„Zwischen einfach nur darüber Reden und es tatsächlich tun liegen Welten“

27. April 2017

Interview mit Marco vom Mailänder Stadtteilkomitee „Comitato Abitanti Giambellino Lorenteggio“

Das Viertel Giambellino, an der westlichen Peripherie Mailands gelegen, ist ein klassisches Arbeiter*innenviertelaus der Zeit des Faschismus. Doch wer den überschaulichen Stadtteil betritt, der fällt schnell noch etwas anderes auf als die etwas heruntergekommenen Gebäude: Viele der Wohnungen sind besetzt und es gibt weitere ebenfalls besetzte Räume, in denen selbstorganisierte Infrastrukturen beherbergt sind. Nicht wenige der Bewohner*innen des Viertels sind in der lokalen Stadtteilinitiative Comitato Abitanti Giambellino Lorenteggio organisiert, sie besetzten, gestalten und verwalten diese Räume.

Ein großer Teil der in Giambellino lebenden und im örtlichen Comitato organisierten Menschen migrierten nach Italien, in der Hoffnung auf ein besseres Leben und ein geregeltes Einkommen. Doch die Perspektive für die Menschen in Italien ist trostlos. Ein ausgehöhlter Wohlfahrtsstaat, hohe Arbeitslosenquoten, horrende Mieten und Rassismus bestimmen häufig den Alltag der migrierten Personen. Zusammen mit mailändischen Genoss*innen, die dem klassisch autonomen Politikstil den Rücken kehrten, um sich gemeinsam mit den Anwohner*innen zu organisieren, gestalten die Bewohner*innen ihr Leben nun solidarisch.

Das malaboca Kollektiv hat im vergangenen Jahr Interviews mit Menschen aus dem Komitee geführt und sie zu ihrem Konzept von revolutionärer Stadtteilpolitik und der Bedeutung von Selbstorganisation für das Viertel befragt. Im Vorfeld der Konferenz „Selber machen – Konferenz zu Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie“, die vom 28. bis 30. April im Bethanien in Berlin stattfinden wird, veröffentlichen wir hier ein Interview mit Marco vom Stadtteilkomitee. Marco ist seit Anfang an im Comitato dabei. Er war einer der Genoss*innen, die noch im Squat Pizzeria, nur ein Steinwurf von Giambellino entfernt, gewohnt hat. Als dieses geräumt wurde, besetzten die Genoss*innen dann Häuser in Giambellino und begannen dort mit Basisarbeit. Innerhalb des Comitato hat Marco auch deshalb eine wichtige Rolle, weil er durch seinen südamerikanischen Background eine Schnittstelle zur großen südamerikanischen Community im Viertel darstellt.

malaboca: Als wir vor ein paar Tagen die Versammlung des Nachbarschaftskomitees besucht haben, war es dir wichtig, dass wir auch teilnehmen. Warum?

Marco: Einerseits wollte ich, dass ihr da bleibt, damit ihr die Leute kennen lernt. Andererseits – und das ist mir das Wichtigere – damit ihr den Unterschied seht zwischen dieser Versammlung und den Versammlungen, die wir aus unserer bisherigen politischen Erfahrungen kennen. Der ‚klassische‘ Modus der politischen Praxis setzt immer schon einen bestimmten Blick auf die Dinge voraus, es existieren bereits Ideen, Positionen oder Ideologien. Hier ist das anders – hier wird Politik ausgehend von konkreten Bedürfnissen gemacht. Ich wollte, dass ihr seht, wie divers die Modi der politischen Praxis sein können, mit Menschen, die es nicht gewohnt sind, sich politisch zu organisieren und Plena abzuhalten. Denn das ist ein Unterschied – es ist langsam, aber es funktioniert. Und ich glaube, dass es der einzige Weg ist, damit die Leute selbst direkt aktiv werden.

Wir haben bestimmte Erfahrungen hinter uns, haben bestimmte Fähigkeiten z.B. weil wir studiert haben und weil wir unsere Kämpfe geführt haben und das sind nun Sachen, die wir anderen Menschen zur Verfügung stellen können. Und auf der anderen Seite lernen wir von den Kostbarkeiten, wie der Kultur und all dem, was die Menschen im Laufe ihres Leben gelernt haben. So entsteht ein reziprokes Lernen – nicht nur wir bringen denen was bei oder die nur uns, sondern wir lernen gemeinsam. Das ist etwas Neues. Es ist etwas Neues für uns und es ist etwas Neues hier in Italien. Wir haben die Hoffnung, dass wir die Verhältnisse so verändern können. Denn wir befinden uns in einer Phase, in der wir für ein fehlende Strategie in den letzten Jahre zahlen. Dies hat in Italien eine politische Katastrophe provoziert, die wir gerade erleben.

malaboca: Welche Rolle spielt das Nachbarschaftskomitee in Giambellino, dem Viertel, in dem ihr arbeitet?

Marco: Die meisten Leute, die anfangs das Komitee aufgesucht haben, brauchten eine Wohnung. Sie konnten die Miete nicht zahlen oder wollten die Miete nicht mehr zahlen, weil sie dann einfach kein Geld mehr hatten, um sich eine Flasche Wasser zu holen oder einfach Geld an ihre Familien zu schicken. Hier leben sehr viele Migrant*innen – ich bin selber einer von ihnen – und die meisten sind nach Italien migriert, um Geld an ihre Familie schicken zu können.

Viele Menschen im Komitee sind nach Italien gekommen, um sich ein besseres Leben aufzubauen – aber oft ist dies nur ein Traum, der schnell zerbricht. Wenn du Arbeit findest, wirst du gedemütigt und schlecht bezahlt, aber in den meisten Fällen findest du überhaupt keine Arbeit und bist schnell in einer hoffnungslosen Situation. Die Migrant*innen in den proletarischen Vierteln sind im hiesigen System das Letzte, die Marginalisierten. Aber gleichzeitig sind es die Leute, die bereit sein können vieles zu tun, weil sie nichts zu verlieren haben.

In Ecuador, woher ich komme, war es anders: da hast du deine Familie, deine Freunde, dein Leben ist da. Dort hast du vielleicht einen Ort, der dir Halt gibt, von dem aus du dir einen neuen Job suchen oder von dem aus du einen anderen Wege einschlagen kannst. Wenn du hier niemanden kennst, ist das völlig anders – in einem westlichen Land, in dem die zwischenmenschlichen Beziehungen kaum existent sind.

Aber natürlich gibt es auch hier Communities – z.B. eine südamerikanische oder eine große äthiopische Community. Die Verbindungen innerhalb dieser Communities sind gut – der eine ruft den anderen an und so spricht sich schnell rum, dass man zum Komitee gehen kann, wenn man Hilfe braucht. Und so sind die Communities auch innerhalb des Komitees gewachsen. Die ersten Leute kamen aus Ecuador, dadurch kamen andere Leute aus Ecuador, dann die ersten aus Peru und so weiter. Und das ist neu im Viertel.

Auch auf die Leute außerhalb des Komitees hat unsere Arbeit einen Effekt. Auch wenn sie sich nicht direkt mit uns im Alltäglichen organisieren, schließen sie sich ebenfalls oft uns an, wenn z.B. die Polizei kommt, um eine Wohnung zu räumen. Auch sie können sich mit dem, was wir tun, identifizieren und finden es gerecht. Das Komitee ist nicht das Viertel und das Viertel nicht das Komitee. Das Viertel besteht aus so vielen Dingen und wir sind ein wichtiger, aber eben nur ein Teil, davon.

malaboca: Und was genau ändert sich nun durch eure Praxis?

Marco: Ich denke, vor allem wir haben uns verändert. Ein Beispiel: in der peruanischen Community gibt es die Praxis der Pollada1ähnlich einem Soli-Essen. Das Konzept ist, eine solidarische Dynamik zu schaffen, selbst gekochtes Essen zu verkaufen und mit dem Geld jemanden, der in Schwierigkeiten steckt oder ein kollektives Projekt, zu unterstützen.

Am Anfang haben wir viel darüber diskutiert, ob es in Ordnung ist, Fleisch zu verkaufen und hin und her. Was wir aber nicht verstanden haben, war die Materialität des Ganzen. Es geht gar nicht primär darum, ob Leute nun Fleisch essen oder nicht, sondern dass es einen Prozess der Organisierung jenseits unserer Konzepte gibt, den wir lesen lernen mussten. Es ist etwas, was bereits in den Praktiken der Communities eingeschrieben ist, die mit der Migration nach Italien transportiert wurden.

Als wir eines Tages Geld für unsere Aktivitäten organisieren mussten und überlegt haben, dass wir eine Party veranstalten, diese oder jene Band einladen und Getränke verkaufen, haben die Leute gesagt: Nein – Pollada! Und dann haben sie diese Feier organisiert und wir haben mehr Geld gemacht als mit den Parties, die wir über einen Monat organisieren und uns eigentlich alle stressen, auch wenn man dabei Spaß haben kann. So war es etwas viel organischeres, etwas, was bereits existierte. Als wir in Giambellino ankamen, gab es bereits diese anderen Formen des kollektiven Lebens jenseits von unseren Ideen, die wir erst kennenlernen mussten.

Eine weitere Veränderung ist, dass Selbstorganisierung im Zentrum unserer Arbeit steht. Als wir anfingen zum Thema Wohnraum zu arbeiten war klar, dass wir nicht die Fehler bzw. das, was uns an der Arbeit anderer politischen Strukturen, die diese Arbeit schon seit Jahren machen, nicht gefallen hat, wiederholen dürfen. In Rom z.B. ist diese Bewegung sehr groß – mehrere tausend Leute sind dort involviert und es gibt sie schon seit über zwanzig Jahre. Dort wurde viel von den erfahrenen Genoss*innen gesteuert und entschieden und wir wollten diese Dynamik nicht. Es geht darum, dass du dich je nach deinen Kapazitäten einbringst, aber dass es ein Gleichgewicht geben muss – also dass alle etwas machen müssen, damit die Sachen funktionieren. Wenn man es so sagt, dann scheint es eine einfache Angelegenheit zu sein – aber das ist es nicht. Das ist etwas, über das ständig gesprochen werden muss und sich mit der Zeit verbessern kann – insbesondere wenn die Sachen nicht gut laufen. Mit der Zeit sind verschiedene Aufgaben aufgetaucht, z.B. dass wir einen Schatzmeister brauchen, der das Geld des Komitees verwaltet und entscheidet, wie wir es investieren. Genauso brauchen wir eine*n Elektriker*in, eine*n Tischler*in oder jemanden, der das Frühstück an Tagen organisiert, an denen wir vor der Polizei bei einer drohenden Räumung am Start sein müssen.

Das ist zielführender, als wenn man den Leuten von oben herab sagt, was sie tun sollen. Natürlich kannst du ihnen Druck machen in dem du sagst: »Wenn du das nicht machst, dann bist du nicht mehr Teil des Komitees«. Dann kommen die Leute vielleicht sogar. Aber auf diese Art und Weise gibt es keine wirkliche direkte Aktivierung der Basis, d.h. der Leute, mit denen du kämpfst. Das Ziel ist es, eine Organisierung zu haben, in der jede Person, jede Familie, jedes Mitglied des Komitees, ihren Platz hat. Von Anfang an haben wir versucht, auf dieses Ziel hin zu arbeiten, aber schlussendlich passiert dies nun von der Basis des Komitees ausgehend, von den Leuten, die immer kommen und von denen du weißt, du kannst hundertprozentig auf sie zählen.

malaboca: Aber was genau bewegt die Leute im Viertel dazu, sich euch anzuschließen und Teil des Komitees zu werden?

Marco: Wir versuchen, die Leute ausgehend von ihren konkreten Bedürfnissen zur aktiven Teilnahme zu motivieren und durch das solidarische Miteinander Möglichkeiten zu schaffen, politischen Diskursen auf eine angemessene und gerechte Art die Stirn zu bieten. Denn das ist es, was fehlt. Das Problem ist, dass wir die letzten Jahre geglaubt haben, es würde reichen einfach nur zu sagen, etwas sei gerecht oder ungerecht, damit die Leute sich vereinen. Wir haben vergessen, dass es an materiellen wie sozialen Verhältnissen fehlt, damit die Leute den Mut haben sich dafür zu entscheiden, sich zu organisieren und zu kämpfen. Die Leute organisieren sich nicht, weil sie feige oder zu bürgerlich sind. Sie tun es nicht, weil sie es nicht gewohnt sind. Deswegen ist der Dreh- und Angelpunkt unserer politischen Arbeit der Übergang von unbefriedigten Bedürfnissen zum politischen Aktivismus.

Und es funktioniert, wenn wir sagen: »Wir helfen uns gemeinsam – heute Dir morgen dem Anderen und wir machen es zusammen. Du besetzt ein Haus, weil du sonst keins bekommst, weil es keine gerechte Politik gibt«. Es ist nicht so, dass die Genoss*innen dir ein Haus organisieren – wir holen sie uns alle gemeinsam. Und wir verteidigen sie auch gemeinsam.

Und nach und nach fängt es an zu funktionieren. Die Leute fangen an auf die Versammlungen zu kommen und dann auf die Demos zu gehen. Die Leute bemerken nach und nach, was passiert. Am Anfang werden sie vielleicht aktiv, weil sie ein persönliches Ziel verfolgen, nämlich eine Wohnung zu haben. Aber dort hört unsere Arbeit nicht auf – sonst würden wir uns auf der selben Ebene der Wohltätigkeitsarbeit bewegen, wie die Kirche oder andere Organisation sie machen. Aber das reicht höchstens aus um sein Gewissen rein zu waschen.

Ausgehend von dem Territorium, in dem wir leben, wollen wir das Leben in unserem Viertel neu interpretieren. Deswegen dreht sich unser Diskurs längst nicht nur um den Wohnraum, sondern um das ganze Leben hier. Hier gibt es ja bereits ein soziales Leben, zu dem wir als Aktivist*innen oft keinen Zugang gefunden haben, da wir immer mit den großen Fragen und Ideologien ankommen. Aber wenn du in einem Viertel wohnst und versuchst Leute kennenzulernen um mit ihnen zu wachsen, musst du dich fragen, ob du Teil des Territoriums bist, ob du in diesem Territorium bist, in dem Probleme geboren und die Lösungen gefunden werden.

Teil eines Territoriums bzw. einer Entität zu sein ist etwas, dass uns in den letzten Jahren gefehlt hat. Wir haben immer die Bedeutung der Identität unter Aktivist*innen2 kritisiert. Aber ich denke, es ist wichtig sich mit dem Ort zu identifizieren, an dem du lebst. Es ist ein großer Unterschied, ob du dich mit einer politischen Gruppe oder einem Nachbarschaftskomitee identifizierst. Wenn du Teil eines Viertels bist, in dem die sozialen Beziehungen existieren, die dir wichtig sind und die du nirgendwo anders in der Stadt findest, dann verteidigst du es auch. Niemand ist bereit etwas zu verteidigen, mit dem er*sie sich nicht identifizieren kann. Es gibt wenige kollektive Kontexte, die diese Funktion in einem guten Sinne erfüllen – eine solidarische Organisierung in deinem Viertel ist eine davon. Man könnte sagen, wir interessieren uns für eine Politik des Lebens. Diese würde bedeuten, dass Menschen sich mit dem, was sie gemeinsam geschaffen haben identifizieren können und es, wenn nötig, verteidigen. Das ist der Ausgangspunkt für alle weiteren Veränderungen.

malaboca: Die Bedingungen euer neuen Praxis hast du skizziert, aber wo wollt ihr damit in den nächsten Jahren hin?

Marco: Am Anfang haben wir viel hin und her überlegt und wussten nicht so recht, was wir tun sollen, um in Kontakt mit den Leuten zu kommen, mit denen wir doch schlussendlich besetzen wollten. Es gibt soviel Leerstand in Mailand, und eben innerhalb dieser Leerstelle können wir etwas Neues erschaffen. Kurz nachdem wir das erste Haus besetzt hatten, initiierte die Stadt eine große medialen Kampagne, in der sie mit 200 sofortigen Zwangsräumungen drohte. Das hat uns eingeschüchtert. Wir dachten, jetzt wo wir endlich angefangen haben und das Ganze läuft passiert nun sowas und wir sind noch gar nicht in der Lage uns solch einem Angriff zu stellen. Aber es waren die ganz normalen Leute selbst, die auf die Straße gegangen sind, die Polizei angegriffen und sich gegen die Räumungen gewehrt haben. Und es war dieser Widerstand, der dazu geführt hat, dass der Plan dieser 200 Zwangsräumungen gestoppt wurde. Und damit wurde eine Art spontaner Zusammenschluss der Viertel geboren, die bis dahin nicht wirklich organisiert waren.

Daraufhin haben wir gesagt, das primäre Ziel muss sein, dass sich mehr Komitees in anderen Vierteln gründen und zwischen den Vierteln eine gemeinsame Organisierung geschaffen wird, die eines Tages zu einer gemeinsamen Organisierung der proletarischen Viertel führen könnte. Sie wäre in der Lage dazu, gemeinsame politische Schritte in der Stadt zu konstituieren, um aus einer Position der Minorität eines Komitees heraus zu kommen, hin zu einer Organisation der Komitees, welche die Autonomie und die politischen Mittel, um das Leben zu verbessern, aufbaut.

Parallel dazu ist das zweite Ziel, die Kämpfe der Komitees mit anderen bereits existierenden zu verbinden, z.B. mit dem der Arbeiter*innen im Logistiksektor. Ein großer Teil dieser Arbeiter*innen sind Migrant*innen und Mitglieder der Gewerkschaft ‚Si Cobas‘3, die sehr viel konfrontativer als die traditionellen Gewerkschaften auftritt und auch wesentlich basisdemokratischer organisiert ist. Die Arbeiter*innen, die so kämpfen, setzten sich immer einem großen ökonomischen Risiko aus. Sie müssen vielleicht eine Familie versorgen, Miete zahlen und so weiter – so geben oft viele an einem bestimmten Punkt den Streik auf, weil die Gefahr ohne Geld dazustehen zu groß ist. Wenn es aber eine Organisierung gäbe, die sagt: »Hey, mach dir keine Sorgen, wir helfen dir bei Problemen mit der Miete!«, dann gibt dir das Kraft und Sicherheit. Einen solchen praktischen Zusammenschluss, eine praktische Einheit, zu schaffen – nicht eine zwischen unterschiedlichen Gruppen und Organisationen, sondern eine Einheit, die sich in den alltäglichen Kämpfen bewahrheitet – wäre eine unglaublich große Sache.

Ein anderes Beispiel wären die Studierenden, die sich organisieren. Wir wollen uns ja nicht in den Peripherien isolieren und sagen: »Ok, die Polizei kommt nicht mehr in unsere Viertel – wir bleiben hier.« Aber im Rest der Stadt sieht es noch ganz anders aus und wie sollen wir dann z.B. mit den jungen Leute in Kontakt kommen?

So unterschiedlich die Kämpfe auch scheinen mögen, müssen wir versuchen sie zu verbinden, um einen Block zu schaffen, der gemeinsam politisch agiert. Denn am Ende ist der Kapitalismus der Gegner. Dies beinhaltet auch diejenigen, die die Macht haben und die, die das Gewaltmonopol beanspruchen. Ein solcher Block fehlt, denn das einzige, was sich hier bewegt, sind die Centri Sociali4, in denen politische Gruppen sitzen, die den Kontakt zur Realität und zum Territorium verloren haben. Deswegen: Um so mehr Komitees es gibt, um so mehr Kollektive es gibt, um so mehr Arbeiter*innenorganisierung es gibt, um so besser.

malaboca: Und in Bezug auf Euch selbst?

Marco: Ein drittes Ziel ist unsere eigene Veränderung, auch im Alltäglichen. Es ist der Versuch, Räume zu schaffen, in denen unser aller Leben sich auf andere Art und Weise reproduzieren kann und wir dadurch näher zusammenrücken. Das passiert z.B. in der Form der ‚Küchen für Alle‘, den solidarischen Kliniken und medizinischen Sprechstunden, den selbstorganiserten Gyms, der kollektiven Kinderbetreuung oder unserem selbstorganisierten Fußballteam ‚Ardita Giambellino‘. Alle diese Orte und Interaktionen helfen uns, ein Territorium zu schaffen, das es erlaubt diese Identität zu stiften, von der ich anfangs gesprochen haben. Und es bist nicht Du, die Genoss*in, die etwas aufbaut, sondern das sind wir alle gemeinsam. Aber, – wie gesagt – es ist einfach, das alles so zu erzählen, aber zwischen dem einfach nur darüber Reden und es dann tatsächlich zu tun, liegen Welten.

malaboca: Was wäre ein Ratschlag oder eine Botschaft, die du denen, die tatsächlich etwas tun wollen, mit auf den Weg geben würdest?

Marco: Haltet nicht zu starr an euren Ideen fest. Das ist etwas, was wir hier gelernt haben. Mit Sicherheit, wird das, was ich euch erzählt habe, sich mit der Zeit modifizieren und sicherlich werden bessere Ideen aus dem Viertel kommen. Unsere Arbeit, wie sie jetzt ist, ist eine andere als sie es am Anfang war und wir versuchen uns nicht zu feste Ziele zu setzen. Wir versuchen eher Richtlinien zu folgen, mit der Bereitschaft, auch davon abzuweichen und neue Wege einzuschlagen, um irgendwann anzukommen. Wenn wir nicht die Fähigkeit haben, Veränderungen zu lesen, Geduld zu haben und zuhören können, und uns in den entscheidenden Momenten zusammen zu tun, dann sind wir dazu verdammt, zu verlieren.

Die Mehrheit der Leute hat das Gefühl der Niederlage akzeptiert: »Wozu sollen wir kämpfen? Damit wir die nächste Anzeige kassieren? Wozu kämpfen, wenn wir doch sowieso nichts machen können?« Und genau das müssen wir verändern! Insbesondere müssen wir den Eindruck – nein, nicht den Eindruck – die Sicherheit vermitteln, dass es sich lohnt zu kämpfen. Denn wenn du kämpfst, dann wird es Erfolge geben, wenn du kämpfst, kannst du glücklich werden. Es wird nicht nur Anzeigen und Gefängnisse geben, sondern ein Leben, von dem du bis dahin nicht gekostet hast. Dieses Gefühl der Sicherheit, diese Lust der Welt die Stirn zu bieten – das ist etwas, dass alle erleben sollten.

Ein*e Vertreter*in des Komitees wird am Samstag, den 29. April um 16.00 Uhr im Panel „Demokratie von Unten – internationale Perspektiven solidarischer Gesellschaften“ über ihre Erfahrungen berichten. Im Juni wird dann die Broschüre „Uniti Possiamo Tutto – Selbstorganisation und Soziale Kämpfen in der Peripherie Mailands“ mit weiteren Interviews und zwei Reportagen erscheinen. Sie wird unter anderem auf dem Blog des malaboca Kollektivs zu downloaden sein: https://malaboca.noblogs.org/

1Auf lateinamerikanische Art gegrilltes Huhn, abgeleitet vom spanischen Wort ‘pollo‘ (Huhn)

2Gemeint sind vor allem subkulturelle, isolierenden Identitäten in Bezug auf eine ‚politische Szene‘

3Italienische Basisgewerkschaft, deren Praxis auf Erfahrungen von Arbeiter*innenräten zur Selbstverwaltung im Sektor der Metallverarbeitung in den 1980er Jahren zurückgeht

4Die Centri sociale sind die klassischen autonomen Zentren in Italien, die meist rein szenebezogen agieren.

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