Israel
Pinkwashing ist eine Propaganda-Taktik, bei der vor allem westliche Staaten LGBTQI* Rechte für ihre Staatspropaganda bzw. offizielle Demokratie-Marketingkampagnen, sowie als Rechtfertigung für Krieg und Vertreibung missbrauchen. Dadurch soll ihr Image als progressive und liberale Nationen gefördert und von Staatsrepression, Menschenrechtsverletzungen und struktureller Unterdrückung abgelenkt werden. Israel betreibt schon seit Jahren eine Politik des Pinkwashings. Sie lenken von ihren rassistischen und menschenverachtenden Verbrechen gegenüber Palästinenser*innen und anderen nicht-weißen Bevölkerungen in Israel ab und verschleiern so die konstante Besatzungssituation in Palästina. Dabei werden gezielt Palästinenser*innen, sowie andere benachbarte arabische, mehrheitlich muslimische Länder als besonders homo- oder transphob dargestellt. Hier steckt eine Ziviliationslogik dahinter, in der Israel sich als Verfechter von LGBTQI* Rechten – im Sinne des Westens – darstellt, gleichzeitig aber LGBTQI* Palästinenser*innen ermordet und sie ihres Landes beraubt.
Im Sommer 2014 wurden bei den Angriffen auf Gaza mindestens 2200 Menschen getötet. Darunter waren palästinensische Lesben, Schwule, Trans und Queers. Durch den Missbrauch von LGBTQI*-Rechten legitimiert der israelische Staat seine Position als Besatzungsmacht und damit auch die Entrechtung der „rückständigen und queer-feindlichen“ Palästinenser*innen. Erst im Juli hat der israelische Staat, palästinensische Häuser in Ostjerusalem zerstört, um die Bewohner*innen aus der Stadt zu vertreiben zum Beispiel.
Weißsein und (Anti)Rassismus
Während des Radical Queer Marches hat sich offenbart, um welche Radikalität es geht. Der Queer for Palestine Block war mit einer antirassistischen und queeren Politik präsent und stellte sich aktiv gegen koloniale Besatzungen und Kapitalismus, was durch viele Sprechchöre in diesem Sinne deutlich wurde. In diesem Block waren überwiegend nicht-weiße LGBTQI* sicht- und hörbar, während beim Radical Queer March die weiße Mehrheit sich, von diesen unliebsamen „Anderen“ zu distanzieren suchte.
Eine der Demostrierenden, Leil Zahra Mortada, beschrieb die Situationfolgendermaßen: „Ich ging den ganzen Marsch umher, zur erwarteten Weißen Vorherrschaft; im Gegensatz zum Queers for Palestine Block, der eine schöne und herzerwärmende Mischung aus Queers und unseren Verbündeten war. Queers, die weiß, Schwarz, Braun, PoC [People of Color, lcm], Latinx, Migrant*innen, Asylsuchende, Palästinenser*innen, Israelis, Jüd*innen, Türk*innen, US Staatsangehörige, Iraner*innen, Indigene, Undokumentierte, Sexarbeiter*innen, Anarchist*innen, Antifa…“ sind.
Was beim Radical Queer March wirklich passierte
Als kurz bevor der Radical Queer March losging hat eine Person versucht, Plakate mit der Aufschrift „Queers for a free Palestine. Fight against: racism, islamophobia, homo/transphobia, antisemitism, apartheid!“ (Queers für ein freies Palästina. Kampf gegen Rassismus, Islamophobie, Homo-/Transphobie, Antisemitismus, Apartheid!) herunterzureißen. Doch queere nicht-weiße und jüdische Aktivist*innen haben sich gegen diese physische Gewalt zur Wehr gesetzt. Der Versuch der Einschüchterung war nicht erfolgreich. Nach kurzer Zeit des Laufens erschienen zahlreiche Polizist*innen in kompletter Kampfausrüstung und schnitten mit einer Kette den Queers for Palestine Block und die dahinter laufenden Demonstrant*innen vom kurzen Frontblock ab. Die Organisator*innen des Radical Queer March gaben der Polizei an, dass der Queers for Palestine Block nicht zum Radical Queer March gehöre und nicht willkommen sei. So forderte die Polizei von dem bis dahin auf 500 Menschen angewachsenen Queers for Palestine Block, den Radical Queer March durchlaufen zu lassen, während der Weg für den antikolonialen Block versperrt blieb. Die Demonstrierenden des Queers for Palestine Blocks forderten jedoch ein, weiterlaufen zu dürfen. Die Parole „it’s not radical to call the police“ (Es ist nicht radikal, die Polizei zu rufen) hallte durch die Reihen. Diese hoch angespannte Situation hätte sehr leicht eskalieren können und zu Verletzungen und Ingewahrsamnahmen von Demonstrant*innen führen können. Auch Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und Menschen ohne Papiere, die sich im antikolonialen Block aufhielten hätten ernsthafte Konsequenzen hieraus bekommen können.
„Indem du die Polizei rufst, hast du dich weiter in rassistische und fremdenfeindliche Politik vertieft, den nicht-weißen Körper als den gefährlichen, nicht gebändigten, hasserfüllten und unzivilisierten“ darzustellen, so Leil Zahra. Nach einiger Zeit der Angst und Verwirrung, dämmerte es wohl den Organisator*innen des Radical Queer March, dass es politisch katastrophal ist, die Bullen auf die wenigen nicht-weißen Teilnehmer*innen einer „linken“ Demo zu hetzen. Die Polizei zog jedoch erst ab, als sich der Radical Queer March ohne den Queers for Palestine Block bereits weiterbewegt hatte. Der Radical Queer March ließ also einen großen Block von antirassistischen, antikolonialen und antiimperialistsichen mehrheitlich nicht-weißen Queers allein mit der Polizei zurück. Jegliche Behauptungen im Nachhinein, die Organisator*innen des Radical Queer March hätten die Polizei nicht gerufen ist somit irrelevant, da sowohl im Vorhinein in Sozialen Medien genau der Rückgriff auf die Repressivkräfte des Deutschen Staates angekündigt wurde, als auch die Tatsache, dass bei der Polizeikette keine*r der Organisator*innen des Radical Queer March eingeschritten ist für sich spricht.
Das erste Gefühl welches sich im Queers for Palestine Block breit machte war, trotz niedriger Erwartungen, Fassungslosigkeit. Wie konnten diese selbsternannte radikalen Queers die Polizei auf Migrant*innen, Asylsuchende und andere hetzen? In der deutschen Polizeigeschichte sind zahlreiche rassistische Angriffe und Morde an Schwarzen, migrantischen, asylsuchenden, Trans und queeren Menschen bekannt. Hätte man wirklich einen Dialog führen wollen, dann hätte im Vorhinein ein Plenum einberufen werden müssen um sich argumentativ auszutauschen und die Frage zu stellen: Was bedeutet queere linke Politik heute? Die Organisator*innen des Radical Queer March entschieden sich jedoch dafür, mit dem repressiven Staatsapparat gegen „die Anderen“, die Ausländer*innen, die Unliebsamen zu arbeiten.
Dies ist nicht nur ein Verrat an radikale queer-feministische Politik, sondern auch ein Verrat an die einstigen Aufstände gegen brutale Polizeirazzien und Repressalien in Stonewall Inn 1969, die die Geburtsstunde für die weltweite radikale Lesben- und Schwulenbewegung war. Denn hier waren es proletarische Schwarze und Latinx Queers – mitunter viele Sexarbeiter*innen –, die sich gegen die rassistische, homo- und transfeindliche Politik der Stadt New York aktiv zur Wehr setzen.
Bis Redaktionsschluss gab es keine Stellungnahme des Radical Queer March Berlin zu den Geschehnissen am Samstag. In den Sozialen Medien regnet es jedoch nur so von Rechtfertigungen, die es leider auch in linke Medien schaffen, wie ein tatsachenverdrehender Artikel im neuen deutschland zeigt.
Wir müssen uns organisieren!
Insgesamt war der Queers for Palestine Block spontan und kurzfristig ins Leben gerufen worden. Folglich war dieser recht unorganisiert. Die Menschenmasse war recht lose, und unkontrolliert. Es gab auch keine klaren Ansagen. Der antikoloniale Block hat es jedoch immer wieder geschafft, sich zu sammeln. Improvisierte Parolen wurden genauso gerufen wie alt-bekannte aus der antipatriarchalen, antikapitalistischen und Palästina-solidarischen Bewegung. Trotz aller Hindernisse entstand so ein Gefühl des starken kollektiven Zusammenhaltes. Der Queers for Palestine Block wurde außerdem immer größer, da auch Teilnehmende des Radical Queer March sich ihm anschlossen.
Das anarchistisch-feministische Hausprojekt Liebig34 zeigte sich solidarisch und sagte die After-Demo-Party des Radical Queer March kurzerhand ab, da sie die Zusammenarbeit mit der Polizei und schon gar nicht diese für die Durchsetzung der eigenen politischen Ziele zu nutzen tolerierten. Auf Twitter schrieben sie: „Keine Bullen bei Pride! Wir denken nicht, dass es Zeit für eine Party ist, nach dem, was heute in #radicalqueermarch passiert ist. Also sagen wir die Party bei #Liebig34 ab.“
Ein voller Erfolg: Doch wie geht es weiter?
Trotz der unsicheren Situation, und der möglichen Gewaltaussetzung in dieser Demo, versammelten sich viele mutige Menschen, die ihre gelebten Realitäten von Rassismus und kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung nicht länger von weißen linken, selbsternannten Radikalen bestimmen lassen und zum Schweigen gebracht werden wollten. Das wahre Gesicht der heuchlerischen weißen, mal sich „antinational,“ mal „antideutsch“ nennenden Linken ist an diesem Tag deutlich zum Vorschein gekommen.
Letzten Samstag konnte jedoch auch gezeigt werden, dass palästinensische, jüdische, pro-palästinensische und solidarische Stimmen mit antikolonialen Kämpfen nicht länger zum Schweigen gebracht und ausgeschlossen werden können. Auch und vor allem nicht in queeren und feministischen Räumen. Die Organisator*innen des Queers for Palestine Block sind überwiegend queere Frauen*, die sich aktiv für ein freies Palästina einsetzen und in verschiedenen politischen Gruppen arbeiten. Weitere Aktionen sind in den kommenden Wochen und Monaten geplant. Nach der Demonstration wurde in einer großen Feedback-Runde Ideen gesammelt, wie eine Demonstration kontrollierter und organisierter verlaufen müsste, wie man sich besser vernetzen kann und welche konkreten Methoden, Strategien zur Mobilisierung genutzt werden können.
Für weitere Vernetzungen, Aktionen und Informationen kann man sich mit den Organisator*innen über die Facebook-Seite Palästina spricht Palestine speaks oder auch mit Berlin Against Pinkwashing in Verbindung setzen.
Der Radical Queer March war nicht radikal. Deutsche Linke haben versucht marginalisierte und antikoloniale Stimmen zu ächten, zu verbannen, zu kriminalisieren, zum Schweigen zu bringen und sind letzten Endes daran gescheitert. Radikal bedeutet nun mal die Probleme an der Wurzel packen, und zwar feministisch, antikolonial, antiimperialistisch und antirassistisch. Alles andere ist Heuchelei.
# Titelbild: Queers for Palestine beim Radical Queer March Berlin am 26. Juli 2019, http://bds-kampagne.de/wp-content/uploads/2019/07/Radical-Queers-March-2019-mit-Pal%C3%A4stinenserinnen-und-Fahne.jpg