Zum diesjährigen Newroz-Fest war eine von Civaka Azad organisierte Delegetion für einige Zeit in Nordkurdistan/ Bakûr, um sich von den aktuellen politischen Prozessen in bezug auf den Krieg des türkischen Militärs gegen kurdische und türkische Linke sowie dem bevorstehenden Referendum zum Präsidialsystem ein Bild zu machen.
Ein Besuch im nordkurdischen Gever (türk. Yüksekova) ein Jahr nach der Zerstörung durch das türkische Militär. Die Hälfte der 80.000 Bewohner*innen wurden damals gezwungen die Stadt zu verlassen. Bis heute konnten 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung nicht zurückkehren.
Früh morgens steigt unsere siebenköpfige Delegation im osttürkischen Wan (türk. Van) in ein öffentliches Dolmuş nach Gever. Die Fahrt führt uns drei Stunden durch die schneebedeckten Berge Nordkurdistans. Teilweise sehen wir um uns nur weiß. Bereits 40 Kilometer vor der Stadt in einer Talenge, die Straße teilt sich hier Richtung Gever und Colemêrg (türk. Hakkâri), erwartet uns der erste Checkpoint des türkischen Militärs. Dabei handelt es sich nicht um eine einfache Straßensperre, sondern um eine große, befestigte Festungsanlage mit Sandsack-geschützten Wachtürmen auf den umliegenden Hügeln und einer Kaserne weiter unten im Tal. Hier wird der Dolmuş angehalten und einmal grob durchsucht, einige Meter weiter werden alle Pässe eingesammelt und in einer Hütte überprüft. Nach kurzer Zeit bekommen wir sie wieder und die Fahrt geht weiter nach Gever. Kurz vor der Stadt wartet eine weitere Kontrolle der Militärpolizei. Hier wird die Straße mit Barrikaden und Sandsäcken verengt. Einige Minuten später steigen wir an der zentralen Kreuzung der Stadt aus dem Bus, wo uns bereits ein Freund erwartet. Wir laufen ein kurzes Stück in die Stadt hinein. An fast allen Straßenecken steht mindestens ein gepanzertes Militärfahrzeug. Auch einige, bereits zugeschneite Räumpanzer entdecken wir. Ein paar Ecken weiter Treffen wir einen Freund. Gemeinsam gehen wir einige Minuten zu dem sehr modernen „People‘s Caffee“ an der Hauptstraße. Dort platziert sich einer unserer Freunde wie selbstverständlich so, dass er die Straße und vorbeifahrende Polizeiwagen im Blick behalten kann. Als wir sitzen, beginnen die beiden Freunde vom Newrozfest am Vortag zu berichten. Normalerweise würden sich mindestens 30.000 Menschen sammeln, um gemeinsam das kurdische Neujahrsfest zu feiern. Doch dieses Jahr kamen auf Grund der starken Repressionen – es gab umfangreiche Polizeikontrollen und das Fest wurde nur an einem Ort außerhalb der Innenstadt zugelassen – nur etwa tausend Menschen zusammen. Nachdem sich kurz nach Beginn der Feier einer der Redner positiv auf Öcalan bezog, versuchte die Polizei diesen festzunehmen. Die Menge stellte sich dagegen und die Polizei antwortete mit Tränengas. Ungefähr zehn ältere Menschen sowie drei Jugendliche wurden festgenommen und befinden sich noch immer in Haft. Unsere Freunde betonen, dass die Polizei derzeit eigentlich gar keinen Grund mehr braucht, um Menschen ins Gefängnis zu sperren.
Wir wollen genaueres über die Zerstörung der Stadt wissen. Nachdem die HDP bei der Wahl 2015 die absolute Mehrheit für die AKP verhinderte (in Gever gewann sie mit 97 Prozent der Stimmen), kam es zu Festnahmewellen in der ganzen Türkei. Da diese antidemokratische Haltung der AKP deutlich machte, dass in einem sich faschisierenden System der parlamentarische Weg verschlossen bleibt, entschieden sich auch in Gever (wie in etlichen anderen kurdischen Städten) große Teile der Bevölkerung ihre Stadtviertel selbst zu verwalten, unabhängig von den vom Staat eingesetzten Provinzgouverneur*innen. Das Militär bereitete sich daraufhin darauf vor die Stadt einzunehmen. Sie warteten noch fünf bis sechs Monate in denen die YPS (kurdische Zivilverteidigungseinheit) zusammen mit den Bewohner*innen die Stadt mit ausgehobenen Gräben, aufgeschichteten Barrikaden und Tunneln sicherten. Während einer der beiden Freunde sich fragt, warum die Autonomie überhaupt noch formell deklariert werden musste – informell habe sie schon seit langem bestanden – steht der andere hinter der Idee. Das kurdische Volk sei mit der Situation davor nicht zufrieden gewesen. Mit dem was auf die Selbstverwaltungserklärung folgte hätte niemand in dieser Heftigkeit gerechnet: Das Militär bombardierte die Stadt 15 Tage lang. Dabei wurden auch chemische Waffen eingesetzt. [1] Insgesamt wurden 6.000 Häuser zerstört [2] und 50 Prozent der Bevölkerung flohen aus der Stadt. Während dieser Zeit kämpfte das türkische Militär Seite an Seite mit Daesh (IS). Das könne man laut unserem Freund an den Zahlen der getöteten Soldaten sehen. Offiziell werde nur von 15 gesprochen, die Menschen vor Ort wissen aber von mindestens 100 Toten auf der Gegenseite.
Nach der Attacke wurde vom 13. März bis zum 31. Mai 2016 über zweieinhalb Monate eine absolute Ausgangssperre militärisch durchgesetzt. Die Bewohner*innen konnten sich in dieser Zeit nur unter Lebensgefahr und über Schmuggelwege mit dem Nötigsten versorgen. Kurz darauf wurde im Sommer 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch der Ausnahmezustand (OHAL) für die gesamte Türkei ausgerufen. Noch immer sind bis zu 80.000 Soldaten rund um die Stadt stationiert. Alle Funtionär*innen der DBP (Demokratische Partei der Regionen), der lokalen Schwesterpartei der HDP, sitzen noch immer im Gefängnis. In der Stadtverwaltung wurden 40 Personen gefeuert. Von einer Normalisierung der Lage kann hier nicht gesprochen werden.
Am stärksten von der Zerstörung betroffen seien die Stadtteile Cumhuriyet, Güngör und Orman. Ein Wiederaufbau konnte hier noch nicht beginnen, da es den Menschen verboten ist ihre zerstörten Häuser wieder zu errichten. Nur einige leben in Zelten auf der Asche ihrer zerstörten Wohnungen. Stattdessen errichtet die staatliche Wohnungsbaugesellschaft (TOKI), wie so häufig in der Türkei, schlechte Plattenbauten am Stadtrand. Die Menschen haben hier keine Wahl und werden wohl zu den Konditionen, die ihnen der Staat diktiert, dort hinziehen und den hohen Preis dafür bezahlen müssen.
Wir wagen einen gemeinsamen Blick auf die Zukunft der Region. Der Ausgang des anstehenden Verfassungsreferendums mache laut unserer Freunde eigentlich keinen Unterschied für die Kurd*innen. Jede Regierung sei gleich, und Erdoğan sei wie Hitler. Ihn werde auch ein Nein beim Referendum nicht aufhalten. Die Kurd*innen hingegen haben einen generell Willen zu einer friedlichen Lösung für die Region, wie Öcalan und andere wichtige Persönlichkeiten stetig betont haben. Doch die beiden sprechen auch vom starken Gefühl der Rache, das in der Bevölkerung zu spüren ist. Sie betonen die eigenständige Wahl der Soldat*innen zum Militär zu gehen und dort zu sterben. In den Augen vieler würden sie es dann auch „verdienen“ zu sterben. Der anstehende Frühling könnte auch einen Gegenschlag der Guerilla bringen, so offenbar die Hoffnung vieler. Die Menschen hier in Gever stehen jetzt erst recht hinter ihnen. Doch diese kämpfen nicht nur für Kurd*innen. Oder nur für die muslimische Welt. Sie kämpfen für einen generellen Frieden und eine neue, solidarische Gesellschaftsform, nicht nur im sogenannten Nahen Osten. Sie wollen einen Nahen Osten ohne Grenzen und kämpfen damit für die gesamte Menschheit und nicht für die kurdische Autonomie.
Plötzlich werden die Freunde unruhig. Soeben haben vier Zivilpolizisten das Café betreten und im hinteren Teil Platz genommen. Wir haben uns zu lang an einem Ort aufgehalten. Zügig verlassen wir das Café und steigen in zwei private Autos, die noch während des Gesprächs von den Freunden organisiert wurden.
Über einige Umwege werden wir zum Eingang des lokalen HDP-Büros gefahren, so dass wir diesen fast unbemerkt betreten können. Nicht selten nutzt die Polizei Besuche wie den unseren, um die Räumlichkeiten zu stürmen und zu durchsuchen. Hier treffen wir den HDP Co-Vorsitzende von Gever. Das aktuell größten Probleme für die Arbeit der Partei hier sei erstens die Zwangsverwaltung durch einen von Ankara eingesetzten Stadthalter und zweitens, dass viele ihrer Funktionäre noch immer im Gefängnis sitzen. Eine demokratische Parteiarbeit würde durch den türkischen Staat systematisch verhindert. Es verwundert nicht zu erfahren, dass hier wohl über 90 Prozent der Menschen die aktuelle türkische Regierung nicht akzeptieren.
Wieder wird von der Zerstörung der Stadt berichtet. Nachdem das Militär die Stadt über zwei Wochen bombardiert habe, kam von Erdoğan persönlich die Weisung alles zu zerstören, so der Co-Vorsitzende. In der Folge fuhr das Militär mit einem Abrissbagger durch die zerbombten Viertel, machte sie dem Erdboden gleich und hinterließ faschistische Parolen an den Trümmerteilen. Nach dem Ende der Ausgangssperre durften die Bewohner*innen nicht in die zerstörten Häuser zurückkehren. Sie begannen entweder in Zelten zu leben oder in anderen Teilen der Stadt Wohnungen zu mieten. Die Mietpreise stiegen ins unermessliche und jeder Versuch der HDP darauf mit Regulierungen zu reagieren wurde staatlich unterbunden. Auch das Engagement der Hilfsorganisation Rojava derneği wurde versagt. Wieder stellen wir die Frage ob ein Frieden noch möglich sei. Der Co-Vorsitzende antwortet: Die Kurd*innen haben eine große Aufopferungsbereitschaft, auch nachdem Millionen von ihnen getötet wurden, wollen sie trotzdem Frieden und Freiheit. Zwar habe man inzwischen 29 Massaker gegen das kurdische Volk gezählt, aber hier werde das nicht kapitalistisch gegeneinander aufgerechnet. Denn die kurdische Kultur sei keine kapitalistische und die Menschen hier würden alles für den Frieden opfern. Schließlich weiss er zu erzählen, dass in der Stadt vielleicht nicht alle Bewohner*innen hinter der HDP stehen, aber ganz sicher würden alle die PKK unterstützen.
Anschließend sprechen die weiblichen Teilnehmer*innen unser Delegation mit zwei Frauen, die sich gerade in dem Jin-Raum (Frauenraum) der HDP aufhalten. Eine der beiden ist Journalistin der verbotenen kurdischen Nachrichtenagentur DIHA. Eindrücklich berichten sie, wie die Angriffe des türkischen Staates gezielt und vor allem auf Frauen ausgerichtet waren. So wurden nach der Zerstörung die Häuser von den Soldaten betreten und gezielt verwüstet. Sie hinterließen dabei sexistische Parolen an den Wänden wie “Der Staat ist überall, Junge Frauen wir sind hier, um euch zu prostituieren!“. Dieses Gespräch hinterließ bei uns ein Bild des grauenvollen, sexistischen und faschistischen Vorgehen der Militärs und des türkischen Staates.
Kurz darauf steigen wir wieder in die Autos, um uns selbst ein Bild von der Zerstörung zu machen. Auf das was wir dort sehen würden, waren wir trotz der Beschreibungen nicht vorbereitet. Auch ein Jahr nach dem Angriff ist das Ausmaß kaum zu fassen. Zunächst fahren wir durch den Stadtteil Orman. Alle hundert Meter bleiben wir stehen um aus dem Auto Fotos der verbrannten und zerstörten Häusern zu machen. Jedes zweite Haus trägt massive Spuren vom Krieg: zerbombte Mauern, Einschusslöcher in der Fassade, ausgebrannte Räume, eingestürzte Dächer. Alles ist in eine weiße Schneedecke gehüllt. Als wir in den zweiten, noch stärker unter Beschuss genommenen Stadtteil Güngör [3] fahren, ist das Ausmaß der Verdrängungs- und Auslöschungspolitik des türkischen Staates nicht zu übersehen. Niemand sollte hier verschont bleiben. Wir fahren nun an ebenen, schneebedeckten Feldern vorbei. Nur vereinzelt steht noch ein Haus, sonst ragen Eisenstangen und Betonberge aus dem Schnee. „Überall hier standen Häuser“… „ja hier und hier auch… – überall!“ Viel ist davon nicht übrig. Als wir Polizisten auf einer Straßenkreuzung entdecken brechen wir die Fahrt ab und verstecken unsere Kameras. Wir werden in ein kleines Çayevi (Teehaus), mit niedriger Decke gebracht um auf den Bus zurück zu warten, den uns die Freunde in der Zwischenzeit organisiert haben. Um den Holzofen in der Mitte haben sich einige Männer versammelt, die uns herzlich Willkommen heißen und uns bei Tee ihre Geschichten erzählen.
Auf dem Weg aus der Stadt sehen wir die Brücke, über die die Menschen zu Fuß fliehen mussten, um der Ausgangssperre zu entkommen. Zudem gab es einen Schmuggelweg, den das Militär nicht mit Panzern befahren konnte. Die Straße durch das Tal nach Gever war bis 80 Kilometer außerhalb zur Militärsperrzone erklärt und komplett abgeriegelt worden. In dem Moment als uns dies erzählt wird, donnern uns zwei Militärpanzer entgegen. Am Checkpoint haben wir dann doch noch Probleme: Erst werden uns die Pässe abgenommen, dann teilweise unsere Taschen durchsucht, bis wir auf den militärischen Sicherheitsbereich im Tal fahren müssen. Dort werden wir von einem ca. 20 jähriger Soldaten aus Lindau am Bodensee – dem Drittgrößten Waffenexportstandort Deutschlands – auf deutsch begrüßt. Er fragt wann wir in die Türkei eingereist seien und was wir hier machen. Irgendwann bekommen wir die Pässe zurück mit der Bemerkung: „Willkommen in der Türkei“. In der nächsten Kontrolle kurz vor Wan ist man bereits über unser Kommen informiert und wir werden durchgewunken.
Was bleibt ist die Frage wie wir das gesehene so weiter geben können, wie es auf uns gewirkt hat? Und kann dieses Ausmaß an Zerstörungswut – diese Vernichtungspolitik – die hinter Erdoğan und dem türkischen Staat steht überhaupt begreifbar gemacht werden? Noch am selben Abend schreibe ich an eine Freundin: „Wenn ich diesen Eindruck vorher nicht hatte, so ist mir spätestens heute klar geworden wie Faschismus aussieht.“
Von Jin Sosik und Manne Löffler
[1] https://isku.blackblogs.org/1928/gever-wir-koennen-die-haeuser-nicht-verlassen-und-warten-hier-auf-den-tod/
[2] Zum Ausmaß der Zerstörung vergleiche diese Aufnahmen kurz nach Ende der Ausgangssperre: https://roarmag.org/2016/06/30/yuksekova-curfew-turkey-kurds/
[3] Fahrt durch das zerstörte Güngör: https://vimeo.com/210320294