Eine deutsche Linke in den Fraueneinheiten Nordsyriens. Gespräch mit der Internationalistin Arîn
Arîn ist aus Deutschland in den Norden Syriens gereist, um sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen. LCM-Reporter Bernd Machielski traf die Internationalistin während ihrer Ausbildung in der Akademie der YPJ-International
Du befindest Dich gerade in der Akademie für Internationalistinnen der YPJ in Rojava. Wie lange bist du schon hier und was war deine Motivation, Dich an der Revolution in Kurdistan zu beteiligen?
Ich bin seit ungefähr einem halben Jahr in Rojava. Mich hat vor allem motiviert, dass ich das Gefühl hatte, in meinem politischen Kontext in Deutschland zu stagnieren. Es war das Gefühl, Feuerwehrpolitik zu betreiben, gute Absichten zu haben – aber nicht die richtigen Mittel, Wege und Analysen, um diese umzusetzen. Geschweige denn, die eigenen Absichten verständlich machen und andere Menschen dadurch organisieren zu können.
Mir hat die Langzeitperspektive gefehlt. Wir wissen oft gut, was wir nicht wollen. Aber was wir wollen, da hat die Szene wenig Konkretes zu bieten. In Kurdistan dagegen sehe ich eine Bewegung, die es geschafft hat, eine revolutionäre Perspektive in die Praxis umzusetzen. Eine Ideologie und die dazu notwendige Praxis zu entwickeln. Das alles in Verbindung mit der Gesellschaft, um den demokratischen Konföderalismus aufzubauen.
Warum hast du dich für die Akademie der YPJ-International entschieden und nicht für eine Akademie der zivilen Strukturen wie z.B. TEV-DEM bzw. Kongreya Star?
Ich denke, es ist für jede Frau wichtig, sich in Sachen Selbstverteidigung zu bilden. Das bedeutet hier nicht nur militärische Selbstverteidigung, sondern es geht um alle Bereiche des Lebens, ideologische wie praktische. Auch in den zivilen Strukturen hätte ich die Möglichkeit gehabt, mich nur mit Frauen zu organisieren, aber ich denke gerade in einer militärischen Struktur ist der Fokus nochmal anders.
In einer patriarchalen Gesellschaft, ist es wichtig, das Gefühl zu erlangen, sich in allen Bereichen autonom organisieren zu können. Und ebenso wichtig ist es, seine eignen Grenzen und Kapazitäten und die seiner Freundinnen zu kennen. Physisch, psychisch, mental und ideologisch. Und für alles gemeinsam die Verantwortung zu übernehmen.
In einer Gesellschaft, in der uns Frauen immer erzählt wird, wir seien schwach und brauchten Männer, um Dinge schaffen zu können, muss ich erst wieder lernen, was ich alles kann. Und überhaupt muss ich viele Dinge lernen, weil sie mir als Frau nie gezeigt wurde. Wenn mir zum Beispiel das technische Wissen fehlt, weil die Männer in meinem Umfeld dachten, es ist für mich nicht wichtig. Oder weil sie es nicht als notwendig erachteten, dass ich das Wissen oder die Erfahrung darüber bekomme, weil sie ja da sind und sich darum kümmern. Egal ob es der Vater, der Freund, Mitbewohner oder Arbeitskollege ist. Hier hab ich eine Struktur, in der genau dafür Raum gegeben wird. Im praktischen wie im theoretischen.
Wie sieht das konkret aus?
Wir Frauen lernen von Frauen. Und wir erfahren, dass wir alles autonom organisieren können. Ich denke, es ist generell wichtig, dass gerade Frauen diese Revolution auch militärisch verteidigen. Diese Positionen und Rollen einnehmen, um mit dem Bild des „starken Mannes“ zu brechen – nach innen und außen. Für mich haben die Frauen der kurdischen Bewegung das auf jeden Fall geschafft. Sie sind die Vorreiterinnen dieser Revolution. Es geht dabei auch darum, neue und andere Methoden und Umgangsweisen zu entwickeln und zu leben, fern ab von der männlich-autoritären Logik.
Zudem geht es auch darum, überhaupt wieder herauszufinden, was es bedeutet, Frau zu sein. Auf der einen Seite, was lehrt uns das System, wie Frauen zu sein haben. Und auf der anderen Seite die Geschichte der Frauen der letzten 1000 Jahre, die wir aufarbeiten und Analysen daraus entwickeln.
Wie sieht euer Tag in der Ausbildung aus?
Unser Tag beginnt mit dem gemeinsamen Aufstehen. Früh am Morgen ist erst mal Sport, dann Frühstück, Sprachunterricht, Bildung, Mittagessen, Mittagspause, praktische Arbeiten, Bildung, Sport, Abendessen, Tekmil, gemeinsames Nachrichtenschauen, Zeit für Auswertungen der Bildung, eigene Arbeiten – beispielsweise Interviewfragen beantworten -, Texte schreiben, gemeinsame Diskussionen, gemeinsames Lesen oder zusammen kurdisch lernen.
Dann geht es ins Bett. Nachts wird die Bewachung des Camps aufgeteilt. Manchmal hat man Küchendienst, dann ist man den ganzen Tag für das Essen und die Küche verantwortlich. Es gibt verschiedene Bereiche der Bildung hier – ideologische, militärische, medizinische. Und eine Rundreise durch Rojava war auch dabei, während der wir verschiedene Orte besuchten, Institutionen und Menschen kennenlernten.
Welches Erlebnis hat dich bisher besonders beeindruckt?
Es gab viele beeindruckende Ereignisse muss ich sagen. Eines davon war der Tag, an dem wir den Leichnam Sehid Zekî Sengalîs mit vielen Freundinnen aus ganz Rojava zu seiner Beisetzungszeremonie am 18. August 2018 nach Sengal gefahren haben. Nach einigen Stunden Fahrt in einem unglaublich langen Autokorso, der alle Autos aus den verschiedenen Städten und den dortigen Strukturen bündelte, sind wir an der Grenze von Rojava nach Sengal angekommen. Mitten in der Wüste. Es hatte 43 Grad und die Autos kamen langsam zum stocken, beim ersten Grenzkontrollpunkt. Es wurde klar: Die irakischen Grenzsoldaten lassen niemanden in Richtung Sengal durch. Nach einigen Minuten Verwirrung kam die Information von einigen Freundinnen, dass alle Frauen nach vorne gehen sollen und versucht wird, „durchzubrechen“.
Ich schnappte mir die Freundinnen, mit denen ich im Auto war und wir fingen an, mit all den anderen Frauen in Richtung Grenze zu laufen. Die meisten Frauen waren zwischen 50 und 90 würde ich sagen. Alte Frauen, mit ihren weißen Tüchern um den Kopf und traditionellen Tättowierungen im Gesicht und auf ihren Händen. Diese Frauen, die mehr Entschlossenheit ausstrahlten, als ich auf irgendeiner Sponti in den letzten Jahren in Deutschland spüren konnte.
Natürlich waren auch viele junge und generell Frauen aller Altersgruppen dabei. Ich lief also zwischen unglaublich vielen Frauen und Mädchen von sechs bis 90 Jahren Richtung Grenze. Und die Grenzsoldaten versuchten die ersten Reihen der Frauen aufzuhalten. Man hörte Parolen, Beschimpfungen, warum sie uns nicht durchlassen und dann passierte es. Die Frauen ganz vorne schafften es, sich zwischen den Soldaten, die mit schweren Waffen bereit standen, durchzudrücken.
Wir beschleunigten das Tempo, um die entstehenden Lücken nicht zu verpassen. Die Soldaten waren verwirrt und überfordert. Sie versuchten, uns irgendwie aufzuhalten, aber sie wussten auch nicht so recht, was sie jetzt tun sollen. Auf der anderen Seite der Grenze ging es weiter. Weitere schwere Waffen, Fahrzeuge wurde gerammt, um unsere Freunde zu stoppen. Die Männer wurden gerufen, damit auch sie die Grenze überqueren, da es geschafft wurde, den Kontrollpunkt zu „öffnen“.
Der Zug mit Menschen stoppte dann. Die Forderung war, dass wir mit den Autos und vor allem mit dem Sarg von Sehid Zekî über die Grenze fahren können. Die Bewegung organisierte, dass sofort Autos kommen, um alle mit Wasserflaschen zu versorgen. Diese Situation an der Grenze ging einige Stunden. Ich dachte schon nach einer halben Stunde ohne Schatten in der Wüste, ich werde ohnmächtig von der Hitze. Aber der Moment, wenn man die Mütter dieser Bewegung um sich hat, wie sie in ihrem Alter weiter Widerstand leisten, Parolen und Lieder singen und nicht „aufgeben“, da merkt man: Es gibt viele Grenzen in einem selbst, die es zu überwinden gilt. Da habe ich mir gedacht, dass wir alle soviel stärker sein könnten.
Was sind für dich Ansprüche an Internationalist*innen in der Revolution in Rojava?
Für mich hat das mehrere Seiten. Zum einen ist mir als Internationalistin klar, dass mich hier keiner braucht für diese Revolution. Die kurdische Bewegung ist sehr gut in der Lage, sich ohne uns weiterzuentwickeln und zu bestehen. Auf der anderen Seite ist es eine Bewegung, die auch uns Internationalistinnen sehr viel Wert beimisst. Es ist eine Bewegung, die uns die Möglichkeit gibt, Teil zu haben, zu lernen und Verantwortung zu übernehmen.
Für mich ist es unsere Aufgabe, diese Möglichkeit ernst zu nehmen, uns anzustrengen, auch an Tagen und in Phasen, in denen es nicht leicht ist. Es ist wichtig, dass wir immer unser Bestes geben und an uns selbst arbeiten. Natürlich wollen wir auch unsere eigenen Ideen, Kritiken und Erfahrungen einbringen, aber vor allem müssen wir uns zuerst einmal auf die Realität hier einlassen. Danach können wir immer gemeinsame Erfahrungen, Gedanken, Analysen, Hintergründe und Kritiken teilen. Ich glaube, das ist ein guter Weg, um etwas über sich selbst und auch über die Bewegung zu lernen.
Aktuell gibt es intensivierte Angriffe des türkischen Staates im Grenzgebiet von Rojava. Wie sollte in Europa auf diese Angriffe reagiert werden?
Ich denke, wir haben die Verantwortung, an unserer Organisierung zuhause zu arbeiten, uns ideologisch zu bilden, und unsere Persönlichkeit zu entwickeln. Wenn wir militante Persönlichkeiten werden, können wir anders an Situationen, Prozesse, Strategien herangehen. Und wir werden neue Wege finden, uns zu organisieren.
Aber das ist natürlich ein langer und anstrengender Weg. Er ist trotzdem notwendig und nicht zu viel verlangt, wenn man darüber nachdenkt, unter welchen Bedingungen die Menschen hier kämpfen, sich entwickeln, eine neue Gesellschaft organisieren und ihre Revolution verteidigen. Hier ist keine Zeit für eine Pause. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob sich die Menschen in Europa dieser Realität bewusst sind.
Für die aktuelle Situation würde ich vorschlagen, die Aktionen gegen die Verantwortlichen der Waffenexporte und Unterstützerinnen des türkischen Staates weiter zu intensivieren. Ihre Verbrechen sollten sichtbar gemacht werden. Gerade in Zeiten, in denen die Angriffe auf Rojava intensiver werden, ist das für mich ein klares Signal, dass auch Aktionen gegen die Institutionen der Täter in unseren Ländern intensiver werden sollten. Denn jeder Panzer, jedes Gewehr, jede Kugel, die hier nicht ankommt, kann nicht gegen die Revolution verwendet werden. Es geht aber auch um diejenigen, die den Krieg finanziell unterstützen, zum Beispiel Deutsche Bank oder Commerz Bank. Und natürlich um diejenigen, die indirekt mit dem Kriegsgeschäft Profite erwirtschaften.
Eine weitere Aufgabe ist es, diese Revolution, ihre Ideen, Werte, ihre Ideologie, ihre praktische Umsetzung weiter zu verbreiten, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und nicht zuzulassen, dass dieses alternative Leben verschwiegen wird, um das Feuer der Revolution einzudämmen.