Ohne den Aufstand gegen die „vom Feind entwickelte Welt der Sozialisation, Beziehungen, Gefühle und Triebe“ wird es auch in den kapitalistischen Metropolen keine revolutionäre Bewegung geben.
Als ich mich vor ein, zwei Jahren mit einem alten Freund traf, den ich für einen der klügsten Marxisten halte, die ich kenne, saßen wir in einem Altwiener Café bei zwei weißen G‘spritzten und diskutierten über Abdullah Öcalan. Wir beide arbeiteten seit vielen Jahren mit der kurdischen Bewegung zusammen, gleichwohl hatten wir in nicht wenigen Punkten Kritik an Apos Theorien. Mein Freund bemängelte den „Voluntarismus“ der kurdischen Bewegung: „Den ‚neuen Menschen‘ durch möglichst große Willensanstrengungen schaffen, solange die alte Gesellschaft noch besteht, geht nicht“, sagte er. Ich stimmte zu.
Heute, zwei Jahre und einige Besuche in Kurdistan später, sehe ich das anders. Ich denke, dass wir derlei Kritiken leicht akzeptieren, weil sie uns vor der harten Realität schützen: Die überwiegende Mehrheit von uns verhält sich nicht wie Revolutionär*innen. Nicht, was die notwendige Disziplin gegen sich selbst angeht, nicht, was unsere Umgangsformen angeht, nicht, was die Bereitschaft, für einen Traum, eine Utopie Opfer zu bringen angeht. Im Zweifelsfall ist uns eine vermeintliche „Karriere“ wichtiger als unsere Überzeugen; wir sind nicht fähig Verhaltensformen, die uns irgendwann antrainiert wurden, zu überwinden; oder wir fürchten uns vor Repression und zensieren uns selbst; oder wir achten nicht genug auf unsere Genoss*innen, weil wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind.
Wann immer ich mit jungen Kämpfer*innen in den Bergen oder Metropolen Kurdistans zusammentraf, wurde mir diese Diskrepanz besonders schmerzlich bewusst. Die Guerilla hat sich ein kollektives Zusammenleben geschaffen, das tatsächlich als – wenn auch sicher noch unvollkommene – Ankündigung einer künftigen Gesellschaft gelten kann. Diese Veränderung der eigenen Persönlichkeit ist nicht allein der seit Jahrzehnten andauernden Kriegssituation geschuldet. Es folgt aus jenem Paradigma, das die Grundlage jeder Strategie der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bildet und das die Guerillera und Vordenkerin der PKK, Sakine Cansiz, so formuliert: „Wir haben uns dem Sozialismus nie utopisch angenähert. Er war für uns nie irgendetwas ganz weit Entferntes. Wir haben eher geschaut, wie sich Freiheit, Gleichheit und Sozialismus verwirklichen lassen. Wie können wir anfangen, diese Prinzipien in unserem Leben umzusetzen? Wir haben immer Hoffnungen und Utopien gehabt, die wir nicht auf zukünftige Generationen projizieren wollten. Stattdessen haben wir angefangen, unsere Hoffnungen und Utopien im Hier und Jetzt umzusetzen.“
Hass und Liebe
Das geht offenkundig, denn die Freund*innen in den Bergen tun es. Und es hat offenbar Einfluss auf die gesamte Bewegung, denn auch in jenen Städten, in denen die PKK viele Sympathisant*innen hat, entsteht ein neues Zusammenleben. Doch die Geschichte des Aufbaus dieses neuen Lebens ist zugleich eine, die große Opfer erfordert hat. Ohne die Bereitschaft von tausenden Genoss*innen – von Kemal Pir bis Zeynep Kinaci, von Mazlum Dogan bis Arin Mirkan –, für ihre Hoffnungen und Utopien ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wäre all das nicht möglich gewesen.
Die Menschen, die hier kämpfen, haben eine Lebensentscheidung getroffen. Die Revolution ist nicht etwas, was sie eben nebenbei auch noch machen. Sie ist auch nicht eine Einstellung, die sie eben haben, die sich aber ansonsten nicht auf ihr Leben auswirkt. Ebenso wenig ist sie eine nette Theorie, über die man so klug wie folgenlos sinnieren kann, bis man habilitiert oder ermattet ist. Sie ist das schlechthin Sinnstiftende im Leben.
Um dieser Aufgabe aber gerecht zu werden, braucht es einen Bruch mit all dem, was uns an das bestehende System bindet – und das ist nicht wenig. Das fängt dabei an, dass die Revolution ihre eigene Kultur braucht, ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Erzählungen. Sie braucht die Bildung der Revolutionär*innen, die theoretische wie praktische. Sie braucht die Offenheit und Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik unter Genoss*innen. Sie braucht den Bruch mit dem kapitalistischen Individualismus. Deshalb nennt sie Apo in seiner Schrift „nasil yasamali?“ – „Wie leben?“ – einen „Aufstand“ gegen die „vom Feind entwickelte Welt der Sozialisation, Beziehungen, Gefühle und Triebe“.
In so einem Aufstand müssen wir alles neu lernen. Wir müssen neu lernen, das, was uns unterdrückt, zu hassen, müssen unsere Gleichgültigkeit überwinden: „Wer keine Gefühle der Vergeltung, des Hasses und keine großen Emotionen empfindet, kann den Kampf nicht führen“, schreibt Apo. Und noch wichtiger: Wir müssen neu lernen, zu lieben. Unsere Gefährt*innen, unsere Genoss*innen und alle Unterdrückten, mit denen wir gemeinsam kämpfen. Diese Liebe, die nichts mit der „romantischen“/“sexualisierten“ zu tun hat, heißt in der kurdischen Bewegung Rehevalti, Genoss*innenschaftlichkeit. Öcalan beschreibt sie als Keimform künftiger Gesellschaftsbeziehungen: „Die genossenschaftliche Bindung muss von Geld, Hab und Gut, Eigentum und Besitz, Hausfrau und Macho-sein, Wunsch nach Konsumgütern, hinter seinen Sehnsüchten und Lüsten hinterher laufen, Machtbesessenheit, blindem Mut oder Furcht und allen ähnlichen Beziehungen, Gedanken, Aussagen und Taten, die vom Weg der Wahrheitssuche abbringen, fernbleiben.“ In ihr soll auch – durch das „Töten der Männlichkeit“ – die unterdrückende Rolle des Mannes gegenüber der Frau überwunden werden. Sich auf den Weg der Revolution zu begeben, heißt also, zugleich die eigenen Beziehungsmuster, die eigenen Verhaltensweisen, die eigenen Bindungen an das System zu überwinden. Es heißt Apo zufolge, „täglich das Leben zu erobern“ und zu einem „organisierten Menschen“ zu werden.
Um diesen Weg gehen zu können, braucht es eine Form der „Selbstverteidigung“, die noch lange bevor irgendjemand zur Waffe greift, stattzufinden hat: Eine kulturelle, intellektuelle und psychologische Selbstverteidigung gegen die Angriffe der kapitalistischen Moderne. Diesen umfassenden Begriff der Selbstverteidigung hat die kurdische Frauenbewegung am genausten ausgearbeitet. So schreibt etwa die Internationalistin Andrea Benario, dass auch die „Jineoloji“, die Aneignung von Geschichte und Wissenschaften aus weiblicher Perspektive eine Form der Selbstverteidigung sei, denn sie „vertieft die von Öcalan begonnen Vorschläge eines freien Zusammenlebens, der schrittweisen Auflösung der patriarchalen Familie, der Auseinandersetzung und Überwindung von Sexismus und Rollenstereotypen und sucht nach antipatriarchalen Grundlagen und Formen von Wirtschaft, Politik, Geschichte, Demografie, Ökologie, Bildung, Ethik und Ästhetik und Gesundheit.“ Dadurch trage sie dazu bei, zu erforschen, „wie Persönlichkeiten gestärkt werden können, um zu freien Persönlichkeiten zu werden.“
Dilsoz Bahar, ein junger antifaschistischer Internationalist, der in Rojava fiel, schrieb über die „ideologische Selbstverteidigung“, dass sie im Unterschied zu der bewaffneten, gegen physische Angriffe des Staates gerichtete, auf viel subtilere Attacken zu antworten haben: „Wir bemerken die Angriffe oft gar nicht, wir werden eingelullt und angelockt und geben uns sogar der Illusion hin, wir würden aus freiem Willen handeln.“ Die beste Antwort sei, „den Zusammenhang von Wort und Tat“ herzustellen: „Deshalb müssen wir aufhören, über unsere Utopien nur zu reden und damit anfangen, sie zu leben.“
Die „totale Scheidung“
Die Herausbildung einer gegen die kapitalistischen Erzählungen gerichteten eigenen Kultur ist natürlich kein Monopol der kurdischen Bewegung. Sie fand und findet überall dort statt, wo Menschen sich ernsthaft zusammenschließen, um mit dem Alten Schluss zu machen und dem Neuen zum Durchbruch zu verhelfen: In der Oktoberrevolution, im Krieg um Spanien 1936, in den südamerikanischen und asiatischen Guerilla-Bewegungen, in den Platzbesetzungsaufständen von Gezi, Puerta del Sol und Syntagma.
Die revolutionäre Kultur betrifft nicht allein die Schaffung von Liedern, Theaterstücken, Filmen und Literatur. Sie betrifft unser Selbstbild und unser Zusammenleben als Revolutionär*innen sowie unseren Umgang mit den Menschen, die wir gewinnen wollen. Das Herzstück der Herausbildung dieser Kultur muss permanente Kritik und Selbstkritik sein. Nur, wenn wir in der Lage sind, uns respektvoll, aber offen gegenseitig und selbst zu überprüfen, können wir in der Entwicklung unserer individuellen wie kollektiven Fähigkeiten voranschreiten.
Im Bezug auf die Überwindung von auf unterdrückerischen Geschlechtsidentitäten beruhenden Beziehungen beschreibt Öcalan diese Überwindung überkommener Verhaltensweisen als „totale Scheidung“: „Ich habe oft über die »totale Scheidung« geschrieben, also die Fähigkeit, sich von der 5000 Jahre alten Kultur der männlichen Herrschaft zu trennen.“ Diese „Scheidung“ sei zugleich Befreiung der Frau und des Mannes.
Die kurdische Bewegung verschiebt diese „Scheidung“ nicht auf einen lang entfernten Tag nach der Revolution, sondern begreift die Dialektik von Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung als einen ständig im politischen Kollektiv stattfindenden Prozess.
Revolutionäre Kultur
Nun kann es nicht darum gehen, das, was die kurdische Bewegung auf diesem Feld geschaffen hat, einfach zu kopieren. Es würde lächerlich wirken, wenn wir auf einmal Sutiks tragen und auf der Saz vom Dorfleben in Anatolien singen. Gemeinsamkeiten aber gibt es allemal: Das, was sie „Revolutionär*innen“ hier „Liberalismus“ nennen – Egoismus, ausufernder Alkohol- und Drogenkonsum, die Unfähigkeit zu kollektivem Leben, Disziplinlosigkeit, die Trennung von „Privatleben“ und Politischem, Karrierismus –, gibt es bei uns in wesentlich größerem Ausmaß als hier.
Wenn wir sie nicht überwinden oder sie im Gefolge bürgerlicher Ideologien sogar zur „Freiheit“ verklären, reproduzieren wir jene Mechanismen, die uns an das kapitalistische System binden. Unsere „revolutionäre“, „radikale“ Politik bleibt ein wohlfeiles Austoben innerhalb des Bestehenden, das an keinem Punkt eine wirkliche Gefahr für die herrschenden Verhältnisse darstellt.
# Peter Schaber; Foto: Willi Effenberger