„Deutschland war und ist Teil des Krieges gegen Kurden“

16. März 2018

Berlins Rolle bei der Unterdrückung der kurdischen Befreiungsbewegung hat eine lange Tradition. Interview mit dem Mitglied des PKK-Exekutivrat Duran Kalkan

Befreundete Journalisten haben ein längeres Gespräch mit dem Exekutivratsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geführt. Wir veröffentlichen vorab einen kurzen – leicht redigierten – Auszug.

Das vollständige Interview, das einen umfassenden Überblick über die deutsch-türkischen Beziehungen und die Rolle Deutschlands in der „Kurdenfrage“ gibt, könnt ihr in den kommenden Tagen in mehreren Episoden auf der deutschsprachigen Seite der kurdischen Nachrichtenagentur ANF lesen.

# Zur Person: Duran Kalkan, Organisationsname Heval Abbas, gilt als einer der wichtigsten Vordenker der PKK. 1954 im türkischen Güzelim geboren, lebt Kalkan seit Jahrzehnten das Leben eines Guerillas. Heute ist er Mitglied im Exekutivrat der Organisation.

Sie waren einer jener Politiker, gegen die Deutschland im Rahmen des „Düsseldorfer Verfahrens“ Ende der 1980er vorging. Der deutsche Staat hat von Anfang an eine feindselige Haltung gegen die kurdische Freiheitsbewegung eingenommen. Warum?

(…) England, Frankreich, Russland und Amerika haben im Mittleren Osten Strategien verfolgt, die mehr darauf abzielten, mit lokalen Autoritäten und verschiedenen gesellschaftlichen Kräften Beziehungen aufzubauen. Die deutsche Staatspolitik und Kapitalexpansion hingegen versuchte, alles über die zentralen Beziehungen mit dem Osmanischen Reich und dem Iran, später der Türkei aufzubauen.

Damit werden die Interessen des deutschen Kapitals und Staates eins mit den Interessen der zentralen Machtstrukturen in der Türkei. Damit wird jeder Gedanke und Kampf, der das Osmanische Reich und später die Türkei schwächt oder bedroht, als Schwächung des deutschen Kapitals und der Staatsstrategie gesehen und als gemeinsamer Feind betrachtet. Das ist seit Beginn der Beziehung mit dem Bau der Berlin-Bagdad-Bahn Ende des 19. Jahrhunderts der Fall.

So wie das Osmanische Reich die lokalen Verwaltungen in Kurdistan im 19. und 20. Jahrhunderts immer als separatistisch gesehen hat, hat auch das deutsche Kapital und die deutsche Staatspolitik diese so bewertet.

In den Gerichtsprozessen [in Düsseldorf, lcm] haben wir versucht, dies historisch darzulegen und die politische Lage in historische Beziehungen einzubetten. Wir gingen bei unseren Analysen und Bewertungen bis zu den Kreuzzügen zurück.

Wir bereits erwähnt, sieht die deutsche Regierung die Türkei wie ein Bundesland. Der Gang von türkischen Arbeitern nach Deutschland und das Zusammenkommen der Gesellschaften haben diese Situation noch mehr gestärkt. Es entstand ein neuer Faktor neben den politischen, militärischen, strategischen und wirtschaftlichen Gründen.

Als ein weiterer Faktor muss auch das NATO-System bewertet werden. Insbesondere in der Zeit des faschistischen 12. September-Putsches 1980 haben wir gesehen, dass das Türkei-Departement der NATO in Deutschland seinen Sitz hat. Ja, das NATO-Zentrum ist in Brüssel und von dort wird das NATO-System koordiniert und geleitet, aber es gibt auch ein Departement für die Türkei in Deutschland.

Im Rahmen der Neustrukturierung Deutschlands und der Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Marshall-Plans und der Truman-Doktrin wurde das Türkei-Departement der NATO wohl in Deutschland aufgebaut. Man hatte auch die wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen beider Länder im Blick. Folglich war das Hauptquartier des faschistischen 12. September Militärputsches in Deutschland. Die Leitung des 12. September wurde nicht von Ankara, sondern von Deutschland ausgeführt. Der erste Angriff gegen den Kampf der PKK und die Guerillavorbereitungen kam von Deutschland. Sie unterstützen provokative, destruktive und separatistische Tendenzen und Kräfte. Sie haben Agenten auf die PKK gehetzt. (…)

Im November 1993, kurz vor dem 15. Gründungstag der PKK, wurde das PKK Verbot erlassen. In welchem Kontext kam es dazu? Was war beabsichtigt?

(…) Als die deutsche Regierung im November 1993 die PKK als kriminelle Vereinigung verboten hat, schaute sie nicht auf den Jahrestag, sondern auf den in Düsseldorf andauernden Prozess. Der Prozess stagnierte, konnte nicht fortgeführt und nicht beendet werden. 6 Haftjahre waren verstrichen; sie konnten keinerlei Beweise gegen die seit 6 Jahren Inhaftierten vorlegen und diese daher nicht verurteilen. Der Prozess hatte sich um 4 Jahre verlängert. Der Prozess war für den deutschen Staat zu einem Problem, zu einer Last geworden.

Die Prozesse waren mit umfassender Propaganda gestartet, hatte jedoch zu einer Dechiffrierung der deutschen Politik und der Kurdenpolitik Deutschlands geführt. Die antidemokratische Haltung war demaskiert worden. Es kam die Frage auf, wie der Staat damit umgeht, mit welchen Urteilen bzw. Strafen der Prozess beendet wird. Die größte Aufregung verspürten die Richter und Staatsanwälte des Düsseldorfer Gerichts.

Was geschah vor Gericht, bevor die Regierung eine solche Entscheidung getroffen hat? Dies ist keinem bekannt. Bisher hat uns auch niemand gefragt. Wir hatten nicht die Gelegenheit, die Geschehnisse zu erläutern.

Doch nun können wir, da sich die Gelegenheit ergibt, darüber sprechen. Es wurde vor der Verbotsverfügung gefordert, über eine Einigung mit den Richtern und Staatsanwälten den Prozess zu beenden und auf diese Weise Deutschland von dieser Last zu befreien. Unsere Anwälte informierten uns über den Gesprächswunsch der Richter und Staatsanwälte. Als Angeklagte haben wir diesem zugestimmt. Wir haben zwecks Verhandlungen in unseren Zellen gemeinsam mit unseren Anwälten eine Sitzung mit den Richtern abgehalten.

Gegenstand der Verhandlungen war folgende: “Wir möchten den Prozess beenden. Es kann so nicht weitergehen. Sie befinden sich seit 6 Jahren in Haft. Deutschland wird sich selbst nicht für schuldig erklären und sie freisprechen. Daher müssen Sie eine Strafe erhalten. Für eine Verurteilung bedarf es einer Straftat. Wenn Sie verurteilt werden, Ihre Schuld eingestehen, werden Sie umgehend freigelassen. Sie haben bereits die dem Strafmaß entsprechende Zeit in Haft verbracht. Der deutsche Staat hätte Ihnen eine Strafe auferlegt und so seine Ehre gerettet; sie würden freigelassen. Lassen Sie uns auf diese Weise übereinkommen.” Sie haben uns diesen Vorschlag unterbreitet. An geheimen Orten haben wir diese Verhandlungen geführt.

Eine solche Situation überraschte uns. “Gut, aber warum sollen wir eine Starftat akzeptieren, wenn wir unschuldig sind? Wir hatten bereits ausreichend Zeit im Gefängnis verbracht. (…) Nun sollen wir unsere Schuld akzeptieren, damit wir frei kommen. Sie werden den Prozess beenden. Der deutsche Staat hätte seine Ehre gerettet. Was ist mit uns? Was ergibt sich für uns? Wir werden aus der Haft entlassen. Wir sind seit 6 Jahren in Haft, wir werden weitere 6 Jahre in Haft bleiben.” Mit diesen Worten haben wir Haltung gezeigt und ihre Vorschläge abgelehnt. Das überraschte die Richter und Staatsanwälte sehr. Sie erläuterten die Situation der Regierung.

Das Gericht konnte keine juristische Strafe verhängen und auch keine Einigung mit uns erzielen. Es blieb also nur die Option, die PKK als kriminelle Vereinigung zu deklarieren. Dies wiederum konnte nur die Regierung vornehmen. Aus diesem Grund verhängte die deutsche Regierung im November 1993 das PKK-Verbot. Die Regierung deklarierte PKK als “kriminelle Vereinigug”, das Parlament entschied entsprechend.

Die Richter des Düsseldorfer Prozesses verhängten auf Grundlage dessen eine sechsjährige Haftstrafe gegen mich. Dabei war ich im April 1988 verhaftet worden. Damals gab es kein Gesetz, das die PKK als eine kriminelle Vereinigung definierte. Sie hat den Beschluss von 1993 rückwirkend angewendet, und uns unrechtmäßig verurteilt.

So endete der Düsseldorfer Prozess. (…) Im Frühjahr 1994 wurden wir freigelassen. (…) Es hatte keinen Zusammenhang mit dem Kampf in Kurdistan, den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei oder dem Kampf in Deutschland. Einige versuchen, einen solchen Zusammmenhang herzustellen: “In Deutschland hat es Proteste gegeben und das Verbot sei aus diesem Grund verhängt worden”, lautet die These. Jedoch hat es absolut gar nichts damit zu tun. Einziger Grund für das Verbot 1993 war die Notwendigkeit, den Düsseldorfer Prozess abschließen zu können. (…)

Im Allgemeinen wird gesagt, dass die deutsch-türkischen Beziehungen derzeit eher schlecht sind. Stimmen Sie dem zu?

Es heißt, dass auch eine kaputte Uhr zwei Mal am Tag die richtige Uhrzeit anzeigt, oder was sich neckt, das liebt sich. Die Spannungen und Widersprüche in den deutsch-türkischen Beziehungen sollte in diesem Rahmen bewertet werden. Es ist ein Streit unter Geschwistern, die sich über das Erbe der gemeinsamen Eltern nicht einigen können. Darüber hinaus gibt es keine Konfrontation in den deutsch-türkischen Beziehungen.

Die deutsch-türkischen Beziehungen basieren auf einem tiefgreifenden Interessensystem. Innerhalb dieses Systems versuchen beide Seiten immer mehr ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Die Spannungen entstehen durch diesen „Konkurrenzkampf“.

Deutschland hat die Türkei unter Kontrolle. Die Türkei wiederum massakriert in Kurdistan und begeht Menschenrechtsverletzungen. Kann man behaupten, dass deutsche Politiker dies nicht wissen?! Und wie können sie wohlwissend diese Massaker unterstützen und sich gleichzeitig als demokratisch bezeichnen? Doch es geht. Wenn es mal eng wird, schieben sie die Schuld auf die Türkei, doch sie folgen weiter ihrer Politik.

Diese Art von Politik ist für sie nicht verwerflich. In letzter Zeit wurde die Türkei einiger Sachen beschuldigt, u.a. der Kriegsverbrechen in Kurdistan. Doch die Panzer und Waffen, die für die Kriegsverbrechen in Kurdistan im Einsatz sind, sind alle „Made in Germany“.

Deutschland hat keine Probleme mit dem Verkauf von Panzern und Waffen. Im Gegenteil, es wird immer mehr verkauft. Die grundlegenden politisch-wirtschaftlichen Beziehungen geraten nie in Turbulenzen. Diese laufen im Hintergrund ungehindert weiter. Manchmal wird unter Geschwistern gestritten und man redet eine Zeitlang nicht miteinander. (…) Der deutsche Außenminister war in den vergangenen Wochen mehrmals unter strengster Geheimhaltung bei Erdogan. Als Resultat dessen wurden fünf oder sechs Journalisten unter „rechtsstaatlichen Bedingungen“ freigelassen.

Deutschland hat erklärt, es war die Entscheidung der „unabhängigen türkischen Justiz“. Das war natürlich nicht so. Es wurde wie auf einem Markt um die Freilassung dieser Menschen verhandelt. (…)

Eigentlich bestehen zwischen den USA und der Erdogan-Clique bestimmte Widersprüche. Diese sind tiefgreifender als jene mit Deutschland. In Deutschland haben beispielsweise viele türkische NATO-Soldaten um Asyl angesucht. Diese gelten aktuell als „Problem“ und dienen Deutschland als Druckmittel. Ich denke nicht, dass darüber hinaus Probleme bestehen. Der Erdogan-Bahceli-Faschismus und das Massaker in Kurdistan interessieren Deutschland nicht im Geringsten. (…)

In den letzten zwei Jahren ist der Druck auf die kurdische Freiheitsbewegung in Deutschland gestiegen. Hierzu zählen Verbote von Öcalan-Bildern, PKK-Fahnen und sogar den Flaggen legaler Einrichtungen und Vereine in Deutschland. Menschen bekommen Strafanzeigen, weil sie auf Social Media YPG-YPJ-Fahnen teilten. Wie denken Sie darüber und warum grade jetzt?

Diese Frage sollten Freunde aus Deutschland und Europa beantworten. Warum jetzt? Ich stimme dem nicht zu, dass die Repressalien in den letzten zwei Jahren gestiegen sind. In der Vergangenheit waren sie nicht viel weniger. Ich nehme an, dass der deutsche Staat zu „Maßnahmen“ wie Verboten, Verhaftungen und Gewalt greift. Dies war in der Vergangenheit schon der Fall.

Ich persönlich verbrachte ohne jeglichen Vorwurf und ohne jegliche Grundlage sechs Jahre in deutscher Haft. Ab 1988-1990 wurden viele Menschen auf die gleiche Weise verhaftet und in Einzelhaft gesteckt. Der deutsche Staat hat speziell für uns einen unterirdischen Gerichtssaal für acht Millionen D-Mark bauen lassen. Wir wurden im „Düsseldorf-Prozess“ mit einem großen Medienaufgebot vor Gericht gestellt. Auf diese Weise sollte der deutschen Öffentlichkeit das Bild von „ganz gefährlichen Terroristen, die jederzeit Schaden zufügen können“ präsentiert werden.

Die Repressalien sind also nichts Neues, erst recht nicht in den letzten zwei Jahren. In der Vergangenheit war es nicht anders.

(…) Der deutsche Staat verfolgte seit jeher eine unterdrückerische koloniale Politik gegenüber dem kurdischen Volk und der kurdischen Freiheitsbewegung. Nicht nur als dritte oder vierte Partei innerhalb des Konflikts, Deutschland sah sich verantwortlich für die Unterdrückung in Kurdistan und dem faschistischen Kampf gegen die kurdische Guerilla und das Volk. Deutschland war und ist Teil des Kriegs gegen die Kurden. (…)

Haben Sie zum Schluss eine Botschaft an die deutsche Regierung und die Öffentlichkeit?

(…) Eine Botschaft oder einen Aufruf macht man an diejenigen, die etwas nicht wissen oder vergaßen. Allerdings wissen alle Regierungen, was Tatsache ist. Sie verhalten sich so, wie sie sich verhalten, aufgrund ihrer Interessen.

Was kann man dazu sagen? „Solle ihre Unterdrückung noch weiter wachsen!“ [zulmün artsin ki tez zeval bulasin – während des osmanischen Reichs an Großvesire gerichtet, damit sie vom Sultan entlassen werden]. Denn je größer ihr Unterdrückungswahn, desto schneller werden sie darin versinken! Wir können nur sagen: Ihr werdet in dem Blut ertrinken, welches ihr vergossen habt! Uns bleibt nur die Erinnerung an diesen Spruch. In der Tat kann die Haltung gegenüber den Kurden nicht mit Freiheit, Demokratie oder Gerechtigkeit erklärt werden. Dies kommt einer großen Schuld gleich! Dies ist Faschismus, Unterdrückung und Massakrierung.

Die Kurden sind nicht mehr diejenigen der Vergangenheit. Sie sind organisiert und leisten Widerstand. Sie haben das richtige und schöne Leben im Widerstand gefunden. Vielleicht hat dieses Leben keine materielle Dimension. Aber sie bringt Entschlossenheit und Euphorie mit sich. Die Kurden leben in Würde und erhobenen Hauptes, selbst wenn es ein kurzes Leben ist. Und dies ist die schönste Form von Leben. Wenn es sein muss, werden sie auch noch weitere hundert Jahre so leben. Dies muss jedem bewusst sein.

Es ist also nicht mehr möglich die Kurden zu massakrieren. Diese Zeiten sind dank Abdullah Öcalan vorüber. Das Volk hat die Entschlossenheit, den Mut und die Opferbereitschaft, um diesen Weg bis zum Ende zu gehen. Und niemand wird die Kurden davon abhalten können. Dies sollte jedem bewusst sein. Insbesondere unsere Freunde – die demokratische-revolutionäre Öffentlichkeit, die Frauen und die Jugend – sollten sich dessen bewusst sein. Jeder sollte wissen, dass die kurdischen Jugendlichen, Frauen, die Guerilla und das Volk nicht nur für sich kämpfen.

Der Widerstand ist für das Dasein und die Freiheit der Kurden, die Demokratie im Mittleren Osten und die Freiheit für die gesamte Menschheit.

(…) Dass in Kurdistan – wo die Unterdrückung und Barbarei ihren Ursprung hat – eine derartiges Bewusstsein, Euphorie und der Wille der Freiheitsbewegung existiert, sollte als Indiz dafür aufgefasst werden, dass dies überall möglich ist. Überall können viel größere und stärkere Freiheitsbewegungen entstehen, wenn nur daran geglaubt und daraufhin gearbeitet wird.

Auf regionaler und kommunaler Ebene können Freiheits- und Demokratiebewegungen entstehen, welche wiederum in globale Bewegungen münden, die den Kapitalismus eingrenzen bzw. ihm ein Ende setzen können. Dies würde eine freiere und demokratischere Welt mit sich ziehen. Eine neue Welt und ein freies Leben sind definitiv möglich! Aber hierfür muss effektiv gearbeitet und das richtige Bewusstsein entwickelt werden. Auf dieser Grundlage möchten wir jeden, der sich dieses Bewusstsein aneignet und Widerstand leistet, begrüßen!

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