Ohne Klassenanalyse und Antimilitarismus geht‘s nicht: Zur Debatte um Flucht/Migration (Teil 2/2)
Beginnen wir mit der guten Nachricht: Seit Jahren gibt es einen mobilisierbaren Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, der gegen die Drangsalierung von Geflüchteten auf die Straße geht. Von der »Willkommenskultur«-Phase 2015 bis zu den aktuellen #Seebrücke-Demonstrationen haben sich Hunderttausende auf der Straße und in sozialen Medien für einen humaneren Umgang mit Refugees ausgesprochen. Im Hinblick auf das Tempo, mit dem sich die politische Landschaft der Bundesrepublik nach rechts bewegt, ist das nicht nix.
Aber: Die Empörung alleine reicht nicht. Wir müssen dafür streiten, dass in der Linken ein Verständnis davon verankert wird, dass die Gründe, die Menschen zur Flucht treiben, zum überwiegenden Teil nicht in jenen Weltregionen entstehen, aus denen Geflüchtete sich auf den Weg machen. Es sind »unsere« Nationen – allen voran die USA und die EU -, die von genau jenem System profitieren, das Milliarden Menschen zu Armut, Krieg und Tod verdammt. Und es sind »unsere« Nationen, die dieses System auf Gedeih und Verderb aufrecht erhalten.
Die gelegentliche Nennung des Umstandes, dass es Fluchtursachen gibt, reicht dafür nicht. Das wird auch in der Praxis sichtbar: Weder spielen globale Produktionsketten und weltweite Lohnungleichgewichte eine Rolle in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, noch erfreuen sich die Solidarisierung mit Befreiungsbewegungen im Trikont hierzulande größerer Beliebtheit. Eine handlungsfähige, wahrnehmbare Anti-Kriegs-Bewegung gibt es derzeit nicht. Das bloße Einfordern von mehr Humanität in sozialen Medien und im Zuge von Demo-Events muss letztlich wirkungslos bleiben, wird es nicht weiter entwickelt zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Kapitalismus und Imperialismus, von Ausbeutung und Krieg – und zwar weltweit.
Im Herzen des Monsters
Eine aktuelle Analyse, die zumindest eine Diskussion um all das wieder anstoßen könnte, ist das neue Buch des dänischen Militanten Torkil Lauesen. Lauesen begann Ende der 1960er Jahre seine politische Laufbahn im Umfeld des maoistischen Kommunistisk Arbejdskreds (KAK), aus dem eine pointierte wie streitbare These erwuchs: Die «Schmarotzerstaattheorie«.
Verkürzt zusammengefasst besagt diese Theorie, dass aufgrund der Extraprofite aus der Ausbeutung abhängiger Länder in den reichsten imperialistischen Nationen kein revolutionäres Aufbegehren der Arbeiter*innen zu erwarten sei. Die Initiative liege bei den antikolonialen Befreiungsbewegungen, bei den unterdrückten Massen der Peripherie. Die »Blekingegade-Bande«, der Lauesen angehörte, nahm diese Theorie ernst. Sie raubte Banken und Postämter aus, um revolutionäre Bewegungen im Trikont zu finanzieren. 1989 endete diese Praxis durch staatliche Repression, Lauesen und seine Genossen wurden inhaftiert. Jenseits der polizeilichen Unterbrechung der Umverteilungsaktionen hat sich aber auch ansonsten einiges seit den 1970er-Jahren verändert.
Und so legt Lauesen, immer noch überzeugter Kommunist, mit seinem Buch »The Global Perspective« eine umfangreiche Aktualisierung der »Schmarotzerstaattheorie« vor. Anknüpfend an dependenztheoretische Autoren (Samir Amin, Arghiri Emmanuel, and Andre Gunder Frank) sowie die Weltsystemtheorie will Lauesen zeigen, dass auch nach der Erringung der politischen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien profitable Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den imperialistischen Hauptmächten und den Ländern des Trikont bestehen bleiben.
Das Buch präsentiert nicht nur einen wirklich interessanten Überblick zur (Nicht-)Beachtung der kolonialen Frage in der kontinentalen Arbeiter*innenbewegung, sondern – und hier könnte es als Anknüpfungspunkt zur Weiterentwicklung der gegenwärtigen Bewegung für Geflüchtetenrechte ebenso wie der Debatte um „Neue Klassenpolitik“ dienen – eine ausführliche Analyse globaler Macht- und Unterdrückungsverhältnisse heute.
Lauesen betont, dass sich Klassenverhältnisse in einem globalisierten Kapitalismus nicht beschränkt auf den nationalstaatlichen Rahmen verstehen lassen. Er greift die bereits in den 1970er-Jahren entwickelte Theorie des „ungleichen Austausches“ auf, allerdings unter den Bedingungen einer massiven „export-orientierten Industrialisierung des Globalen Südens“. Das Bild, dass sich ergibt, ist ein düsteres: Für Hungerlöhne produzieren im Rahmen globaler Produktionsketten die ausgebeuteten Massen jene Konsumgüter, die in den entwickelten kapitalistischen Nationen über die Ladentische gehen.
Durch die Überausbeutung der Peripherie wird es der herrschenden Klasse in den Metropolen möglich, die früher „gefährlichen Klassen“ zu befrieden. Der sozialdemokratische Klassenkompromiss tritt an die Stelle der Subversion. In ihrem berühmten Kommuniqué »You Don‘t Need a Weatherman to Know Which Way the Wind Blows« schrieb die US-amerikanische Stadtguerilla Weather Underground im Jahr 1969: »Wir leben im Herz des weltweiten Monsters; in einem Land, das so reich von seinen weltweiten Plünderungen ist, dass sogar die Brotkrümel, die den geknechteten Massen innerhalb seiner Landesgrenzen ausgeteilt werden, eine materielle Existenz weit über den Verhältnissen der Massen der Menschheit weltweit gewährleisten.« Ihren Landsleuten rufen sie zu: »All die United Airlines Flugzeuge, all die Holiday Inns, eure Fernseher, Autos und Kleiderschränke gehören zu einem großen Teil den Menschen der restlichen Welt.«
Militarisierung der Grenzen
Ob die „Schmarotzerstaattheorie“ und ihre Aktualisierung durch Lauesen – auch und gerade, was die Einschätzung der chinesischen Arbeiter*innenbewegung anbelangt – tragfähig ist, soll hier nicht diskutiert werden. Was »The Global Perspective« aber tut, ist eine alte Einsicht der radikalen Linken jenseits von Lippenbekenntnissen wiederzubeleben, nämlich die, dass der Reichtum »unserer« Gesellschaften mit der Armut jener anderen Gesellschaften zu tun hat, aus denen Menschen fliehen.
Die Kriege, die zur Aufrechterhaltung des globalen Kapitalismus und zur Abgrenzung geopolitischer wie ökonomischer Einflusssphären geführt werden, sind ein Teilaspekt dieser Ungleichheit. Andere sind ebenso bestimmend für Fluchtbewegungen und werden sich in den kommenden Dekaden weiter verschärfen: Die ökologischen Verheerungen in der Peripherie, das Abschöpfen natürlicher Ressourcen aus dem Süden in den Norden und die Zerstörung gewachsener landwirtschaftlicher Selbstversorgung.
All das sind Fluchtgründe. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Fluchtbewegungen in den kommenden Jahrzehnten abflauen – ganz im Gegenteil. 68,5 Millionen Flüchtlinge – die aktuelle Zahl der UNHCR für 2017 -, das klingt viel. Eigentlich aber ist es verwunderlich, dass nicht viel mehr Menschen auf der Flucht sind. Sehen wir uns einige Zahlen an: Mehr als drei Milliarden Menschen leben von unter 2,50 US-Dollar am Tag; 357 Millionen Kinder leben in Kriegsgebieten – beinahe jedes vierte Kind; 840 Millionen Menschen wohnten im Jahr 2016 nach Angaben des Peace Researche Institute Oslo in unmittelbarer Nähe von Konfliktzonen.
Und anders, als die Verfechter des national-sozialdemokratischen Populismus meinen, liegt es dabei auch nicht im Interesse des Kapitals, die Grenzen zu öffnen. Der gegenwärtige Kapitalismus braucht Grenzen und wird sie weiter militarisieren – was unschwer an der Entwicklung sowohl der Fortress Europe wie auch der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze zu erkennen ist.
Jenseits der moralischen Selbstbestätigung
Die bürgerlich-humanistische Selbstvergewisserung des liberalen Milieus stellt die globalen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse nicht in Frage. Und deshalb ist sie auch ungeeignet, irgendeine Antwort auf die systematische staatliche Misshandlung von Geflüchteten zu finden. Wer unter Berufung auf die »Werte Europas« fordert, doch ein bisschen weniger zu seehofern, leistet dem eigenen Gewissen einen Dienst – sonst niemandem.
Was zu tun wäre, klingt zwar unrealistisch, ist aber dennoch die einzig mögliche Lösung: »Mit einer globalisierten kapitalistischen Produktion ist die Notwendigkeit für die Arbeiter*innenklasse, sich über nationale Grenzen hinweg zu vereinen, größer denn je“, schreibt Lauesen. Die zunehmende Mobilität von Kapital über Ländergrenzen hinweg habe die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit verschoben, die Konkurrenz innerhalb der Arbeiter*innenklasse dramatisch erhöht. »Nur globale Solidarität unter Arbeiter*innen kann das ändern.«
Der Kampf um die Verlangsamung des Rechtsrucks in den kapitalistischen Metropolen und damit der gegen die immer brutalere Abschreckungspolitik gegenüber Geflüchteten ist dabei wichtig, aber defensiv. Parallel zur Abwehrschlacht muss der Aufbau einer internationalistischen, kämpferischen Linken stehen, die auch lokal aus einer globalen Perspektive handelt.
[sg_popup id=“3″ event=“onload“][/sg_popup]