Dass die Kurdinnen und Kurden als eine Nation ohne Staat einfach nicht im Besitz einer geografisch-politischen Entität sind, ist mitnichten das einzige Problem dieses Volkes. Auf vielen Ebenen wird gekämpft, in vielen Bereichen sehnt sich diese Nation nach Befreiung. Der mittlerweile wohl bekannteste emanzipatorische Kampf, der aus dem zunächst ethnischen Befreiungskampf entstanden ist, ist nun der Kampf um die Befreiung der Frau. Theorie und Praxis der kurdischen Freiheitsbewegung zeigen, wie es Kämpfe innerhalb von Kämpfen geben kann. Befreiung intersektional zu sehen ist ein großer Verdienst dieser Bewegung.
Es gibt jedoch auch einen weiteren Kampf, einer der in Vergessenheit geraten ist, einer der fast schon nicht mehr in Mode ist. Der Kampf um die Geschichtsschreibung der Kurdinnen und Kurden. Während die 70er und 80er Jahre als Pionierzeit der politischen und akademischen Aufarbeitung der Kurdenfrage besonders auf historische Analysen setzten, scheint dies heute fast vollkommen in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei ist offensichtlich, wie die Werke Abdullah Öcalans, als einem der wohl wichtigsten noch lebenden Vertreter dieser Zeiten des Aufbegehrens, gerade den Pfad der geschichtlichen Analyse gehen, um das heutige zu erklären.
Vielmehr als um das bloße erklären geht es jedoch auch um die Schaffung einer kollektiven Identität, die Kurdinnen und Kurden systematisch geraubt wurde. Die Geschichtsschreibung war stets von herrschenden Mächten geprägt und somit ist das Unwissen und der Mangel an Bindung zur eigenen Geschichte ein enormes Problem der kurdischen Nation.
Viel mehr noch hat sich aus der Deprivation vom eigenen Geschichtsbewusstsein ein Bewusstsein entwickelt, was sich nun einer kurdischen Vergangenheit bewusst ist, diese aber auf die koloniale Grenzziehung bezieht. So wird ein Mensch aus dem Nordosten Kurdistans die Bilder von Mahabad im Gedächtnis haben, ein Mensch aus dem Nordwesten wird die Massakrierten von Dersim betrauern und ein(e) Südkurd*in wird die Leichenberge von Anfal und Halabja als Referenz der eigenen Diskriminierungsvergangenheit mit sich tragen.
Ein Problem dabei ist, dass es bei diesen fragmentierten historischen Bezügen bleibt. Gerade revolutionäres Wissen bedarf einer epistemologischen und einer emotionalen Ebene. Sind es nicht gerade die lebendigen Bezüge zur Geschichte, die beispielsweise gerade den Katalaninnen und Katalanen so viel Kraft geben? Sind es nicht die schmerzenden Erinnerungen an die Sklaverei, die PoC in den USA zu tausenden Mobilisieren, wenn sie Nachkommen eben dieser Sklavenhalterkultur im Hier und Jetzt wiedererkennen?
Ein einheitlicher, gemeinsam gefühlter und gemeinsam lodernder Bezug zur eigenen Geschichte von Repression, Marginalisierung, Leid und Flucht fehlt in der kurdischen Bewegung enorm. Die einzelnen Parteien, die sich aus der Kurdenfrage entwickelten (wie man zu den Einzelnen auch stehen mag), haben oft jeweils nur die eigene Geschichte behandelt und thematisiert. Die benannte Fragmentierung kommt gerade aus diesem Defizit heraus.
Sieht man heutzutage nach 3 Jahren Kampf gegen den IS jedoch an die Frontlinien, so sieht man oft verschiedenste Kräfte unterschiedlichsten Ursprungs vereint. Ob Komala-Peshmerga, YNK-Peshmerga, HPG, YPG/YPJ oder YBŞ – sie kämpfen an unterschiedlichsten Fronten koordiniert zusammen.
Die wohl größte Bastion dieses gemeinsamen Kampfes ist die Frontlinie rund um Kirkuk, derselben Stadt, die gerade in den Schlagzeilen steht, da sie am Referendum zur Unabhängigkeit Kurdistans am 25. September teilnahm und nun die irakische Armee mitsamt der Hashd al-Shaabi zur Mobilisierung rund um die und zum Angriff auf die Stadt verleitet hat. Im Zusammenhang mit dieser besorgniserregenden Entwicklung ist die Fragmentierung der Kurdinnen und Kurden, aber auch die allgemeine Frage nach dem Recht, Geschichte schreiben zu dürfen, wieder einmal zentral.
Der Knackpunkt an der Frage rund um den Status Kirkuks ist die Frage nach ihrer ethnischen Zusammensetzung. Arabische Nationalisten verschiedenster Colleur, egal ob sunnitisch oder schiitisch, egal ob religiös oder laizistisch, gehen regelrecht an die Decke, wenn behauptet wird, Kirkuk sei kurdisch. Mit unendlicher Freude teilten irakische Seiten Fotos von irakischen Soldaten bzw. Milizionären, die in übernommenen kurdischen Posten Kurdistanflaggen abgerissen haben, angemalt haben und über die Peshmerga spotten.
Es geht jedoch weiter: Heute in den frühen Morgenstunden haben irakische Armee und die Hashd al-Shabi, eine vom Iran aufgebaute shiitische Miliz, die Stadt Angegriffen, da die Peshmerga und die Guerillaeinheiten der PKK sich einem zuvor gestelltem Ultimatum, die Stadt zu verlassen, nicht gebeugt haben.
Es scheint als könne man sich einfach aussuchen wem Kirkuk gehört, was Kirkuk ist und unter wessen Kontrolle das nun sein darf. Ein Blick in die Geschichte zeigt die Ausmaße dieser Art von Politik, die meint das Primat über Geschichte und Zusammensetzung einer Stadt zu haben.
Wie viele Kenner des Konflikts zwischen dem Irak und Kurdistan wissen, gehört Kirkuk zu den nach Artikel 140 der irakischen Verfassung umstrittenen Gebieten. Was mit dieser Bezeichnung mitschwingt ist ein Gedanke, dass die Sache einfach noch nicht geklärt wäre, dass man einfach noch eine Runde quatschen müsse, bevor das alles dann in trockenen Tüchern ist. Tatsache ist jedoch, dass Kirkuk mit anderen erdölreichen Städten am Randgebiet Kurdistans eines der Hauptschauplätze von Saddam Husseins genozidialer und rassistischer Politik war und zu einem Massengrab der kurdischen Identität wurde. Sowohl im Nachgang des sogenannten ‚Ashbatal‘, der Waffenniederlegung der Peshmerga im Jahre 1974, als auch während der Anfal Kampagne Ende der 80er Jahre wurden Abertausende Kurdinnen und Kurden aus diesem Gebiet gezielt angegriffen und in sogenannte mujama’at deportiert. Diese künstlich erschaffenen Städte zeichneten sich dadurch aus, dass sie in unfruchtbaren und schwer erreichbaren Randgebieten errichtet wurden, um so die Bevölkerung sozial, kulturell, wirtschaftlich und vor allem Militärisch abzuschirmen.
In erbarmungslosen Angriffshandlungen wurden Kurdinnen und Kurden bombardiert, terrorisiert und deportiert. Einfach weil sie an einem Ort angesiedelt waren, der für Saddam strategisch und wirtschaftlich wichtig war. Selbst im Nachhinein wurden kurdische Schulen in diesen Gebieten gezielt verhindert, sodass die weiterführende Bildung in jedem Fall nur auf Arabisch möglich war. Wo der Rassismus ist, da ist der Sexismus auch in diesem historischen Beispiel nicht fern gewesen: arabische Männer, die kurdische Frauen heirateten, wurden sogar finanziell belohnt, als wären Ethnie, Sprache und Identität lediglich durch männliche Hände zu tradieren.
Diese Handlungen liefen selbstverständlich jenseits des Wissens der sonstigen irakischen Bevölkerung ab. In den 70er Jahren war der Irak ohnehin der liebste Partner des Westens. Der Handel lief unentwegt und die bevorzugte arabische Bevölkerung lebte in Saus und Braus. Hinter den Fotos der westlich angezogenen Frauen des Iraks dieser Jahre steckt eine bizarre Show des Baathistischen Regimes, das seiner rassistischen Handlungen noch einen westlich-modernen Anstrich gab. Währenddessen wurden Kurdinnen und Kurden für die geringste Verbindung zum kurdischen Widerstand in Sippenhaft genommen, gefoltert und bedroht. In Städten wie Mossul, Kirkuk und Xaneqin waren diese Handlungen besonders grausam, da sie unter starkem Einfluss irakischer Geheimdienstler standen und Exekutionen und Kidnappings in diesen Zeiten im Sekundentakt abliefen.
Als das Baath Regime schließlich 2003 gestürzt wurde und sich langsam die neue Verfassung des Irak herauskristallisierte war klar, dass das Thema Kirkuk und das der umstrittenen Gebiete definitiv geklärt werden muss, wenn es nicht zu Problemen kommen soll. Eine oft vorgeschlagene Methode war die des Referendums zur Klärung solcher Fragen. Als bereits 1970 Verhandlungen zwischen Saddam und Mustafa Barzani geführt wurden, wurde geklärt, dass bis 1974 ein Referendum in Kirkuk geführt werden solle, was schlicht und ergreifend aufgeschoben wurde, bis der kurdische Widerstand 1974 endgültig scheiterte. Was in den letzten Monaten am Rande des Referendums von linker wie von rechter Seite als vollkommen seltsame Sache erachtet wird, ist etwas, was seit mehr als 40 Jahren im Raum steht: Per Referendum entscheiden, wozu diese Städte gehören. Auch Artikel 140 der irakischen Verfassung von 2005 klärte, dass diese Regelung durch ein solches Plebiszit geschehen solle. Dass hier auch teilweise kurdische Quellen von einer Provokation reden, ist unverständlich. Seit 2005 weigert sich die irakische Regierung ein solches Referendum bindend durchzuführen um eine Beantwortung dieser Frage möglich zu machen.
Aber lassen wir mal das rechtliche „Dazugehören“ einer Stadt beiseite. Was zeigten denn die besagten letzten 3 Jahre des Kampfes gegen den IS? Gerade diese Jahre haben gezeigt, dass die jetzt so vor Kraft strotzenden irakischen Kräfte nicht imstande waren die umstrittenen Gebiete zu verteidigen. Gerade die umstrittenen Gebiete sind es gewesen, die die vereinte kurdische Mobilisierung organisieren mussten, um diese Städte vor dem Schlimmsten zu retten. Es sind HPG und YNK Kräfte gewesen, die in den ersten Tagen des neuen Jahres 2015 nach Jalawla (Diyala) und Kirkuk vorgedrungen sind, um die massiven Angriffe des IS abzuwehren.
Was wir sehen ist also eine dreifache Dreistigkeit:
Wir sehen eine irakische Bevölkerung und eine irakische Armee, die vollkommen verleugnet, dass eine gezielte Arabisierungspolitik die Zugehörigkeit der Stadt Kirkuk zu einem Politikum macht.Wir sehen eine irakische Armee, die völkisch-rassistische Propaganda gegen die Kurdinnen und Kurden und ihre Selbstverteidigungskräfte forciert.
Wir sehen eine irakische Armee, die einen Prozess, der eigentlich schon seit Jahren in ihrer Verfassung geregelt ist, als Bedrohung wahrnimmt, obwohl dieser Prozess keineswegs auf einem Pfad der Zusammenarbeit angestoßen wurde.
Und schließlich sehen wir eine irakische Armee, die sich doch allen Ernstes dazu erdreistet Truppen, die Blut, Schweiß und Tränen im Kampf gegen den IS gegeben haben aus diesem befreiten Gebiet vertreiben zu wollen, nachdem sie selbst nicht ansatzweise dazu in der Lage waren für die Sicherheit dieser Gebiete zu sorgen.
Denn die Hoheit der Peshmerga, die kam nicht aufgrund der Güte der irakischen Armee. Als in den Folgejahren der neuen irakischen Republik Städte wie Xaneqin und Kirkuk tagtäglich Opfer von Bombenattentaten waren, die Bazare und Straßen der Innenstädte in Blut getränkt waren, der tägliche Blick in Nachrichten und Zeitungen zerrissene Körperteile und zerfetzte Leichen zeigte, da waren die Peshmerga diejenigen, die Straßenkontrollen innerhalb und außerhalb der Stadt führten. Sie waren diejenigen, die unter einem gigantischen Aufwand die Umgestaltung von der damaligen Guerilla-Truppe zur handlungsfähigen Stadt- und Militärpolizei stemmten um so diese Städte vor dem Terrorismus zu schützen. Bis heute gehören gerade die Städte unter der Kontrolle der YNK-Peshmerga (PUK-Peshmerga) zu den sichersten im gesamten Irak.
Was in Kirkuk vor sich geht, das ist ein Prozess der vollkommenen Verleugnung dieser schmerzhaften Vergangenheit. Zwischen Assimilation und Arabisierung, zwischen gescheiterten politischen Prozessen und einem grausamen Krieg gegen den Terror weigern sich große Teile der irakischen Öffentlichkeit kritisch in ihre Vergangenheit zu blicken und zu verstehen, was für eine Unverschämtheit der Vorstoß in Richtung Kirkuk eigentlich ist.
Es ist wieder einmal in der Hand der Mächtigen zu entscheiden, was die Geschichtsschreibung ist und wie Kirkuk zu bewerten ist. Es ist nun in der Hand der Kurdinnen und Kurden gerade in diesen Tagen eine weitgehende Kampagne zu starten, die auf den Fall Kirkuk und die Frage der umstrittenen Gebiete aufmerksam macht. Die Aufarbeitung und Thematisierung der Auslöschungspolitik Saddam Husseins ist vollkommen in den Hintergrund geraten. Es mag bizarr sein, doch nun wird wieder gegen Saddam gekämpft, und das post mortem. Es wird gegen das Vergessen der Implikationen aus Deportation und Arabisierung gekämpft, im Kampf gegen die Feinde der kurdischen Bevölkerung, ihrem Existenz- und Selbstverwaltungsrecht kämpfen sie nun auch über ihre Hoheit über die geschichtliche Aufarbeitung des Unrechtes, welches sie erfuhren.
# Manî Cûdî
# Titelbild: Willi Effenberger „Ein Peshmerga der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) an den Frontlinien gegen den „Islamischen Staat“, Mai 2016″
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