Im Nordirak und in der Südtürkei greift die türkische Armee kurdische Gebiete an. Erdogans Feldzug könnte sich auch auf das nordsyrische Rojava ausweiten.
Die Kamera zeigt einen steinigen Hügel. Langsam kriecht ein LKW die enge Schotterstraße hinauf. „Hazir bê“, mach dich bereit, sagt eine Stimme auf kurdisch. Und wenig später: „Bitaqine“, lass es explodieren. Der LKW verschwindet in einer Wolke aus Feuer und Staub. Die Erklärung der kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG im Abspann des Videos bilanziert: Drei türkische Soldaten sind bei der Aktion getötet worden.
Anschläge wie diesen in der kurdischen, im Südosten der Türkei gelegenen Provinz Hakkari (Colemêrg) sind derzeit häufig. Die Guerillakräfte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) veröffentlichen fast täglich die Ergebnisse der Aktionen und Gefechte: Am 16. Juli griff die Frauenguerilla YJA-Star einen Wachposten einer Militärbasis bei Bajêrgan an; am 18. Juli wurden im Gebiet Dola Çingene türkische Soldaten von zwei Seiten angegriffen, die von Transporthubschraubern im Gelände abgesetzt werden sollten; am 19. Juli starben bei einer Sabotageaktion in Şirnex eine ungeklärte Anzahl an Besatzungsoldaten.
Die Schwerpunkte der aktuellen Kämpfe erstrecken sich rund um das türkisch-irakische Grenzgebiet, von den Provinzen Şirnex und Colemêrg bis weit in den Süden, auf irakisches Territorium. Dort versucht Ankara sich seit mehreren Monaten festzusetzen und – ähnlich wie seit Anfang 2018 in der nordsyrischen Kurdenprovinz Afrin – ein Terrorregime gegen die lokale Bevölkerung zu errichten.
„Operation Klaue“
Ende Mai begann, so ist türkischen Regimezeitungen zu entnehmen, die Militäroperation „Klaue“, deren Ziel die „Auslöschung“ der kurdischen Befreiungsbewegung in den gebirgigen Regionen zwischen dem Irak und der Türkei ist. Dort liegen die sogenannten „Medya-Verteidigungsgebiete“, die als Hauptquartier der seit 40 Jahren gegen NATO und türkischen Kolonialismus kämpfenden kurdischen Befreiungsbewegung. „Diese Gebiete sind Stützpunktgebiete der Guerilla, aber sie sind vor allem das ideologische Herz der Partei“, erklärt Özgür Pirr Tirpe, ein Vertreter der kurdischen Revolutionären Jugendbewegung „Tevgera Ciwanên Şoreşger“ (TCS) gegenüber dem LCM. „Hier werden die Kader*innen ausgebildet. Strategische Zentren sind hier ebenfalls angesiedelt. Seit mehr als 30 Jahren nutzt die Bewegung diese Berge in Südkurdistan als Hauptquartier und Rückzugsgebiet zugleich.“
Die türkische Regierung weiß: Wenn sie diese Berge nicht knacken kann, kann sie die militärische, letztlich genozidale „Lösung“ der Kurdenfrage nicht umsetzen, die sie zum eigenen Machterhalt braucht. Deshalb steht dieses Gebiet seit Jahren unter Dauerbombardement der Luftwaffe. Doch allein durch Drohnen und Kampfjets ist den Guerillakämpfern nicht beizukommen. Ein weit verzweigtes Höhlensystem und jahrzehntelange Erfahrung im Konflikt mit der NATO-Armee garantieren die Sicherheit der PKK-Kämpfer*innen.
Deshalb verheizt die Türkei in regelmäßigen Abständen Soldaten beim Versuch, auch am Boden in die Medya-Verteidigungsgebiete einzudringen. „Die Region ist schwer zugänglich und äußerst bergig. Dementsprechend war es für die türkische Armee auch nie möglich, hier vollständig einzudringen. Es war immer nur möglich einzelne Hügel zu besetzen, aber unter dem Druck der HPG-Gerila mussten sie sich immer wieder zurückziehen“, sagt Özgür Pirr Tirpe.
Dementsprechend setzt sich auch die Strategie der derzeit laufenden, direkt im Anschluss an „Operation Klaue“ begonnenen „Operation Klaue 2“ aus verschiedenen Elementen zusammen. Der Luftraum wird andauernd mit Drohnen überwacht, Kampfjets bombardieren alles, was sich bewegt – meistens Zivilist*innen aus den Dörfern rund um die umkämpften Regionen. Gleichzeitig versuchen Hubschrauber Spezialeinheiten auf Hügeln abzusetzen, die dort Stützpunkte errichten sollen. Die allerdings haben oft eine relativ kurze Halbwertszeit, bevor die Guerilla sie wieder einreißt oder sprengt.
Kurdische Kollaborateure
Hauptschauplatz dieses Kampfes ist die Region Xakurke (Hakurk) im Nordirak. Und hier kommt eine weitere Kraft ins Spiel: Die „Demokratische Partei Kurdistans“ (KDP). Die eng mit Deutschland, den USA und der Türkei verbundene Gruppe herrscht in Teilen der Kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak. Basierend auf einem feudalen Clansystem lebt sie vom Ausverkauf der Ressourcen des Landes, stets bereit den ausländischen „Partnern“ jeden Dienst zu erweisen, der ihr die Macht über die eigene Bevölkerung sichert.
„Die KDP beschreibt sich selbst als patriotisch-nationalistische Partei die für die Freiheit Kurdistans kämpfen würde“, lacht Özgür Pirr Tirpe. „Tatsache aber ist, dass diese Partei in den letzten 16 Jahren der Herrschaft des Barzani-Clans nichts anderes war, als ein die Bevölkerung ausbeutendes Machtinstrument. Das gesamte Ölgeschäft, welches einen Großteil des Reichtums Südkurdistans darstellt, ist in den Händen dieser Familie zentralisiert. Auch sämtliche Posten innerhalb der KDP bleiben innerhalb der Familie Barzani.“
Der Barzani-Clan unterhält indes enge ökonomische Beziehungen zum Erdogan-Regime in der Türkei. Die Sprösslinge des Clans sind häufig in Ankara zu Gast. Und im Gegenzug für die Gunst der AKP-Diktatur hilft die KDP, wann immer sie kann, bei den Angriffen auf andere kurdische Parteien, insbesondere jenen, die der PKK nahe stehen. Derzeit stellt die KDP Stützpunkte ihrer Peschmerga-Truppen der türkischen Armee zur Verfügung, lässt türkische Soldaten frei in den Städten der Kurdischen Autonomieregion operieren und deckt den türkischen Geheimdienst MIT.
Unter der Ägide der KDP wurde in den vergangenen Jahren der Nordirak zu einem Gebiet, in dem es keine eigenen Hoheitsrechte mehr gibt. Die Türkei kann – auf dem Boden wie in der Luft – kommen und gehen, wie es ihr beliebt. Genau das dürfte ohnehin eines der Ziele der Besatzungsoperation sein: Das Erdogan-Regime hat mehr als einmal erklärt, es möchte sich Gebiete des früheren osmanischen Reichs wieder angliedern. Und dazu gehört eben auch die heute umkämpfte Region.
Ausweitung auf Nordsyrien?
Der Feldzug Erdogans könnte sich in naher Zukunft erneut ausweiten. Das erklärte Ziel der türkischen Regierung ist es, die Selbstverwaltungszone im Norden Syriens, die unter dem Namen Rojava internationale Bekanntheit erlangte, zu vernichten. Mit der seit 2018 andauernden Besatzung in einem Teil dieses Gebiets, dem nordwestsyrischen Afrin, begann dieser Angriff. Doch auch die verbleibenden Provinzen zwischen Kobane und Derik möchte die Türkei besetzen. Dass sie das bislang nicht konnte, liegt an den internationalen Konstellationen in Syrien: Die Interessen der USA und Russlands, von Damaskus und dem Iran ergaben bisher keinen Spielraum für einen Einmarsch.
Die Türkei beschießt zwar regelmäßig über die Grenze kurdische Dörfer und Städte, rüstet Islamisten auf, die Terroranschläge durchführen und setzt Felder in Brand, um die Bevölkerung zu vertreiben. Doch ihr Wunsch, einzumarschieren und sich das Gebiet einzuverleiben, blieb bislang ohne Genehmigung aus Russland oder den USA.
Dennoch könnte, so sind sich die kurdischen Verbände in Syrien einig, bald ein Vorstoß aus dem Norden drohen. Die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ bereiten sich auf den Krieg vor. Und das multiethnische Militärbündnis SDF (Demokratische Kräfte Syriens), das der Selbstverwaltung in Nordsyrien unterstellt ist, kündigte an, im gesamten Grenzgebiet der Türkei zu Syrien zurückschlagen zu wollen, sollte Ankara angreifen.
Auch Özgür Pirr Tirpe hält das Szenario nicht für allzu unwahrscheinlich: „Derzeit sieht es so aus, als könnte sich der bisherige Krieg niederer Intensität zu einem Krieg hoher Intensität entwickeln.“
Autoren: Peter Schaber und Hubert Maulhofer
Bildquelle: ANF