[Rojava-Tagebuch V] Mein Freund, der Polizist

18. April 2017

Braucht eine Revolution „innere Sicherheit“? Und wenn ja, welche? Erfahrungen aus den revolutionären Prozessen in Kurdistan

„Als ich hier ankam, war das ungewohnt für mich“, erinnert sich ein deutscher Internationalist. „Als ich die Streifenwagen sah, musste ich immer kurz den Reflex unterdrücken, einen Stein aufzuheben. Aber dann gewöhnt man sich daran, dass das ja eigentlich ‚unsere‘ Polizisten sind…“ Auch für uns ist es ein seltsames Feeling: An Polizeistraßensperren grüßt man uns mit einem herzlichen „Serkeftin“, aus Streifenwagen winkt man uns mit dem Victory-Zeichen zu, in Polizeistationen werden wir freundlich empfangen und dürfen sie jederzeit wieder verlassen.

„Unsere“ Polizisten, das sind die Asayish. Meistens Leute aus der Bevölkerung und den jeweiligen revolutionären Milizen – YPG, YPJ, YBS, YJS usw. -, die jene Aufgaben übernehmen, die man „Polizeiaufgaben“ nennen kann. Einen von ihnen, den Kommandanten der Asayish im jesidischen Sengal, treffen wir zu einem längeren Gespräch.

Dem Volk dienen“

Xebat Sengali erklärt uns, die vorrangigste Aufgabe seiner Truppe sei derzeit, die Gesellschaft vor der Infiltration terroristischer Elemente zu schützen. 2014, bei dem Angriff des Islamischen Staates, habe sich gezeigt, dass weder die irakische Zentralregierung, noch die Regierung der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak (KRG) die Jesid*innen in der Region schützen wollten. „Dementsprechend haben wir angefangen, uns an allen möglichen Orten auch im Inneren der Gebiete zu organisieren und die Verteidigung nach Innen aufzubauen und untereinander ein Sicherheitssystem zu etablieren. Jetzt sind wir in allen Dörfern vertreten, um die Sicherheit zu erhöhen. Unsere Leitlinie ist: ‚Dem Volk dienen‘.“

Die Asayish, sowohl im Sengal wie in Rojava, kontrollieren die Hauptstraßen mit Straßensperren, sie schützen Feste und Zusammenkünfte, spezialisierte Abteilungen führen Razzien aus. In Rojva gibt es zudem eigene Frauenabteilungen, im Schengal müsse diese erst aufgebaut werden.

Im Sengal habe sich die Lage nach der Befreiung vom IS in den vergangenen Jahren stark beruhigt, sagt Xebat Sengali. „Es gab keine größeren Probleme, die Bevölkerung hat eigene Institutionen, eigene Räte aufgebaut und hat sich selbst organisiert. Es gab im Grunde nichts, was außergewöhnlich gewesen wäre.“ Doch der Sengal kam dennoch nicht zur Ruhe, denn am 3. März rückte Mesud Barzani mit KDP-Peschmerga-Kräften an. „Am 3. März tauchte dann auf einmal diese schwer bewaffnete Angriffsstreitmacht auf, die auch deutsche Waffen dabei hatten.“ Die Asayish übernahmen zusammen mit militärischen Einheiten der YBS die Verteidigung. „Wie haben uns natürlich verteidigt, weil wir dafür sorgen mussten, dass die Stadt in Sicherheit ist. Wir haben also Widerstand geleistet und auf diesen Angriff geantwortet.“

Innere Sicherheit für die Revolution – Xebat Sengali ist Kommandant der Asayish im Sengal

Innere Anti-Terror-Aufgaben sowie Hilfe bei der Verteidigung nach außen sind aber nicht die einzigen Bereiche, in denen die Asayish arbeiten. „Wir erledigen auch Verwaltungsaufgaben. In jedem Dorf gibt es ein Asayis-Zentrum mit acht, neun Kommitees, je nach Notwendigkeit, mit einem festen Stamm an Leuten.“ Die Asayish haben im Sengal von sieben bis zwei Sprechstunde, man kann vorbei kommen und sein Anliegen vortragen. Festnahmen und Prozesse sind nicht das vorrangige Ziel bei Konflikten in der Gesellschaft, eher geht es um das Schlichten und Vermitteln. „Wir intervenieren, wenn Streitigkeiten ausbrechen und verhindern, dass diese innerhalb der Gesellschaft zwischen den Familien eskalieren.“ Eines der Komitees ist auch für den Grenzübertritt nach Rojava verantwortlich. Denn der funktioniert im Moment nur noch über teilweise verminte Schmugglerwege, weil die KDP den normalen Weg geschlossen hat. Wenn man also zum Arzt muss, in eine der besser ausgestatteten Kliniken Rojavas, meldet man das bei den Asayish an und die organisieren die Fahrt.

Kommunarden mit Waffe

Dennoch, auch wenn sie freundlich und der Revolution tief verbunden ist, ist die Einrichtung der Asayish eine professionalisierte Polizeitruppe. Generell ist die Idee, dass die Asayish sich nicht von der Gesellschaft lösen, sondern eine ihrer bewaffneten Institutionen zum Selbstschutz sein sollen. „Selbstverteidigung“ in einem umfassenden Sinne ist für die kurdische Bewegung ein zentraler Begriff. Er schließt die gesellschaftliche, politische, psychologische und ideologische Abwehr von Angriffen ein, aber eben auch die militärische.

Die Asayish werden dabei als eine notwendige Übergangsform gesehen. Das Ziel der Revolution ist aber die Kommunenbewaffnung. Ähnlich, wie Lenin sie 1917 als Gegenentwurf zu professionalisierten Armeen und Behörden entwarf: „Das Proletariat aber muss, wenn es die Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution behaupten und weitergeben will, wenn es Frieden, Brot und Freiheit erringen will, diese [bürgerliche] ‚fertige‘ Staatsmaschine, um Marx’ Worte zu gebrauchen, ‚zerbrechen und sie durch eine neue ersetzen, bei der Polizei, Armee und Bürokratie mit dem bis auf den letzten Mann [und die letzte Frau] bewaffneten Volk zu einer Einheit verschmolzen sind.“

Auch die Asayish und der aus der Notwendigkeit des Kriegs in Syrien entstandene Wehrdienst sind so letztendlich nur Übergangsformen. Die Bewegung experimentiert bereits mit deren Ersetzung. Es werden Hêza Parastina Cewherî (HPC) aufgebaut, nicht-professionalisierte Kräfte, die aus den jeweiligen lokalen Räten selbst kommen. Auch die freundlichen Asayish sind also für die Rojava-Revolution nicht der Weisheit letzter Schluss. Der nächste Schritt ist die Verankerung eines Systems bewaffneter Kommunarden.

# Fotos: Willi Effenberger

# Text: Peter Schaber

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