„Nicht nur einzelne Angriffe, sondern eine politische Strategie“

6. November 2018

Über die jüngsten Angriffe der Türkei auf die nordsyrische Selbstverwaltung in Rojava und die Rolle des deutschen Imperialismus. Ein Gespräch mit Özgür Pirr Tirpe

Seit dem 28. Oktober 2018 greift die türkische Armee über ihre Landesgrenzen hinweg vermehrt Dörfer im Grenzgebiet der nordsyrischen Selbstverwaltung in Rojava an. Schusswechsel im Grenzgebiet sind allerdings nichts Neues, es gibt sie seit Jahren. Was ist nun vorgefallen? Wozu dienen diese Angriffe und wie ist die aktuelle Lage in den betroffenen Gebieten?

Özgür Pirr Tirpe ist Mitglied der Jugendunion Rojavas (Yekitiya Ciwanen Rojava, YCR). Bernd Machielski traf ihn für lower class magazine in Qamislo, Nordsyrien

Die neuesten Angriffe haben genau einen Tag nach einem Gipfeltreffen zwiscchen der Türkei, Deutschland, Russland und Frankreich am 27. Oktober in Istanbul begonnen. Dort sollte eine sogenannte „Lösung“ der Syrienkrise besprochen werden. Am Tag darauf begannen die Attacken auf den Kanton Kobane.

Die Angriffe finden westlich der gleichnamigen Stadt Kobane statt, in den Gebieten, die an den Euphrat angrenzen. Dort wurden mit schweren Waffen und Artillerie Stellungen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ angegriffen. Ein Mitglied der Einheiten ist dabei gefallen. Am darauffolgenden Tag wurde deutlich, dass es sich aktuell nicht nur um einzelne Angriffe handelt, sondern um eine politische Strategie.

Was meinst Du damit genau?

Die Angriffe wurden ausgeweitet, z.B. auf die Stadt Girê Spî. Auch hier wurden mit schweren Waffen die umliegenden Dörfer beschossen, auch hier wurde ein Genosse der Hezên Xwe Parastîn, den Selbstverteidigungseinheiten, getötet und ein junges Mädchen aus der Zivilbevölkerung von einem türkischen Scharfschützen mit einem gezielten Kopfschuss hingerichtet.

Hier sehen wir die gezielte Strategie des türkischen Staates, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und zum Wegzug zu zwingen. Um den weltweit gefeierten „Welt-Kobane-Tag“ am 1. November haben die Angriffe sich auf den gesamten Grenzstreifen zwischen Kobane und Qamislo ausgeweitet. Unsere Kräfte haben diese Angriffe entschlossen beantwortet. Hierbei wurde mindestens ein Fahrzeug der türkischen Armee zerstört. Weder die Türkei noch wir haben aber bisher die Grenze überschritten.

Es gibt aktuell zudem Informationen, dass die Türkei im Grenzgebiet Mitglieder der islamistischen Freien Syrischen Armee, FSA, und weiterer dschihadistischer Banden, vor allem aus Idlib und dem besetzten Afrin, zusammenzieht, neu ausstattet und auch ausbildet. Sie bereiten diese Milizen auf eine mögliche Operation gegen uns vor.

Wie verhalten sich die anderen Kräfte in Rojava und das syrische Regime zu den Plänen der Türkei?

Seit zwei Tagen gibt es gemeinsame Patrouillen der internationalen Koalition und der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), seitdem ebben die Angriffe etwas ab. Das zeigt, dass der türkische Staat aktuell um die Erlaubnis für weitere Angriffe weltweit buhlt. Es gibt gerade viel Bewegung, jede Seite, die in Syrien beteiligt ist, versucht ihren eigenen Entwurf für Syrien durchzusetzen. Russland schweigt zu den aktuellen Ereignissen, die USA auch. Russland möchte seinen Einfluss ausweiten und hält am Projekt der Deeskalationszone in Idlib fest. Ob das im Interesse des Regimes ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Seitens des syrischen Regimes gibt es gerade keine nennenswerte Reaktion.

Wir müssen aber sehen, dass das Regime kaum noch Einfluss in Syrien hat. Im Westen des Landes politisch schon, aber militärisch hat es kaum Handhabe. Der Luftraum wird kontrolliert von Russland und den USA: Die Einheiten die für den syrischen Staat kämpfen, sind, abseits einiger weniger leicht bewaffneter Milizen, Einheiten der libanesischen Hisbollah, der iranischen Revolutionsgarden oder russische Söldner.

Du hattest ja bereits das Treffen Deutschlands, der Türkei, Russlands und Frankreichs angesprochen. Wie können wir dieses Treffen bewerten?

Das Gipfeltreffen ging eindeutig auf das Treffen von Merkel und Erdogan im September in Berlin zurück. Auch Russland und Frankreich haben teilgenommen, aber die Initiativkräfte waren Deutschland und die Türkei. Der deutsche Wirtschaftsminister hatte sich einige Tage zuvor mit seinem türkischen Pendant Berat Albayrak, dem Schwiegersohn Erodgans, getroffen, um zum Beispiel über ein milliardenschweres Bahnprojekt durch die Türkei zu sprechen, die sogenannte „Bagdad-Bahn 2.0“.

Das Signal war klar: „Trotz aller oberflächlichen Verwerfungen, sind unsere Beziehungen gut und gestärkt“. Eine neue Epoche deutsch-türkischer Kooperationen solle jetzt gestartet werden. Die wirtschaftlichen Interessen sind grundlegend für das Beziehungssystem des deutschen und türkischen Staates. Dieses Treffen ist ein Zeichen dafür, dass der deutsche Imperialismus immer stärker versucht seine Interessen im mittleren Osten durchzusetzen – militärisch wie wirtschaftlich.

Die Unterstützung der KDP-Peschmerga ab 2014, die Unterstützung der Türkei, all das können wir verstehen als den Versuch, sich ein eigenes Standbein im mittleren Osten, quasi einen Türöffner, aufzubauen. Traditionell, seit 150 Jahren, ist der Partner für Deutschland hierbei die Türkei.

Am Ende des gemeinsamen Gipfels kündigte Erdogan in der Anwesenheit aller anderen Staatschefs den Angriff auf Rojava sogar an. Man werde nicht eine einzige „Terrororganisation“ an der Grenze der Türkei zulassen und man werde eine Offensive östlich des Euphrats beginnen. Alle Anwesenden schwiegen. Wer schweigt stimmt zu. Diese Verbindungen sind offensichtlich. Der Gipfel hat der Türkei den Rücken gestärkt.

Die Auseinandersetzungen zwischen der kurdischen Bewegung und der Türkei sind ja nicht auf Kobane begrenzt. Wie ist die allgemeine militärische Lage?

Mit dem Angriff auf das nordsyrische Afrin am Anfang des Jahres hat der türkische Staat nicht nur einen Krieg gegen Rojava, sondern gegen das gesamte kurdische Volk begonnen. Zeitgleich zu Afrin haben auch die Angriffe und die Besetzung von Teilen Südkurdistans (Grenzgebiet zwischen Türkei und dem Irak, d.Red.) begonnen. Seitdem kommt es dort zu heftigen Gefechten ihrer Einheiten gegen die Guerilla der HPG und der YJA-Star. Erdogan versprach im Wahlkampf dieses Jahr erneut eine Offensive auf die Kandilberge. Wir können sehen, dass das faschistische AKP-MHP-Regime seine Legitimation zu einem Großteil durch den Kampf gegen unsere Bewegung erhält. Aber ihre Einheiten können nicht einfach so vorrücken, sie haben hohe Verluste und erzielen kaum Fortschritte. Auch in Bakur (Nordkurdistan, Südosten der Türkei, d.Red.) war das Jahr geprägt von einem intensiven Krieg unserer Einheiten gegen die türkische Armee, in einer aktuellen Bilanz der HPG heißt es, dass innerhalb von fünf Monaten 1149 türkische Soldaten getötet wurden.

Wichtig ist zu verstehen, dass der jetzt kommende Winter eine enorme Bedeutung hat. Traditionell hat die Guerilla im Sommer und die türkische Armee, aufgrund ihrer technischen Überlegenheit, im Winter die Überhand. Das heißt, dass sie in den Sommermonaten unglaublich viele Kräfte für den Krieg gegen die Guerilla binden müssen, aber im Winter freier agieren können. Der Städtekrieg 2016 und auch die Offensive gegen Afrin wurden beide in den Wintermonaten durchgeführt.

Was bedeuten die türkischen Angriffe für das Leben der Zivilbevölkerung in Rojava? Und welchen Einfluss haben sie auf den Kampf gegen den Islamischen Staat? Die Offensive gegen die letzten Gebiete des IS in Deir-Ez-Zor wurde ja zum Beispiel vor einigen Tagen gestoppt.

Wir sollten die Angriffe der Türkei nicht überschätzen. Dennoch nehmen wir sie natürlich ernst. Aber auf das Leben der Bevölkerung haben sie nur geringen Einfluss. Und militärisch werden natürlich auch gewisse Vorbereitungen getroffen.

Der Stopp der Offensive in Deir-Ez-Zor ist einerseits notwendig aufgrund der aktuellen Lage, aber natürlich auch ein Signal an die Weltöffentlichkeit und die internationale Koalition. Wir führen hier einen Krieg für die gesamte Menschheit, nicht nur für die Kurdinnen und Kurden. Man kann nicht von unseren Kräften erwarten, dass sie gegen den Islamischen Staat kämpfen, wenn gleichzeitig die Türkei und ihre dschihadistischen Banden, die dem IS ideologisch sehr nahe stehen, unsere Gebiete angreifen.

Aber wir sehen auch wieder die traditionelle Rolle des türkischen Staates, der sich zum Verteidiger des IS macht. Letzterer war vor der Besetzung Afrins fast besiegt, da besetzte die Türkei Afrin und sicherte dem IS damit eine Pause für Neustrukturierungen. Die Situation gerade ist vergleichbar. Die Verantwortlichen dafür sind nicht die demokratischen Selbstverwaltungs- und Verteidigungseinheiten in Rojava, sondern der türkische Staat und die imperialistischen Staaten, die in Syrien agieren. Aber wir hoffen natürlich, das wir den drohenden Krieg verhindern können, bevor er überhaupt ausbricht.

Im Rahmen der Angriffe auf Kobane 2014 und Afrin 2018 konnten wir auf der ganzen Welt Solidarität mit de kurdischen Bewegung sehen. In Europa gab es Massendemonstrationen, Kundgebungen, Aktionen zivilen Ungehorsams und militante Aktionen zum Beispiel im Rahmen der „fight4afrin-Kampagne“. Trotzdem müssen wir sagen, dass all diese Aktionen nicht ausgereicht haben. Was können wir als Internationalist*innen aus Europa aus diesen Phasen des Widerstands für zukünftige Aktionen lernen?

Die Türkei führt in den letzten Jahren einen Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung, den sie ohne internationale Unterstützung und vor allem seitens des deutschen Staates nicht führen könnte. Deutschland kann man als zweite aktive Kriegspartei in diesem Krieg bezeichnen.

Die türkische Armee könnte bei weitem nicht mehr so kämpfen, wie sie es gerade tut, ohne die Ausbildung seitens deutscher Militärs und ohne deutsche Waffen, die türkische Wirtschaft wäre bereits kollabiert ohne die Milliardenspritzen aus der BRD. Ohne die BRD hätte es einige der vergangenen Massaker so nicht geben können.

Der deutsche Staat hat Blut an seinen Händen. Wir brauchen uns nur die Bilder der deutschen Leopard-II-Panzer in Erinnerung zu rufen, als sie die Grenze zu Afrin überquerten. Oder an die G3-Gewehre zu denken, mit denen Guerillakräfte massakriert wurden. Oder wie mit deutschen Sprengköpfen unsere Genoss*innen in den Bergen bombardiert werden. Das heißt, ein wichtiger Faktor um diesen Krieg zu stoppen, ist die Kriegsmaschinerie in Europa und Deutschland vielfältig und kreativ lahmzulegen. In gewisser Art und Weise sitzen die Freundinnen und Freunde in Deutschland an einem Hebel, dieser Rolle müssen sie sich bewusst werden.

Der demokratisch-revolutionäre Widerstand in Europa hat für uns eine besondere Bedeutung hat. Afrin war ein sehr sehr guter Anfang, denn anders als bei Kobane waren die Proteste ideologischer. So wurden z.B. Kollaborateure und Profiteure des Kriegs deutlich benannt. Bei Kobane ging es gegen Daesh, in Afrin wurde der ideologische Charakter dieses Krieges deutlicher. Es ist nicht nur ein Krieg verschiedener Staaten, wie viele gerne sagen, sondern ein Krieg der Systeme: der demokratischen Moderne gegen die kapitalistische Moderne. Der Kampf, der in Rojava stattfindet, ist unser aller Kampf. Ein Kampf aller Revolutionär*innen. Es macht keinen Unterschied, wo wir kämpfen, ob in Europa oder in Rojava oder anderswo. Wir stehen an einer Front. Wichtig ist es, die Öffentlichkeit auf die Straße zu bringen und den Widerstand in den Metropolen zu organisieren,

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