Eine Internationale für Herzen und Köpfe

1. Juni 2017

Diese niedergeschriebenen Beobachtungen verstehen sich als Beitrag zu einem aktiven Gedenken. Die Alternative zu einem bloß beschreibenden Bericht über das Gedenkfest für gefallene Internationalist*innen am 06. Mai in Celle.

Wir erinnern uns

Wir erinnern uns an vieles was wir gelernt, erlebt oder wen wir kennengelernt haben. Vieles davon entschwindet unserem Denken und auch dadurch wie wir denken. Im Laufe der Zeit überlagern neue Ideen, Erfahrungen oder Gesichter das “alte”. Im besten Fall häufen sich unsere Erinnerungen zu Erkenntnissen, die gleichzeitig auch unseren Erfahrungsschatz bilden. Wir ziehen Schlüsse, verknüpfen und handeln danach. Doch wir vergessen wieder und erinnern uns nicht mehr, wenn wir allein mit uns selbst sind.

Was sich anhört wie eine lapidare und objektive Weisheit, ist im Grunde ein subjektiver und zutiefst  menschlicher Vorgang. Also: erinnern wir uns wieder gemeinsam! Denn fast genau 50 Jahre ist es nun her, dass in der Bundesrepublik der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten in West-Berlin mit einem Kopfschuss ermordet wurde. Es war der 2. Juni 1967, Benno wurde nur 24 Jahre alt.

Studenten demonstrieren am 5. Juni 1967 in Muenchen aus Anlass der Toetung von Benno Ohnesorg.

Dieser Mord, so wie viele davor und danach, resultieren häufig in individuellem und kollektivem Vergessen. Ein Vergessen um eine widerständige und gesellschaftliche Geschichte. Aus unserer linksradikalen Perspektive heute, 50 Jahre nach 1967, 72 Jahre nach Auschwitz und fast 100 Jahre nach den Kämpfen der Novemberrevolution, erleben wir ein universelles Vergessen. Durch dieses Vergessen wird auch Benno zum zweiten Mal ermordet.

Die geschichtliche Kontinuität herrschaftlicher Logik in der BRD und dessen aggressiv institutionalisierter Ausbau haben System. Der demokratische und gesellschaftliche Widerstand aber ebenfalls. Unser Vergessen um die Opfer der Repression gegen gesellschaftlich emanzipatorische Prozesse, befördert unsere Marginalität und elitäres Denken – letztlich mündet sie in Selbstisolation. Bröckchen von sozialrevolutionärem Bewusstsein wabern wie Staubflocken durch unsere Reihen. Stattdessen werden große Erzählungen konstruiert oder im Falle der 68er Bewegung, “Deutscher Herbst” und bewaffnetem Kampf (un-)bewusst mystifiziert und konsumiert. Das theoretische Wissen um die vergangenen Kämpfe, Erfolge und Niederlagen ist greifbar aber praktisch nur noch diffus in unserem Alltag präsent. Der Versuch, widerständiges und revolutionäres Geschichtsbewusstsein, jenseits des Nieschendaseins und Kommerz, aufzugreifen und in einen relevanten gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen, wird oft ausgespart.

Kundgebung für den im deutschen Knastsystem gefallenen Holger Meins

Vergessen sind ernsthafte solidarische Diskussionen um Perspektiven eines Widerstands, der aus den eigenen Bedingungen und Bedürfnissen kämpft. Vergessen sind die viele (offenen) Fragen: Wie vollziehen wir bewusst die “Neubestimmung von Inhalt und Form unserer Politik” (Irmgard Möller, ehem. RAF, 1992)? Welchen Einfluss hat das Patriarchat in uns und unserer Gesellschaften? Wie vergesellschaften wir Ansätze einer selbstorganisierten und basisdemokratischen Praxis? Was für eine Bedeutung hat der Kampf der Gefallenen in dem Zusammenhang für uns? Wie sorgen wir dafür, uns und die Menschen um uns herum nicht an den Staat zu verlieren? Wie “einen politischen Moment, eine Phase mit dem Gespür für das aktuell Notwendige aus(zu)füllen –, ohne dabei die strategische Orientierung aus dem Auge zu verlieren” (ein Gefangener aus dem antiimperialistischen Widerstand, 1992)? Wie einen (bewussten) Bruch vollziehen, ohne zu vergessen?

Aus den möglichen Antworten wird nur selten eine Haltung abgeleitet und noch seltener wird daraus verbindlich gehandelt. Wir erinnern uns nicht und verfallen in “Positionsklopperei” (Eva Haule, ehem. RAF, 1992), anstatt

“alte Schubladen, in die wir zu lange unhinterfragt Genossen und Gruppen gesteckt haben – […] müssen wir ausräumen und versuchen, die Sachen, die uns tatsächlich trennen, denen gegenüberzustellen, die uns verbinden.” (Bewegung 2. Juni, Reinders/Viehmann/Fritzsch, 1980)

Der pulsierende neoliberale und neofaschistische Rollback im Nervensystem der kapitalistischen Gesellschaft verstetigt sich in einer neuen historischen Phase und verstärkt seit ’89 ungebremst die soziale Verelendung. Menschen, die im Dienste der Institutionen zu Täter*innen werden, wollen vergessen. Oder sie gelangen durch die Brutalität der gesellschaftlichen Zustände noch nicht einmal in die Situation sich zu entscheiden. Die nächste Generation, die sich dieser Logik in den Weg stellt, vergisst den Widerstand und die Opfer von damals. Doch offensichtliche Widersprüche verstärken sich, konkrete Perspektiven wie in Rojava werden aufgebaut und Menschen erinnern sich wieder!

„Kein politischer Organisierungsprozess sollte sich demnach auf die Zentren konzentrieren. So sollte eine politische Kraft, die das neue Paradigma vorantreiben will, sich als Initiatorin einer breiten Selbstorganisierung der gesellschaftlichen Gruppen sehen, […]” (Riza Altun, Gründungsmitglied der PKK, 2012)

Die Alternativen leben!

Wenn wir der kurdischen Freiheitsbewegung eines nicht vorwerfen können, dann ist dies, vergesslich zu sein. Das Gedenken an die Menschen, die für das Ziel, hin zu einer befreiten und selbstbestimmten Gesellschaft ihr wertvollstes gegeben haben, ist ein zentrales und kollektives Moment. Aber auch die passive Gesellschaft, die zur Zielscheibe derer wird, die dies mit aller Gewalt zu verhindern versuchen, werden nicht vergessen. Dieses Bewusstsein verhilft der Bewegung zu Kontinuität und Weiterentwicklung und sollte revolutionären Basiskämpfen, Aktionen und Organisierungsprozessen in der BRD, spektrenübergreifend ein Vorbild sein. Für eine starke Präsenz der Gefallenen, fest verankert in allen Lebensbereichen.

Erinnerung an gefallene Genoss*innen hinter den Barrikaden 2015 im Stadtkern von Şirnex (Şirnak), Nordkurdistan

Menschen die in Deutschland aufgewachsen sind und zum Teil auf widersprüchlichen Wegen Zugang zu dieser Bewegung erfuhren, schlossen sich dem internationalen Kampf in Kurdistan an. Unter anderem auch wegen dieser Stärke und Anziehungskraft.

Ihr Feuer, ihre Offenheit und Lebensfreude kann ein Zugang für uns alle sein. Nämlich der Zugang zu uns selbst, um unsere momentante Haltung und unsere gesellschaftliche Perspektive weiterzuentwickeln. Ihr Tod ein Fanal für uns, um sie als Gefallene in unserem Kampf, durch unsere Organisierung und Diskussionen am Leben zu erhalten.

“[…] Ich habe einen Entschluss gefasst, ich habe Tage und Nächte mit den Gedanken in meinem Kopf gelebt und heute ist der Tag, an dem ich mit meinem Willen, der so stark ist wie die Strömung des Flusses Dîcle, den Schritt gehen werde. (…) Wenn ich zurückkomme, werde ich meine Genoss*innen, mein Umfeld mit dem Kampfgeist und der Willenskraft anstecken, ich werde wie die schönsten Lieder sein und jede*n in meinen Bann ziehen. Ich werde eine Guerilla voller Nächstenliebe und Hoffnung.” (Ivana Hoffmann)

Gedenkraum für gefallene Internationalisten beim Gedenkfest in Celle am 6. Mai 2017

Das Motto “Erinnern heißt kämpfen” bedeutet, den Weg der Gefallenen fortzusetzen, es bedeutet Verantwortung zu übernehmen. Nicht als Selbstzweck, sondern ausgehend von den gesellschaftlichen Ideen und Prinzipien einer Bewegung, für die sie Partei ergriffen. Denn eines ist sicher, wir müssen Partei ergreifen und niemals vergessen. Nur wenn wir uns an die Geschichten von Benno Ohnesorg, Anton Leschek, Ulrike Meinhof, Sakine Cansiz, Haci Lokman aber auch Carlos Javier Palomino, Clément Méric, Özgecan Aslan oder Halim Dener gemeinsam erinnern, dann wird der Frühling eine fruchtbare Zeit einleiten, unser Feuer nie erlischen. Mit dem Vergessen jedoch, verblasst nicht nur ihre, sondern auch unsere Geschichte.

Es geht hier um mehr als eine reine Pflichterfüllung oder das Aufpolieren moralischer Grundsätze. Das Gedenkfest in Celle vom 6. Mai versucht den Aufbruch einer Gedenkkultur, die unter den veränderten Vorraussetzungen weltweiter Kämpfe, als Teil eines neuen Internationalismus entstehen kann.

Wir müssen noch so viel lernen! Und das gute ist: wir haben alle Möglichkeiten dazu. Überall auf der Welt gibt es Kämpfe, die neugierige und beherzte Menschen einladen, mit ihnen zu sein, zu kämpfen, zu leben, Trauer und Freude zu teilen. Und die selber neugierig sind auf unsere Erfahrungen und Fragen. Wir können die Internationale der offenen Herzen und Köpfe sein. Jede Begegnung mit Menschen aus (anderen) Kämpfen um Befreiung vom Moloch hilft uns, unsere Grenzen und Mauern zu überwinden: „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen, kommt zusammen Leute, lernt euch kennen“ haben uns Ton Steine Scherben in das Stammbuch geschrieben. Wir müssen lernen, uns gegenseitig wertzuschätzen, in den täglichen Kämpfen in unseren Vierteln wie in unseren internationalen Begegnungen. Die Gedenken an die Gefallenen führen uns zueinander, lassen uns innehalten und nach vorn schauen.

Das Vorbereitungskomitee begrüßt die positiven Rückmeldungen sowie die entschlossene überregionale Koordination und Unterstützung solcher Aktionen. Besonders schön war, dass sich tatsächlich auch Angehörige aus Kanada, Australien und England auf den Weg gemacht haben, Teil dieses Festes zu sein, andere Eltern von Gefallenen kennenzulernen, Schmerz zu teilen, Verbundenheit aufzubauen und zu spüren.

Şehîd Gabar Rojava/John Gallagher

Sehr bewegend war der Moment, als Valerie, die Mutter von John Gallagher, in einem Gespräch von der Rückführung der Leiche ihres Sohnes berichtete: In Kanada gibt es eine „Straße der Helden“, auf der die Toten aus den NATO-Kriegen, an denen Kanada beteiligt ist, zur Beerdigungszeremonie in einer Kaserne gefahren werden. Johns Angehörige wollten, dass ihr Sohn ebenfalls auf dieser Straße gefahren wird. Und sie zeigte Fotos von den tausenden Menschen, die diese Straße zum letzten Geleit ihres Sohnes säumten, alle Brücken voller Menschen, mit Fahnen und Transparenten. (Unserer Erzählung von Kriminalisierungsversuchen und der Konfiszierung der Leichen durch die BRD wurde mit großem Bedauern entgegnet.)

# Das Vorbereitungskomitee

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