Es ist der 31. Juli 2017, Hochsommer im spanischen Gefängnis in Badajoz. Urlaubszeit für millionen Tourist*innen in Europa, die mit aller Wucht in die Vergnügunsparks der Postmoderne drängen; den Großstädten. Sie quetschen sich in die Sightseeing-Busse, „Guided Tours“ oder belagern die Hotelburgen von Barcelona über Paris, Rom und Berlin. Mittendrin, im vermeintlich grenzenlosen Kontinent, in der Region Extremadura liegt der Ort Badajoz. Dort wurde ein Knast in die Landschaft gerammt, fast 750 km vom Baskenland entfernt.
Wenige Monate sind bereits vergangen seit dem 80. Jahrestag der Bombardierung der baskischen Kleinstädte Gernika und Durango durch die deutsche „Legion Condor“ im Frühjahr 1937. Europa erlitt die ersten groß angelegten Flächenbombardierung aus der Luft und wurde Zeuge dieser neuen Vernichtungsstrategie. Tausende Menschen starben durch diese Massaker, welches Ausdruck einer direkten Kollaboration der Wehrmacht mit den faschistischen Truppen, unter der Führerschaft von General Francisco Franco, im spanischen Krieg (1936-1939) war.
Eben jener Franco führte bis zu seinem natürlichen Tode im Jahr 1975 eine beinahe vier Jahrzehnte überdauernde faschistische Diktatur auf dem europäischen Kontinent. Unter ihm wurde das Konstrukt der spanischen Nation manifestiert, autoritäre Herrschaft in die Bevölkerung gefoltert und ein antidemokratischer Ausnahmezustand zur Regel. Die Aufarbeitung dieser Zeit ist für die post-franquistische Gesellschaft im spanischen Staat bis heute eine lästige „Herausforderung“. Die nach Francos Tod, in einer als „Transición“ bekannten Phase, aufgebaute parlamentarischen Monarchie, wird heute in Gestalt der aktuellen Regierungspartei PP (Partido Popular) in Madrid durchgesetzt. Das post-franquistische Lager pflegt mit einer jahrzehnte langen Tradition die Gesinnungspolitik des vergangenen Regimes und besetzt die eigenen Reihen und Ministerien, wenn möglich, entlang der Erbfolgen faschistischer Kader aus der Zeit der Diktatur. Die Toten, Gefangenen, Geflüchteten und Verfolgten durch franquistische und post-franquistische Herrschaft sind zahlreich. Und an diesem Sommertag den 31. Juli, im Gefängnis von Badajoz, gibt es ein weiteres Opfer zu beklagen.
Agur eta ohore Kepa!
Der Baske Kepa del Hoyo stirbt am 31. Juli 2017 nach 19 Jahren Haft im spanischen Knast an Herzinfakt. Er wird 46 Jahre alt.
In vielen Dörfern und Städten in Euskal Herria (Baskenland) kommt es innerhalb von 24 Stunden zu kleineren spontanen Kundgebungen, Bannern an öffentlichen Plätzen, Graffities und schwarzen Trauerfloren an der Ikurrina (Flagge des Baskenlands). Anteilnahmen und Wut bestimmen die Atmosphäre.
Kepa del Hoyo war einer von nun aktuell 327 baskischen Gefangenen die seit einem halben Jahundert über Westeuropa verstreut sind. Hunderte Gefangene werden durch die Regierung Rajoy im spanischen Staat gefangen gehalten, über 50 in Frankreich und die Aktivistin Nekane Txapartegi in der Schweiz. Sie soll ihren Folterern von der Guardia Civil demnächst wieder ausgeliefert werden, trotz der gegenläufigen Empfehlung durch eine UNO-Sonderberichterstattung.
Erst im Juni konnte Tomas Elgorriaga Kunze nach Festnahme in Mannheim und einer Verschleppung ins französische Gefängnis in Fleury, die Knastmauern hinter sich lassen. (1) Diese Taktik der „Dispersión“ (Zerstreuung) steht in der Tradition der andauernden Unterdrückungs- und Assimilationspolitik gegen die baskische Gesellschaft. Der Tod von Kepa ist ein Resultat des Irrglaubens des spanischen Staates einen politischen Konflikt mit Polizei und Justiz lösen zu können. Seine Todesfalle: Badajoz, hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts als eben genau diese bereits einen Namen gemacht. Wo heute ein Kongresszentrum belanglos vor sich hindöst, wurden im August und September 1936 Massenhinrichtungen an Franco-Gegner*innen durchgeführt. (2)
Die Gefangenen und sich selbst befreien
Trotz der nun vollständigen Waffenabgabe durch die in Euskal Herria seit 1959 für Unabhängigkeit und Sozialismus kämpfende Organisation E.T.A. (Euskadi Ta Askatasuna – Baskenland und Freiheit) im April diesen Jahres und dem jeher einseitig geführten Friedensprozess der abertzalen („patriotisch“) Linken (3), spielt die Gefangenenfrage und der Kampf für Amnestie bzw. die Rückkehr der Gefangenen ins Baskenland, eine gewichtige Rolle in der Mobilisierung der Gesellschaft. Das politische Kampffeld der Gefangenenbewegung bildet eine Schnittmenge zwischen der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken.
In einem im Jahre 2009 von der links-abertzalen Bewegung veröffentlichten Strategie- und Analysetext heißt es dazu:
[…] Politische Gefangene und Flüchtlinge sind Folge des durch die Politik der Staaten hervorgerufenen Konflikts. Gleichzeitig sind sie klare Zeichen des Befreiungsprozesses. Beispiele eines Volkes, das für die Freiheit kämpft. Beispielhaft ist nicht nur ihr Einsatz, sondern auch die Bewahrung ihrer politischen Ziele. […] (4)
Die Gefangenenbewegung in Form von Gefangenenkollektiven, Unterstützungsorganisationen und Kampagnen sind, wie bereits angesprochen, jeher der Repression des spanischen Staates ausgesetzt. Vergleichbar mit der Kriminalisierung von Anwält*innen und Gefangenenunterstützer*innen in den 70er/80er/90er Jahren in der BRD, denen die Mitgliedschaft in der RAF (Rote Armee Fraktion) oder der Bewegung 2. Juni unterstellt wurde. Doch egal ob im Parlament oder auf der Straße – heute ist die öffentliche Solidarität mit den baskischen politischen Gefangenen trotz „Anti-Terror-Gesetzen“, Folter und permanenter Einschüchterungen ein wesentlicher Faktor im politischen Leben. Erinnern wir uns an die knapp 70 000 Menschen auf den Straßen von Bilbo (spanisch: Bilbao) am 14. Januar 2017, die dem Aufruf: „#SalatzenDut“ (“Ich klage an”) gefolgt sind. (5) Eine Errungenschaft des jahrzehnte langen gesellschaftlichen Kampfes ist die in Euskal Herria über Generationen hinweg gepflegte und ungebrochene Solidaritätsarbeit für die Gefangenen. Die Parole „Euskal presoak eta iheslariak etxera!“ oder „Osoa, osoa – Amnestia osoa!“ und das Bewusstsein das mit ihrer Rückkehr eben auch ein politischer Kampf verbunden ist, sind im Alltag vieler Basken noch tief verankert.
Hator, hator! Nach Hause mit den Gefangenen!
Die Intensität der Solidarität mit den Gefangenen potenziert sich nicht nur in Demonstrationen. Ein weiterer Ausdruck ist das in diesem Jahr vom 27.-30. Juli organisierte Musikfestival “Hatortxu Rock“. (6) Im kleinen Dorf Lakuntza in der Provinz Nafarroa kamen zehntausende Menschen zusammen um bereits das 20. Jubiläum dieses Solidaritätsfestivals gemeinsam zu bestreiten. „Txori askeen unea heldu da“ lautete das Motto des Organisationskomitees, was soviel bedeutet wie: “Zeit die Vögel in die Freiheit zu entlassen”. Das Festivalpublikum bestand hauptsächlich aus sehr jungen Leuten, die auf dem großen Zeltplatz im nahe gelegenen Wäldchen, doch sehr behutsam und hilfsbereit im Taumel des musikalischen Spektakels miteinander umgingen. Die Shows waren schon fast traditionell geprägt von bestimmten Musikstilen: Hardrock, Punk oder Ska-Punk. Ein Rapkonzert von Sara Hebe aus Argentinien, Cumbia Dj-Sets oder treibende Rhytmen der Los Zopilotes Txirriaos boten Abwechslung. „Hatortxu Rock“ ist zu einem traditionellen Veranstaltungsrahmen der linken baskischen Jugend gewachsen, dessen primärer Zweck es ist, finanzielle Mittel für die Gefangenen und deren Angehörige zu sammeln.
Die Festivalkoordination zeichnet sich vorallem durch die professionelle Organisation und Struktur aus. Dieses Jahr allerdings in einer nie dagewesenen Dimension. Mehr als 6500 freiwillige Helfer*innen waren im Vorfeld für Schichten in den Bereichen: Kommunikation, Radio, Verpflegung, Technik, Ablauf oder Sicherheit eingeteilt. Sehr präsent waren antisexistische Parolen z.B. auf Bannern und die Festival-Telefonnummer gegen drohende oder ausgeübte sexualisierte Gewalt, welche 24 Stunden erreichbar war. Eingeleitet wurde das Festival im Vorfeld von einem langen Solidaritätsmarsch, der in Gernika startete und etappenweise den Atlantik entlang bis ins Innere von Euskal Herria verlief, zum Endpunkt “Hatortxu Rock“. Mobilisiert hat nach langer Zeit der strukturellen Leere und Repression, dass vor wenigen Monaten neugegründete Gefangenensolidaritätsnetzwerk „Kalera!“ („Auf die Straßen!“).
Das Dorf Lakuntza sowie das örtliche Gaztetxe (Jugendhaus) beteiligten sich während der gesamten vier Tage an einer eigenen Kulturbühne und kleineren Umzügen. Neben namenhaften Bands wie Des-Kontrol (Baskenland), Talco (Italien) und Su Ta Gar (Baskenland), fand im örtlichen Kultur Etxea (Kulturhaus) eine internationalistische Podiumsveranstaltung mit Beteiligung aus Palestina, Bolivien und Videobotschaften aus Kolumbien statt. Mit dabei ist der bis 1993 gefangenen Ex-IRA und nun Ex-Gefangenen Komitee „Coiste na n-Iarchimí“ Aktivist, Michael Culbert aus Irland. Das Geschehen an den Festivaltagen wurde täglich von einer aktuellen Festivalzeitschrift dokumentiert und kostenlos bereitgestellt. Beendet wurde der eintrittsfreie und letzte Festivaltag neben Reden auf den Hauptbühnen mit einer für knapp 1000 Menschen organisierten kostenlosen Mahlzeit auf dem geschmückten Dorfplatz, dem Platz des Volkes.
Francos Geist in der Dorfkneipe
Um die Perspektive des durchaus großen gesellschaftlichen Potentials für die Durchsetzung der Forderungen „Etxera!“ also „Nach Hause!“ (Die Gefangenen zurück ins Baskenland), der Zusammenlegung oder gar einer Amnestie bewerten zu können, muss man die Geschichte des Kampfes betrachten. Trotz der jahrelangen Bemühungen aus dem links-abertzalen Spektrum (einschl. E.T.A.) für eine wirkliche demokratische Alternative durch Verhandlungen, mit dem Ziel eine gesellschaftliche und politische Lösung durchzusetzen, verweigerte sich die verantwortliche Parlamentselite aus Madrid vehement. Statt diesen gemeinsamen Prozess zu bestreiten wurden Waffenruhen mit E.T.A. gefürchtet oder noch vor der Ausrufung sabotiert. Alles wurde getan um den Ausnahmezustand am Leben zu erhalten und ihn schließlich zur Regel werden zu lassen.
Die Auswirkungen einer jahrelangen Kriminalisierungs- und Blockadepolitik des Staates waren für junge Bask*innen nicht zuletzt im Juli 2016 wieder deutlich spürbar. Als zehn Einwohner*innen in einer Dorfkneipe im kleinen Ort Altsasu mit der örtlichen Polizei ihre Meinungsverschiedenheiten austauschten, wurde die darauf folgende Rangelei am nächsten Tag als „terroristischer Akt“ verurteilt. Drei Bask*innen sitzen deswegen immernoch in Untersuchungshaft, die Anklage fordert zwischen 12 und 62 Jahren Gefängnis. Aktivist*innen aus dem Dorf organisieren seit dem eine eigene Kampagne, verkaufen T-Shirts, organisieren Kundgebungen und wehren sich auf Spruchbändern gegen die generelle Kriminalisierung ihrer Kommunen durch die lokale Polizei. Erst Mitte Juli kam es zu einem beeindruckenden Protest in Iruñea (spanisch: Pamplona), vor wenigen Tagen wurde in Gasteiz eine große Kundgebung abgehalten.
Auch wenn es momentan, bis auf vereinzelte Kämpfe, noch keine glasklaren Konturen in der neuen Phase des demokratischen Prozess der links-abertzalen Bewegung gibt, so bleibt die Gefangenenfrage vielleicht einer der wichtigsten verbindenden Impulsgeber für ein Bewegungsprofil nach all den Jahrzehnten des bewaffneten Kampfes. Mit der andauernden Blockadehaltung, vorallem gegenüber den Gefangenen, leistet der spanische Staat jedenfalls ganze Arbeit in der Politisierung und Identitätsbildung für viele baskische Jugendliche. Auch die omnipräsenten Bilder der Trauerfeier für Kepa und die damit verbundene Suche nach Antworten wird in vielen jungen Köpfen hängen bleiben.
Am Besten beschreibt es wohl die Aussage Michael Culberts im Zwiegespräch nach der Podiumsveranstaltung im Kulturhaus von Lakuntza: „Der Geist Francos ist hier immernoch spürbar.“ Er selbst sei zum „Hatortxu Rock“ Festival gekommen um als Aktivist im Komitee Ex-IRA-Gefangener, in der aktuellen Situation aus seiner Geschichte heraus, im demokratischen Prozess zu beraten. Lachend und abgebrüht meint er: „Aber bitte zitiert mich erst öffentlich wenn ich das Land wieder verlassen habe.“
El Quico
Fußnoten:
(1) http://www.info-baskenland.de/1675-0-Endlich+wieder+frei.html
(2) S.181, telegraph #Sondernummer Ausstellungskatalog: Tragödie der Freiheit – Revolution und Krieg in Spanien (1936-1939) Fragmente)
(3) Abertzale / abertzale Linke: Das baskische Wort “abertzale” bedeutet in seiner ursprünglichen Übersetzung “patriotisch”. Die mit dem deutschen Begriff verbundenen idologischen Konnotationen unterscheiden sich wesentlich vom baskischen “abertzale”. Im 21. Jahrhundert bezeichnen sich alle die Organisationen und Individuen als “abertzale”, die ein neues baskischen Gemeinwesen anstreben, das jenseits des aktuellen Rechtsrahmens der spanischen und französischen Verfassung sowie der bestehenden Autonomiestatute enstehen soll. […]
Klärung der politischen Phase und der Strategie (Euskal Herria, Oktober 2009)
(4) Broschüre: Klärung der politischen Phase und der Strategie (Euskal Herria, Oktober 2009)
(5) https://www.taz.de/!5371668/
(6) https://www.hatortxurock.eus/