Zwei Strategien, ein Ziel: Die USA und die kurdische Bewegung in Syrien
Am Mittwoch verkündete US-Präsident Donald Trump den Rückzug der us-amerikanischen Truppen aus Syrien. Der Islamische Staat sei geschlagen, erklärte der wie immer sichtlich verwirrte Staatenlenker. Die Soldaten können also nachhause zurückkehren. Der Vorstoß kam just zu einem Zeitpunkt, zu dem der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan seine Vernichtungsdrohungen gegen die Kurd*innen in Rojava erneut intensivierte und einen weiteren Einmarsch im Norden Syriens ankündigte. Wenige Stunden zuvor war bekannt geworden, dass Washington einem lange debattierten Verkauf von Patriot-Raketen im Wert von 3,5 Milliarden US-Dollar an Ankara zustimmt. Und so ließ sich vermuten, dass es einen umfassenden Syrien-Deal zwischen den Regierungen Trumps und Erdogans gegeben hat.
So weit, so klar. Wenn es nun aber darum geht, die Rolle des US-Imperialismus in Syrien zu bewerten, ging bei vielen Kommentator*innen erneut alles in die Hose. Die einen – wie etwa der Linkspartei-Parlamentarier Alexander S. Neu – bewerteten Trumps Rückzug als eine Art erfreulichen friedenspolitischen Move. Ganz so, als ob die USA ohne erkennbare Not gegen ihre eigenen Interessen handeln würden.
Jene selbsternannten „Antiimperialisten“, deren Analyse seit Jahren darin besteht, die syrische, russische und iranische Regierung zu selbst- und interessenlosen Wahrern des Völkerrechts zu verklären, gingen noch einen Schritt weiter: Sie freuten sich über den nun anstehenden Genozid an den Kurd*innen, denn man habe denen ja immer schon gesagt, dass mit den Vereinigten Staaten nicht gut Kirschen essen ist. Das haben die jetzt davon! Wenn es darum geht, im Internet Recht zu behalten, ist den Helden der Tastaturen kein Blutzoll zu hoch – solange es nicht das eigene Blut ist.
Allerdings griffen nicht nur diejenigen ins Klo, die ohnehin nie irgendwas in der Region verstanden haben, sondern auch viele Unterstützer*innen der Rojava-Revolution aus dem eher liberalen Spektrum. Überrascht von der Bösartigkeit der US-amerikanischen „Freunde“ verloren sie sich in moralischen Appellen an die Vereinigten Staaten, als ob politische Entscheidungen des Imperialismus von gutem Gewissen und Handschlagqualitäten abhingen.
Tödliche Umarmung
Blicken wir zurück. Nach der Verteidigung der kurdischen Grenzstadt Kobanê gegen den Islamischen Staat begann ein Bündnis zwischen den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ und ausländischen Staaten, die ebenfalls den IS zurückdrängen wollten. Militärisch wurde der Islamische Staat dann Stück für Stück zurückgedrängt – mit sehr hohen Verlusten gerade auch unter den kurdischen Kräften. Im Zuge der Befreiung syrischen Territoriums wurden die Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) aufgestellt, in der arabische, assyrische und kurdische Milizen zusammen kämpften. Die SDF wurden von den USA als „Alliierte“ bezeichnet und sahen ihrerseits in diplomatischen Verlautbarungen die Vereinigten Staaten als geschätzte „Partner“. Es gab Waffenlieferungen in größerem Ausmaß und Luftunterstützung.
Gleichzeitig hatte zumindest der politisch bewussteste Teil der kurdischen Bewegung – also all jene, die sich an den Ideen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) orientieren – von Anbeginn an keine Illusionen in dieses Bündnis. Es sei ein „taktisches Bündnis“, man wisse ganz genau, dass die USA und die kurdische Bewegung letztlich völlig entgegengesetzte Ziele verfolge. Im Januar 2018 betonte Riza Altun, einer der führenden Guerilla-Kämpfer der PKK, das erneut: „Es wird von uns ein anti-imperialistischer Kampf geführt. Deshalb kann eine anti-imperialistische Kraft nicht sagen, dass die Imperialisten sie verraten hätte. So wie der globale Imperialismus und die regionale hegemoniale Linie Ausdruck einer strategischen Situation ist, so ist auch das von den Kurden hervorgebrachte Paradigma Ausdruck einer klaren Linie und einer eindeutigen Haltung. Die strategischen Partner unserer Linie sind die globalen demokratischen Kräfte, die gesellschaftlichen Kräfte und die anti-systemischen Kräfte.“
Den Schreibtisch-Antiimperialist*innen im Westen reichte diese Erklärung nie. Fuchsteufelswild zogen sie in den einzigen Krieg, den sie je kennengelernt haben – den im Internet. Sie seien Verräter, Fußsoldaten des Imperialismus ließen sie die Kurd*innen per Facebook und Blogposts wissen.
Dabei hätten die Freund*innen starker Netz-Sprüche nicht einmal der PKK – die seit 40 Jahren gegen die NATO im Mittleren Osten kämpft – vertrauen müssen. Sie hätten sich nur ansehen müssen, was der US-Imperialismus selbst über seine Interessen mit Bezug auf das ungleiche Bündnis erklärte.
Zur Zeit der Präsidentschaften Barack Obamas und Donald Trumps gab es zahllose Papiere diverser Think Tanks, die eine Strategie klar formulierten: Man müsse eine doppelte Stoßrichtung verfolgen. Die Institutionen der Kurd*innen in Nordsyrien sollen durch Zugeständnisse und indirekten Zwang (also die durch die Drohungen der Türkei entstehenden Notwendigkeiten der Verteidigung) vereinnahmt werden, während man gleichzeitig die Türkei im Kampf gegen die PKK unterstützt. Das Ziel: Die kurdische Bewegung tatsächlich zu Proxies der USA machen, so wie die rechte kurdische Regionalregierung Mesud Barzanis im Nordirak eine ist. Dafür hätte man aber das politisch-ideologische Rückgrat der Bewegung, die PKK-Guerilla in den Bergen ausschalten oder zumindest von Rojava entfremden müssen.
Diese Strategie, wäre sie aufgegangen, hätte die Revolution in Rojava auch ohne Einmarsch zerstört. Sie wäre durch die tödliche Umarmung des US-Imperialismus zu einem von ihren Gründungsideen entfremdeten Gebilde geworden, dass sich nicht von anderen derartigen regionalen Einflusszonen im Mittleren Osten unterscheidet.
Militärische Vernichtung
Zu Beginn seiner Präsidentschaft verfolgte auch Donald Trump noch diese Strategie. Doch spätestens mit der Befreiung Raqqas deutete sich an, dass Washington einen anderen Weg wählen könnte, um seine Interessen durchzusetzen. Die Rückbesinnung auf den alten, treuen Verbündeten, die Türkei, spielte eine stärkere Rolle. Auch, weil Ankara seinerseits in einer guten Position war. Erdogan nutzte das Bedürfnis Russlands, seine Südflanke zu schützen und Teile der dschihadistischen, bewaffneten Opposition in Syrien unter Kontrolle zu bringen, geschickt aus. Für Moskau war es wesentlich bedeutender, die Türkei zumindest ein Stück weit von der Nato zu entfremden, als „die Integrität von syrischem Territorium“ zu schützen – wie die unisono von Russland und seinen linken Fans vorgetragene Rhetorik immer betonte.
Die von Erdogan geschickt genutzten Widersprüche zwischen Moskau und Washington führten zur Tolerierung des türkischen Einmarsches in der nordsyrischen Provinz Afrin Anfang 2018 durch beide Großmächte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war die taktische Allianz zwischen USA und kurdischer Bewegung eigentlich vorbei.
Natürlich bemühte man sich von kurdischer Seite es so lange wie möglich aufrecht zu erhalten, weil es den militärischen Vernichtungswillen Ankaras beschränkte und auch im Kampf gegen die verbleibenden Truppen des Islamischen Staates durch Luftunterstützung die Chance bot, eigene Kräfte zumindest ein wenig zu schonen. Die USA machten gleichzeitig immer weniger Hehl daraus, dass die Zeiten der vermeintlichen „Partnerschaft“ endgültig vorbei waren. Die gezielte Ermordung des hochrangigen Funktionärs der kurdischen Bewegung, Zeki Sengali, im Sengal-Gebirge durch Türkei und USA, das Kopfgeld, dass die USA auf drei Führungskader der PKK aussetzten sowie die kürzlich erfolgten Luftschläge gegen das Flüchtlingslager Maxmûr sowie gegen ezidische Gebiete im Sengal waren die Vorboten der jetzigen Freigabe Nordsyriens für die Türkei.
Die Ankündigung des militärischen Abzugs durch Trump wiederum ist das klare Signal: Der US-Imperialismus will seine Einflusssphären nicht mehr durch die Strategie der Vereinnahmung der kurdischen Bewegung und ihrer arabischen Verbündeten sichern, sondern durch direktes Engagement des NATO-Partners Türkei. Das wiederum kann nur durch die militärische Zerschlagung von YPG und YPJ funktionieren, die Ankara durch einen Genozid, zumindest aber die ethnische Säuberung durch Vertreibung der kurdischen Bevölkerung in den betreffenden Gebieten absichern will. Der Plan ist, das Modell Afrin auf die weiteren Kantone Nordsyriens, also Cizire und Kobanê, auszudehnen. Das Gebiet soll durch eine Koalition aus türkischer Armee und zehntausenden Dschihadisten eingenommen und dann schrittweise unter eine Ankara hörige Verwaltung gestellt werden. Dabei wird geplündert, gemordet, vergewaltigt.
Der subjektive Faktor
Dass die USA jetzt das machen, was die Arbeiterpartei Kurdistans eigentlich immer vorhergesagt hat, macht weder rückwirkend das taktische Bündnis falsch, noch bedeutet es, dass alles verloren ist. Zum einen ändern sich mit dem Abzug der USA (sollte er tatsächlich stattfinden ) die geopolitischen Bedingungen erneut. Auch Damaskus kann kein Interesse an einer türkischen Schutzzone für ehemalige IS-Kämpfer, al-Qaida-Gruppen und andere Dschihadisten im Norden Syriens haben. Und wie Russland reagiert, wenn es merkt, dass die kleinen Haarrisse im bewährten Verhältnis zwischen USA und Türkei wieder gekittet werden, bleibt auch abzuwarten.
Für uns ist aber wichtiger : Der geopolitische Blick auf Kräfteverhältnisse ist für sich allein genommen nie ausreichend. Der Mittlere Osten ist kein Schachbrett, auf dem irgendwelche allmächtigen Akteure ihre Pläne 1:1 umsetzen könnten. Die kurdische Bewegung ist militärisch wie politisch ein eigenständiger, starker Faktor. Sie ist tief in der Bevölkerung verankert, hat Millionen Unterstützer*innen. Sie bereitet sich auf die Verteidigung ihrer Gebiete vor und die Guerilla der PKK hat bereits angekündigt, auch auf dem Territorium der Türkei eine Antwort auf jeden Angriff auf Rojava geben zu wollen. Eine kampflose Aufgabe des Erreichten wird es nicht geben. Und auch wir hier im Westen sollten nicht in Resignation oder Verzweiflung verfallen.
Was die Freund*innen aus Kurdistan uns allen hier im Westen immer und immer wieder gesagt haben, ist: Die linken, sozialistischen und demokratischen Kräfte weltweite sind unsere langfristigen und strategischen Partner. Und als solche haben wir nun eine Aufgabe. In den Ländern, in denen wir leben, müssen wir den Kampf zur Verteidigung der Rojava-Revolution führen. Selbst wenn wir uns ihr nicht gewachsen fühlen, bleibt es unsere Aufgabe. Niemand nimmt sie uns ab. Jede Demonstration, jede Aktion, jede noch so kleine Handlung wird in den kommenden Tagen und Monaten zählen. Auf diese Arbeit sollten wir uns nun konzentrieren, anstatt in Trauer oder Verwunderung darüber zu verfallen, dass diejenigen, die nie unsere „Freunde“ waren, jetzt für alle offensichtlich nicht unsere „Freunde“ sind.
# Peter Schaber