Die fünf wichtigsten Dinge, die ihr braucht, wenn ihr nach Kurdistan reist.
Bevor ihr nach Kurdistan aufbrecht, überlegt ihr wahrscheinlich viele Tage oder gar Wochen lang, was ihr denn in den einen Wanderrucksack packen sollt, den ihr mitnehmen könnt. Freund*innen in Europa sagen dann meistens: Bringt Süßigkeiten mit, die haben vor Ort keine richtig guten und alle freuen sich darüber. Das ist nicht ganz falsch, aber eben auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es gibt Dinge, die viel essentieller sind, als Schoki, und das beste an ihnen ist: Im Unterschied zu Keksen und Haribo könnt ihr sie kollektiv nutzen und bei eurer Abreise verschenken.
Eigentlich wird euer Trip nach Kurdistan – zumindest, wenn ihr als Aktivist*innen kommt – zunächst davon geprägt sein, dass ihr viele Dinge, die ihr zuhause für unentbehrlich gehalten habt, nicht mehr braucht und auch nicht vermisst. Die Sachen, die ihr mitbringen oder euch hier anschaffen müsst, sind im Vergleich dazu sehr wenige an der Zahl.
Sie lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen. Da ist einmal die Gruppe von Dingen, die euch ohnehin keinen Platz im Rucksack wegnehmen, denn es ermangelt ihnen an räumlicher Ausdehnung: Neugier; Entschlossenheit; den Wunsch, zu verstehen, zu lernen, sich zu ändern; vielleicht ein bisschen Mut oder zumindest die Einsicht, dass das Sterben nicht das Schlimmste ist, was einem im Leben widerfahren kann. Von diesen Dingen könnt ihr so viel einpacken, wie ihr wollt, denn sie sind leicht zu tragen und nehmen euch keinen Platz im Rucksack weg.
Von den anderen Dingen, die Platz brauchen und Gewicht haben, handelt dieser Text. Unsere Top-5 der brauchbaren Gegenstände für längere Kurdistan-Reisen.
Platz 5: Die Şal
Im Normalfall braucht ihr, je nachdem, von wem ihr eingeladen worden seid, keine Moneten. Ihr lebt kollektiv, arbeitet kollektiv und ihr esst, schlaft kollektiv. Ein Dach über dem Kopf, eine Mahlzeit, eine Dusche – das sollte alles kein Problem sein.
Eine der wenigen Sachen, für die ihr Geld brauchen werdet, ist eure Şal, die traditionelle kurdische Pluderhose. Sicher, ihr werdet zögern und euch denken: Ich als Kartoffel sehe sicher mega lächerlich aus, wenn ich mir so eine Hose anziehe. Dann seht ihr die ersten anderen Internationalist*innen in dem Ding und ihren zufriedenen Gesichtsausdruck, während sie leichtfüßig umher hüpfen. Und irgendwann ist es dann so weit, und auch ihr tretet den Weg zum Schneider an.
Er vermisst euch, notiert sich Hüftumfang und Beinlänge. Dann sucht ihr euch euren eigenen Stoff aus. Der Stoff für die Guerilla-Hosen ist für Zivilist*innen verboten (nachvollziehbar, aber schade, denn es ist natürlich der Beste, den es gibt). Kaum zwei Tage später ist eure Hose fertig und für umgerechnet etwa 20 Euro beginnt ein ganz neues Lebensgefühl. In der Şal könnt ihr Dehnübungen machen, umherturnen, stundenlang im Schneidersitz sitzen, beim Govend-Tanzen hüpfen wie ein Profi – ihr werdet sie kaum wahrnehmen. Sie kleidet euch wohl, sie zwickt nicht, klebt nicht, kratzt nicht. Die Hosentaschen könnt ihr euch so tief schneidern lassen, dass problemlos eine Kalaschnikow, vier Hühner oder zweihundert Keksrollen mit Bananen-Vanille-Füllung darin verschwinden.
Wenn ihr wollt, könnt ihr die Hose noch durch das dazugehörige Hemd und die Weste ergänzen. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass ihr euch so viele Taschen wie ihr wollt, einnähen lassen könnt und fortan Feuerzeug, Messer, Stift oder Diktiergerät immer parat habt.
Platz 4: Stift und Heft
Ein stabiler, nicht zu voluminöser Notizblock und ein belastbarer Kugelschreiber werden eure ständigen Begleiter sein. Zum einen braucht ihr sie, um Tagebuch zu schreiben, was unumgänglich ist, denn die Vielzahl der Eindrücke verlieren sich sonst irgendwo in den Tiefen eures Hirnes. Zum anderen braucht ihr ihn während der Tekmil, der Kritik- und Selbstkritik-Session, bei der ihr zusammen mit euren Genoss*innen euer Verhalten auswertet, euch aufschreibt, woran ihr arbeiten müsst und dann danach handelt.
Zum dritten braucht ihr den Notizblock, um eure erste Aufgabe hier zu bewältigen: Das Lernen des Kurdischen. Ohne die Sprache könnt ihr euch nicht alleine bewegen, ihr werdet also immer nur Second-Hand, mit Übersetzer*in, mit Menschen reden können und das ist ja auch nix. Der Notizblock ist für euch so wichtig wie für Arthur Dent und Ford Prefect das Handtuch.
Wenn ihr nämlich wirklich Kurdisch lernen wollt, dann müsst ihr den ganzen Tag über Leute nach Vokabeln fragen und euch die sofort aufschreiben. Lehrbücher können diese Funktion nur bedingt oder manchmal auch gar nicht erfüllen. Denn in den Bücher stehen zunächst nicht die Wörter, die auf euren Lebensalltag zugeschnitten sind. Zum anderen aber gibt es unzählige Dialekte des Kurdischen. Es ist eine lebendige Sprache und wenn man sie sich aneignen will, muss man direkt im Gespräch zugreifen. Man hat den Notizblock in der breiten Pluderhose, wenn man ein neues Wort hört, zückt man ihn, schreibt die Vokabel nieder, am Abend geht es ans Wiederholen.
Platz 3: Tabak
Dieser Absatz betrifft vor allem die Raucher*innen: Pack den Rucksack randvoll mit Tabak. Warum? Bevor monopolkapitalistische Konglomerate wie Tekel alles klauten und die Kriegsmaschinerie diverser Global- und Regionalmächte hier sämtliche Wege unpassierbar gemacht haben, gab es in der kurdischen Guerilla eine Kultur des Tütün, des offenen Tabak. Der kam aus Bitlis oder noch besser aus Adiyaman oder aus anderen schönen Gegenden. Er ist gülden gelb, in feinen Fäden schlingt er sich durch dein Drehpapier, der erlesene Geruch seines Rauches entlockt selbst der verbissensten Nichtraucherfamilie am Nebentisch anerkennende Blicke, sobald du dir zu einem pechschwarzen Mirra in Diyarbakirs Seitenstraßen-Cafés eine gerollt und angeworfen hast. Und: Er fühlte sich beinahe gesund an.
Das kann man von dem, was heute an Rauchware in vielen Regionen Kurdistans zur Verfügung steht, nicht sagen. Fertigkippen namens „Arden“ und „Business Royal“, deren Herkunft und Ingredienzien genauso unerforschbar sind wie ihre Langzeitwirkung. Laut Packung enthält eine Arden light zudem 0,4 mg Nikotin, also bedeutend weniger als die meisten Kippen, mit denen du dich zuhause malträtierst. Die Konsequenz: Du rauchst durchschnittliche 300 Arden am Tag. Und was da außer Tabak sonst noch so drin ist, willst du bei einem Schachtelpreis von umgerechnet 20 Cent nicht wissen. Verloren hast du, wenn es an dem Ort, an dem du dich befindest, nicht einmal Arden gibt. Denn dann hat die jeweilige Logistik sicher die Orks der Tabakwelt besorgt: Die armenischen Akhtamar. Rauchst du eine, fühlt es sich drei Stunden so an, als hättest du dir einen randvollen Aschenbecher in den Mund geleert. Rauchst du zwei unmittelbar hintereinander, sind Sodbrennen und Kopfschmerzen noch deine geringsten Probleme. Also: Wenn du als Raucher*in anreist und nicht vor hast, aufzuhören, ist ein ordentlicher Vorrat an Tütün im Rucksack durchaus zu empfehlen.
Platz 2: Die keffiyeh
Die keffiyeh ist jenseits aller Scheindebatten, die um dieses Kleidungsstück in Deutschland geführt wird, ein für den Mittleren Osten völlig unentbehrlicher Gegenstand. Wenn euch kalt ist und ihr eine askerlik-keffiyeh, eines jener großen olivgrünen Tücher der Guerilla dabei habt, könnt ihr sie euch auf dutzende Arten so wickeln, dass sie speziell jene Körperteile wärmt, die besonders unter den niedrigen Temperaturen leiden. Wenn euch zu heiß ist – und das wird nicht selten sein – nehmt ihr eine der leichteren keffiyeh zur Hand, die man beim Arbeiten im Freien trägt.
Wenn ihr Sachen zusammenpacken wollt, sagen wir für eine Bergwanderung, aber keinen Rucksack dabei habt, legt ihr die keffiyeh in einem Dreieck auf und rollt die zu transportierenden Dinge wie ein Bonbon ein.
Sollte euch langweilig werden, hilft euch: die keffiyeh. Ihr lernt die spezielle Webtechnik, mit der man ihre Fransen verschönert, Perlen in sie einflechtet und dem Halsschmuck seinen individuellen Stil verleiht. Das Auftrennen und Zusammenknüpfen der Fäden dauert selbst für geübte Finger Tage, wenn nicht Wochen.
Oft werdet ihr in Kollektivräumen schlafen. Die Kissen sind häufig, sagen wir es höflich, etwas murkelig. Ihr aber habt: Genau, eure keffiyeh, in die ihr das Ding kurzer Hand einwickelt. In der keffiyeh wird Munition transportiert, man spannt sie über mehrere Genoss*innen, wenn es regnet und man trocknet sich, wenn kein Handtuch da ist, nach der morgentlichen Katzenwäsche Gesicht und Hände mit ihr ab. Darüber hinaus ist sie schön, insbesondere die grünen, blauen und schwarzen keffiyeh mit Blumenmuster.
Platz 1: Der E-Book-Reader
Egal, wo in Kurdistan du dich aufhältst und zu welchem Zweck du kommst, du wirst – hoffentlich, denn du willst ja etwas sehen – nicht über Wochen am selben Ort bleiben. Du musst also mobil sein, reist mit kleinem Gepäck. Und doch wirst du unweigerlich das Bedürfnis haben, viel zu lesen, noch mehr als zuhause. Denn die Atmosphäre der Revolution regt an, es wird viel diskutiert, das Bedürfnis die Ideen dieser oder jener Philosophin, dieses oder jenes Denkers nachzulesen, entsteht andauernd.
Außerdem werdet ihr Winnie-the-Pooh, die Bremer Stadtmusikanten, Käpt´n Blaubärs Abenteuer und den Hitchhikers Guide to the Galaxy lesen müssen, ohne die sämtliche Entwicklungen auf der Welt so gut wie unverständlich sind.
Rechnet ihr noch die Kurdisch-Lehrbücher, die Hegel-, Marx- und natürlich Apo-Werke dazu, die für den Aufenthalt zur absoluten Basis-Ausstattung gehören, merkt ihr schnell: Egal, wie ihr eure keffiyeh wickelt, die Dinger passen nicht rein. Die Lösung eurer Probleme heißt E-Book-Reader und ist ein Muss für Kurdistan-Reisen. Am Besten daran: Wenn ihr abreist, lasst ihr das Ding einfach hier und andere freuen sich darüber.
#Peter Schaber, Karl Plumba
[sg_popup id=“5″ event=“onload“][/sg_popup]