Seit beinahe drei Wochen wird der Automobilzulieferer „Neue Halberg Guss GmbH“ in Leipzig bestreikt. Zwischenzeitlich drohte die Situation zu eskalieren. Nach wie vor ist die Lage sehr angespannt und die Belegschaft äußerst kämpferisch. Loti Gimpel und Tamer Le Gruyere vom Transit Magazin besuchten die Streikenden, um ihre Solidarität auszudrücken und mit den Kolleg*innen ins Gespräch zu kommen.
Als wir am späten Samstagnachmittag den Streikposten vor dem Betriebsgelände der „Neuen Halberg Guss“ am Rande von Leipzig betreten, treffen wir zunächst nicht auf eine Menge wütender Arbeiter. Die Stimmung entspricht eher der verkaterten Ruhe nach einer langen Party. Ein paar Männer schauen Fußball, anderen sitzen im Schatten, langgestreckt auf Plastikstühlen und plaudern. Bernd Kruppa, der uns am Infostand der IG Metall in die Arme läuft, wirkt trotzdem aufgekratzt und klärt uns auf: Die letzten Tage sei es hier „wie in Nordirland“ zugegangen, aber jetzt bräuchten die „Kumpel mal eine Mütze Schlaf“ und seien fast alle nach Hause gefahren.
Kruppa ist der Geschäftsführer der IG Metall Leipzig und führt uns über das Gelände. Es ist zum Zeitpunkt unseres Solidaritätsbesuchs der 17. Tag des unbefristeten Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter von Halberg Guss, einem Gießereibetrieb mit etwa 700 Beschäftigten am Rande von Leipzig.
Machtkampf zwischen Großkonzernen – dazwischen: Die Belegschaft
Anfang 2018 hatte der Konzern „Prevent“, einer der größten Volkswagen-Zulieferer, die Neue Halberg Guss GmbH mit Stammsitz in Saarbrücken aufgekauft. Zwischen Prevent und Volkswagen schwelt seit Jahren ein intensiver Streit um Preise und Lieferbedingungen. Prevent verfolgt die Taktik, Zulieferer-Firmen von VW aufzukaufen, um eine Monopolstellung gegenüber dem Automobilkonzern einzunehmen und die Preise hoch zu treiben. Die Lage spitzte sich zu und Volkswagen kündigte die Verträge. Daraufhin gab die Prevent-Geschäftsführung bekannt, Halberg Guss in Leipzig bis zum Ende des Jahres 2019 schließen zu wollen.
Der Streit zwischen den beiden Großkonzernen wird auf Kosten der Beschäftigten ausgetragen. Die Geschäftsführung dürfte aber nicht damit gerechnet haben, dass die Kolleg*innen vor Ort wild entschlossen sind, entweder den Standort zu erhalten oder den Preis für die Schließung massiv nach oben zu treiben. Kruppa erklärt das so: „Wir sollen auf dem Altar der kapitalistischen Interessen geopfert werden. Da stellen wir uns dazwischen. Wir werden alles tun, um unseren Arsch so teuer wie möglich zu verkaufen.“
Ohne Sozialtarifvertrag geht nichts
Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Schließungspläne wählten die Gewerkschaftsmitglieder eine Tarifkommission und beschlossen die Forderungen für einen Sozialtarifvertrag. Zum Forderungskatalog gehört ein arbeitgeberfinanzierter Fonds, aus dem Abfindungen und Maßnahmen zur Vermittlung in neue Stellen finanziert werden sollen sowie finanzielle Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder. Was nicht sonderlich revolutionär klingt, bekommt einen anderen Charakter, wenn man sich das finanzielle Volumen vor Augen führt, das den Streikenden vorschwebt. „Wir reden hier über 250 Millionen“, erklärt Kruppa. Nachdem die Geschäftsführung auf die Verhandlungsaufforderungen nicht einging und auf zwei Warnstreiks nicht reagierte, rief die IG Metall Leipzig ihre Mitglieder am 14.Juni zur Urabstimmung über einen unbefristeten Streik auf. Das Ergebnis war überwältigend und mehr als eindeutig: 98,4% der IG Metall Mitglieder der Neue Halberg Guss GmbH stimmten für einen unbefristeten Streik. Niemand stimmte dagegen: Die fehlenden Stimmen ergaben sich aus Krankheit und Urlaub.
„Es geht ums nackte Überleben – das schweißt zusammen“
Wir setzen uns mit Kruppa und dem Kollegen Helge an einen Tisch im Schatten. Gegenüber zeigt der Beamer immer noch die Sportschau, aber niemand schaut zu; es laufen nur Interviews und Wiederholungen einiger Szenen der beendeten Partie. Helge stellt jedem von uns eine Flasche Bier vor die Nase und öffnet sie der Reihe nach. Vom Tisch nebenan kommt Kindergeschrei. Offenbar verlegen die Familien der Streikenden auch ihr gemeinsames Abendessen hier her.
Was der Streik mit den Kollegen gemacht hat, wollen wir wissen. Helge antwortet: „Jetzt geht’s ums nackte Überleben und das schweißt zusammen.“ Manche von den Kollegen würde man nicht wieder erkennen, „jetzt wo die Kacke am Dampfen“ sei. Gerade bei den „Höhergestellten“, von denen man den Eindruck gehabt habe, dass sie manchmal „auf einen herab gucken“, sei das so. Kruppa ergänzt: Die Leute hätten nun die Gelegenheit sich wirklich kennenzulernen. Im Betriebsalltag sei das kaum noch möglich, jetzt aber könnten sie sich austauschen und machen gemeinsame solidarische Erfahrungen: „Die denken jetzt übers Leben nach“.
Im Betriebsalltag sind die verschiedenen Abteilungen voneinander getrennt. Allein das wirkt schon einer kollektiven Solidarisierung entgegen. Aber der Streik durchbricht diese Vereinzelung. Für die Dimension rassistischer Zuschreibungen scheint das durchaus auch zu gelten. Kruppa über Arbeiter_innen mit und ohne Migrationshintergrund: „Das Dilemma ist: die kennen sich nicht“. Der Streik eröffnet eine Möglichkeit, das zu ändern und gemeinsame Interesse zu entdecken.
Organisation, Disziplin, Kommunikation
Seit dem 14. Juni ging mit Beginn der Frühschicht im Werk nichts mehr. „Es ist eine anstrengende Situation“, sagt Kruppa. „Wir sind im unbefristeten Streik. Das heißt, wir sind rund um die Uhr vor den Toren. Organisation, Disziplin und Kommunikation sind die Erfolgsfaktoren eines Streiks. Wir führen den Streik sehr diszipliniert und legen viel Wert auf Kommunikation nach innen und nach außen.“
Tatsächlich sind die Entschlossenheit, der Einfallsreichtum und die Geschlossenheit der Beschäftigten beeindruckend, wie die Reaktionen der Streikenden auf verschiedene Provokationen der Geschäftsführung zeigen. In der ersten Woche war die Zufahrt zum Werk komplett blockiert, vorfahrende LKWs, die bereits fertig produzierte Motorblöcke aus dem Werk abholen wollten, mussten wieder umdrehen, da die Streikenden Ketten bildeten und damit die Einfahrt zum Hof blockierten. Eine drohende Räumung wurde dadurch verhindert, dass vor dem Werkstor eine Dauerdemonstration angemeldet wurde und die Streikenden zeitweise von links nach rechts (und wieder zurück) liefen. Die Geschäftsführung bemängelt zudem, dass die Stromzufuhr im Werk sabotiert worden sei. Neuerdings lobt sie sogar Prämien für diejenigen aus, die die Saboteure namentlich benennen und/oder die Stromzufuhr im Werk wiederherstellen.
Drohende Eskalation
Während der zweiten Streikwoche drohte die Situation zu eskalieren. Wieder fuhren LKW vor, vereinzelt gab es Rangeleien mit dem privaten Sicherheitsdienst und eine Polizeihundertschaft bezog Position. Offensichtlich hatte die Anwältin von Halberg Guss vor Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt, die die Streikenden zur Räumung der Zufahrt zwang. Auch die Polizei, die sich in den ersten Streiktagen kooperativ zeigte, meinte es nun ernst und kündigte an, die freie Zufahrt zum Werk notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Nach der dritten Aufforderung der Polizei und intensiven Verhandlungen entschied man sich schließlich dazu, die Einfahrt zu räumen, allerdings unter der Bedingung, dass vorerst kein Lastkraftwagen auf das Werksgelände fährt und keiner den Hof verlässt.
Dies ließ sich allerdings nur bis zum Folgetag aufrechterhalten. Am 26. Juni fuhren sechs LKW auf den Hof, um die letzten Motorenblöcke abzuholen. Die Streikleitung reagierte erneut kreativ. Denn durch die Einschaltung des Gewerbeaufsichtsamtes wurde das Verladen der Produkte untersagt, da die eingesetzten Streikbrecher nicht die nötige Einweisung in die Arbeitssicherheit erhalten hätten. Zudem wurde ein Lieferwagen, der offensichtlich einen Bauzaun auf das Gelände bringen wollte, um es weiträumig abzusichern, erneut blockiert. Die Stimmung war aufgeheizt, unter lautstarken Protesten verließen die Laster aber schließlich das Gelände.
Auch wenn die Szenerie am heutigen Nachmittag sehr entspannt wirkt, so versichern Helge und Kruppa, dass die Belegschaft weiterhin hoch motiviert sei, den Streik fortzusetzen. Anstrengender als dreimal die Woche Schichtarbeit sei der Streik auch nicht und schließlich gehe es ja für die einzelnen Kollegen ums Ganze. Tatsächlich erzielen die Provokationen der Geschäftsführung in keiner Weise den gewünschten Effekt, die Zermürbung der Streikenden. Im Gegenteil sind wir beeindruckt von der kämpferischen Entschlossenheit der Streikenden. Nach wie vor läuft im Werk keine Maschine, nach wie vor ist der Streikposten ununterbrochen besetzt und die Möglichkeit, dass irgendjemand aus der Belegschaft auf die Bestechungsversuche der Geschäftsführung eingeht, scheint ausgeschlossen. Auf dem Gelände finden sich unzählige Grußbotschaften und Solidaritätserklärungen, nachts lodern die Feuertonnen mit gespendetem Holz und vorbeifahrende Autofahrer_innen bekunden ihre Sympathie durch Hupen.
Unterstützung aus der Bevölkerung
„Hier sind Leute aus der Bevölkerung, die fragen, ob wir was brauchen, aber mir fällt nüscht ein.“ Am Tisch steht plötzlich der IG-Metall Kollege vom Infostand mit zwei jungen Menschen, die äußerlich eher – so scheint es – einem linksalternativen studentischen Milieu entstammen. Kruppa antwortet: „Liebe! Und Schlaf! Habt ihr das mitgebracht?“ Alle lachen. Die beiden bieten an, Bier und Bratwürste vorbei zu bringen. An der Verpflegung mangelt es nicht, das zeigen die prall gefüllten Essens- und Getränkevorräte, aber: „Gut wäre, wenn ihr möglichst viele Leute herholt. Nehmt euch die Streikzeitung mit und verbreitet die Infos in euren Netzwerken. Es geht um die politische Unterstützung.“
Es ist offensichtlich, dass hier unterschiedliche Lebenswelten aufeinanderprallen, man könnte auch über das entfremdete Verhältnis einer subkulturell geprägten Linken zu Alltagskonflikten, Arbeitskämpfen und Menschen außerhalb ihrer Blase nachdenken. Offenkundiger ist allerdings die Erkenntnis, dass Solidaritätsbesuche eine hervorragende Möglichkeit sein können, genau diese Barriere zu überwinden – allerdings nur, wenn sie erwartungsfrei erfolgen, keine überzogenen Hoffnungen zu Grunde liegen und man bereit ist, nicht nur die eigene politische Agenda zu verfolgen.
Denn auf dem Streikposten finden sich gesellschaftliche Realitäten und Milieus wieder, die außerhalb eines Streiks schwer unter einen Hut zu kriegen sind. Oder in Kruppas Worten: „Das ist eine Gießerei hier, das sind schwere Jungs, Hartmetaller. Wir spiegeln hier das gesamte Ensemble der gesellschaftlichen Beziehungen wider, in jeder Hinsicht.“
Verschiedene Kämpfe zusammen denken
Niemand weiß, wie lange der Streik noch gehen wird, klar ist aber, dass sich die Streikenden nicht spalten lassen werden. Leipzig stehe für einen „entschlossenen Widerstand in der jüngeren Geschichte“, so Kruppa, „denn wäre hier alles rein nach Kapitallogik gegangen, wäre die Stadt komplett deindustrialisiert“. Jüngstes Beispiel für diesen Widerstand sei der Arbeitskampf bei Siemens in Plagwitz gewesen.
Bemerkenswert ist auch: Es gibt den Versuch, Arbeitskämpfe mit Themen wie Gentrifizierung zusammen zu denken, wie etwa beim Kunst-und-Kultur-Straßenfest „Bohei & Tamtam“ auf der Karl-Heine-Straße. Dort gab es eine „Parade der Werktätigen“, an der auch Kolleg_innen von Siemens und Halberg Guss teilnahmen.
Spannend wird auch das weitere Verhalten der IG Metall sein. Der Geschäftsführer der IG Metall Leipzig setzt darauf, dass in sehr naher Zukunft Fernwirkungen bei den großen Automobilherstellern, wie etwa VW, eintreten werden und die Produktion ins Stocken geraten wird. Für die IG Metall, die selten über einen Warnstreik hinauskommt, geht es hier auch um Glaubwürdigkeit: Lässt man es zu, dass eine Belegschaft zwischen zwei Riesen zermalmt wird oder zeigt man Zähne und geht in die Offensive? Kruppa sagt, man komme nun von der Zuschauerrolle in die Beteiligtenrolle und werde dadurch zum Machtfaktor. Ob das die ganze IG Metall so sieht oder ob nicht doch große Nervosität zu Tage tritt, wenn die „Heilige Kuh“ VW ins Wanken gerät, wird abzuwarten zu sein.
Ausblick
Ein Machtfaktor könnte auch die große Solidaritätswelle sein, die den Streikenden entgegenschwappt. Die vielfältigen Sympathiebekundungen und Grußbotschaften aus der Bevölkerung und aus anderen Betrieben sind sehr erfreulich und begrüßenswert und auch wichtig für die Streikmoral. Jedoch sollte es mehr als skeptisch stimmen, wenn der sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) bei seinem Besuch die „Solidarität der Staatsregierung“ erklärt, „Raubtierkapitalismus“ beklagt und ein Loblied auf die „Soziale Marktwirtschaft“ anstimmt.
Es ist müßig daran zu erinnern, was er und seine Partei unter „Sozialer Marktwirtschaft“ verstehen: Hartz 4, massive Ausweitung des Niedriglohnsektors, Förderung von Leiharbeit, Werkverträgen und Befristungen, Waffenexporte, Abschaffung des Asylrechts und Tod im Mittelmeer. Duhlig versucht einen guten marktwirtschaftlichen von einem bösen Raubtierkapitalismus zu trennen, als ob es im Kapitalismus nicht grundsätzlich um den staatlich legitimierten Raub des durch Arbeitskraft geschaffenen Mehrwerts ginge. Daran zu erinnern, könnte ebenfalls die Aufgabe einer Linken sein, die bei Alltagskonflikten nicht im Rand stehen, sondern mitmischen will.
Die Streikenden sind gut damit beraten, auf ihre eigene Kraft zu vertrauen und so lange weiter zu streiken, bis die ersten Fernwirkungen eintreten, die sich jetzt bereits ankündigen. Das ist auch der Plan von Kruppa: „Wir haben jetzt die ökonomische Wirkung, die ein Streik haben muss. Er muss hart und unerbittlich geführt werden, damit er am Ende auch den notwendigen Druck auf den Verhandlungsgegner ausübt. In dem Moment, in dem wir ökonomische Fernwirkung erzielen und wo das hier nicht mehr nur regional ist, sondern Produktionsschwierigkeiten bei den großen Automobilproduzenten auftreten, dann spielen wir nicht mehr Regionalliga, sondern Champions League.“
Der von Marx beschriebene „Doppelcharakter der Gewerkschaften“, also der Kampf der Gewerkschaften „innerhalb des Lohnsystems“ sowie „gegen das Lohnsystem“, ist in der Nachkriegs-BRD zugunsten einer sozialpartnerschaftlichen Befriedungspolitik immer weiter ins Hintertreffen geraten. Die sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften haben daher seit langer Zeit mit Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen. Umso erfreulicher und unterstützenswerter ist daher der Streik bei Halberg Guss, der Schule machen und bis dato Vorbild für eine mutige und kämpferische Gewerkschaftspolitik sein sollte.
Wir wünschen den Streikenden bei Halberg Guss auf ihrem Weg viel Erfolg, Mut und Durchhaltevermögen!