[Perspektiven auf Selbstorganisierung in Griechenland 5/7] Kollektivbetriebe im Agrarsektor Kretas

20. Februar 2017

Im Zuge der Organisierungsbestrebungen in Griechenland gründen sich seit einiger Zeit vermehrt Kooperativen, welche aus einem anarchistischem Selbstverständnis heraus die Produktion von Lebensmitteln neu organisieren.

Auf Kreta besteht dabei natürlich eine besondere Nähe, denn neben dem Tourismussektor trägt die Landwirtschaft hauptsächlich zum Einkommen der Einwohner*innen bei. Angebaut werden dabei vor allem Oliven und Gemüse sowie Obst, welches nicht nur Kreta, sondern ganz Griechenland versorgt und darüber hinaus sogar exportiert wird. Während Bäuer*innen immer aggressiver unter dem Druck von Lizenzerwerbungen geraten, sei es von Pharma- und Agrarkonzernen und der Europäischen Union in Bezug auf Anbaurechten von „nicht-normierten“ Sorten, der Verwendung von (genmanipuliertem) Saatgut und Pestiziden, wird auch der globale Widerstand gegen diese Industrialisierung der Landwirtschaft, befeuert von Monsanto, EU & Co, größer.

Auf Kreta gibt es einige interessante Ansätze selbstorganisierter Netzwerkarbeit im Agrarsektor, die wir mit Michalis von der seit fast anderthalb Jahren bestehenden „Integral Cooperative Heraklion“ näher besprechen konnten. Einzelne Produzent*innen sowie zwei größere Kollektive, darunter das auch Deutschland bekanntere „becollective“, Exporteur*in von kooperativ produziertem Olivenöl und Honig, sind bereits in diesem Netzwerk aktiv.

In einem kleinen rustikalen Café im Stadtzentrum von Heraklion treffen wir ihn und kommen auch sogleich in das Gespräch.
Das Netzwerk fungiert sowohl als Netzwerk, als auch als Ansatz der Selbstorganisierung. Denn wir erachten es als wichtig, dass wir [die Kooperativen] miteinander kooperieren, anstatt voneinander separierte Gruppen und Personen zu sein, die einen Unterschied machen wollen“, beginnt Michalis. Wie in vielen Lebensbereichen, ist es erfreulich, dass selbstorganisatorische Ansätze in Griechenland auch vermehrt in der Landwirtschaft zu finden sind. Die meisten Mitglieder des Netzwerks sind dort tätig und „wir hatten uns überlegt, wie wir unsere eigenen biologischen Produkte herstellen und die Menschen in Heraklion unterstützen können“, führt er aus.
Dass die Selbstorganisierung entlang einer solidarischen Ökonomie auch sichtbar sein soll, war schnell klar. Mit „autonomen Märkten“ (im vorangegangenen Artikel auch am Beispiel von Vio.Me ausgeführt), besetzen die Kooperativen unangemeldet den Platz einer Stadt und werben für ihre Produktionsweisen und Produkte. „Wir möchten außerhalb des Euro-Systems sein und weder den Staat, noch den Euro unterstützen„, fährt er weiter fort und führt aus, dass sie ihre eigene Wirtschaft, jenseits der kapitalistischen, industrialisierten Landwirtschaft etablieren möchten.  Tatsächlich gab es in der vergangenen Zeit nicht nur in Athen und Heraklion vermehrt „illegale“ Märkte von Kooperativen, die nicht nur ihre Produkte, sondern auch den Aspekt der Selbstorganisierung in diesem häufig „unsichtbaren“ Bereich starkmachen.

Selbstverständlich befindet sich auch dieser Ansatz nicht in einer Blase außerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Und so werden vorübergehende Alternativen gesucht, mittels derer ein Austausch Mithilfe einer eigenen Währung, dem sogenannten „Fair Coin“, wird sich an eine bestehende, globale, virtuell funktionierende orientiert. [1] Zudem wird eine lokale Währung „Kouki“ verwendet, welche die lokale Community unterstützen soll.

Auf die provokante Frage, ob diese Produktionsweise sowie der Netzwerkgedanke eine Antwort auf die gesamtgesellschaftliche hohe Arbeitslosigkeit sowie Armut sein kann, ist Michalis optimistisch:
„Ich hoffe das. […] Wir hoffen, Leute zu empowern. Durch dieses Selbstorganisierungsprojekt […] zeigen wir Leuten, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen können, nicht mit jemanden, der meint dich retten zu können, einer politischen Partei oder sonst einer Institution. Wir müssen an unsere Kraft glauben, um Dinge ändern zu können. Wir brauchen keine Jobs, die von diesem System geschaffen werden. Wir müssen Arbeit schaffen, die wir wollen, vor dem Hintergrund, gerne gesellschaftliche Aufgaben erledigen zu wollen.“
Auch wenn eine Basisorganisierung sicherlich keine originär griechische Idee ist, ist der Bezug zu den letzten acht Jahren brutalisierter Spardiktate durch die Troika, seit 2015 die sogenannte Quadriga, deutlich. [2] Er weist daraufhin, welche Verantwortung die SYRIZA-Regierung an der desolaten sozialen Lage mitträgt und macht klar, dass die selbst entwickelten, solidarischen Wege die einzigen möglichen sind, das kapitalistische System sowie den Staat zu überwinden.
„Als vor 60 Jahren der Staat noch nicht so mächtig war, wir noch nicht der UNO beigetreten waren, versuchten Leute sich lokal selbst zu organisieren. Besonders hier auf Kreta. Es gab hier große Kooperativen. Aber später mischte sich der Staat ein […], das System korrumpierte diese und nur wenige [Chefs, Anm. d. Autors] bekamen die Profite.“


Nicht separiert, sondern verschränkt mit anderen Selbstorganisierungstendenzen, gründeten sich gerade in den ersten Jahren des finanzpolitischen Wütens der Troika zahlreiche Kollektivstrukturen. Michalis nennt zusätzlich die „Solidarity Clinics“ die all jenen medizinische Versorgung bietet, die aufgrund ihrer Illegalisierung oder der gewaltsamen Aussortierung aus der staatlichen Gesundheitsversorgung tödliche Konsequenzen drohten.
Zugleich gab es Bewegungen, die Produkte außerhalb der mit gestiegenen Inflation und durch die erhöhte Mehrwertsteuer enorm verteuerten Supermärkte und Großbetriebe zugänglich zu machen.
Der Kritik, dass kollektiv erzeugte Produkte meist deutlich teurer und dadurch wesentlich schwerer für von Armut betroffene Menschen erschwinglich sind, entgegnet er konkret.
Bei einer staatlich statistisch festgestellten Armutsquote von fast 50 Prozent bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ist das Problem gesamtgesellschaftlich. „Wir wollen keine Produkte für die Elite. Wir wollen, dass sie nah an den Menschen sind, die sie sich eigentlich nicht leisten können. Sagen wir, wir haben eine Person mit einem geringen Lohn. Wir sagen ihr: komm in unser Wirtschaftssystem. […] Wenn du in unser Wirtschaftssystem, beispielsweise mit der lokalen Währung, kommst, wirst du mehr davon haben.“ De facto bedeutet dies, dass in einem lokalen Rahmen durchaus ökonomische Systeme im Entstehen begriffen sind, die auf den ersten Blick weitgehend ohne Anbindung an den hegemonialen Euro auskommen. Auf die Frage nach möglichen Steuereintreibungen durch den Staat lächelt Michalis daher zweideutig. Doch trotz des auf den ersten Eindruck starken und vielfältig wirkenden selbstorganisatorischen Ansätzen, ist die Situation im Land kein Zuckerschlecken. Dennoch lassen sich gerade auf Kreta zahlreiche Kooperativen und Kollektivbetriebe ausfindig machen. Eher unscheinbar wirkend, wird versucht, in zahlreichen wirtschaftlichen Bereichen kollektiv zu wirtschaften. Während des Interviews passieren wir einen Falafel-Laden, der gerade noch die letzten Schliffe vor der Eröffnung in zwei Tagen erledigt.



Nach der parlamentarischen Machtübernahme SYRIZAS, meint Michalis jedoch insgesamt einen Niedergang jener gesellschaftlichen Bestrebungen festzustellen: „Viele sind müde. Sie haben gehofft, etwas würde sich ändern. […] Ich befürchte, dass viele anfangen dem TINA-Dogma zu glauben. [2] Wir strengen uns an, dies zu ändern, aufzuzeigen, dass es eine Alternative gibt. Wir müssen für diese Alternative kämpfen, nicht darauf warten, dass uns andere erretten.“
Insgesamt zieht Michalis ein desaströses Fazit für die Regierung. Ministerpräsident Tsipras hätte die selbstorganisatorischen Bewegungen inkorporiert. Denn vor der Wahl 2015 war SYRIZA personell und politisch sehr nah an Basisbewegungen. SYRIZA hätte vor der Wahl gesagt: Wartet, bis wir an der Regierung beteiligt sind, und wir ändern die Gesellschaft. Alles wird besser werden.

Da die Anarchist*innen jeglicher staatlich-instituionellen und parlamentarischen Repräsentation ablehnend gegenüberstehen, ist das selbstverständlich nicht überraschend. Wenn in der eigenen negativen Dialektik des Parlamentarismus, selbst „linke“ Kräfte politisch derart versagen und den Sozialabbau und die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums mittragen: was folgt daraus?
Der europäische Rechtsruck ist auch eine Zustandsbeschreibung der sogenannten Sozialdemokratie, welche in ihrer neoliberalen Verfasstheit nicht mehr in der Lage ist, so zu tun, als ob sie für die ausgegrenzten und geknechteten noch irgendein Angebot hätte. In Griechenland bereitet sich gerade die konservative, ehemalige Regierungspartei NEA DIMOKRATIA auf die Parlamentswahlen vor, auch nationalistischere Parteien sind nicht untätig. Im Zuge der Austeritätspolitik und der gesellschaftlichen Verarmung bekamen rechte Parteien vermehrt Zulauf.
Nachdem es in der Vergangenheit einige Verfahren gegen Mitglieder der faschistischen Partei „Chrysi Avgi“ gab und diese ab 2014 befürchtete verboten zu werden, tauchten zahlreiche militante Neonazis in Netzwerke unterhalb der Wahrnehmungsschwelle ab.
Nicht als Antwort auf die reaktionären Gefahren, sondern als solidarischer gesellschaftlicher Aufbau von unten, dienen die Selbstorganisierungsprozesse. Zeit dafür, nicht nur hierzulande darüber zu diskutieren, sondern diese in die Praxis zu überführen. Denn nur wenig ist gefährlicher, als das Versagen und die Abstinenz vorgeblich „linker“ Parteien, die aufgrund ihrer neoliberalen Politik den konservativen und reaktionären Parteien die Zustimmung sichern. Michalis sieht darin eine große Gefahr der SYRIZA-Politik, die in der Wahlperiode die Faschisten wieder nach oben spülen kann. Seiner Einschätzung nach liegen diese aktuell bei immerhin 8 bis 9 Prozent. Die Gründe für die latente Stärke von rechts sieht er auch in dem gebrochenen Vertrauen, welches die SYRIZA-Regierung gegenüber den Basisbewegungen angerichtet hat. Als 2011 und 2012 immer wieder die Plätze im Land besetzt wurden, als Protest gegen die Sparauflagen der EU und den Internationalen Währungsfonds (IWF), war es letztlich SYRIZA, die versuchte, wahlpolitischen Profit aus der Nähe zu Basisbewegungen zu ziehen. [3]
Was in der Regierungsverantwortung folgte, war nun ein Melange aus Abspaltungen und Frakturen innerhalb basispolitischer Gruppen.
Um mit einer anarchistischen Perspektive auf jene bürgerlichen Enttäuschungen zu antworten, wirbt das Netzwerk um aktive Beteiligung in kollektivistischen Zusammenhängen:
„Wir wollen, dass die Leute an der Kollektivität beteiligt sind. Wir sprechen darüber, wie wir unser Leben organisieren möchten. Es geht nicht darum, von einem Boss angestellt zu werden, einen Lohn zu bekommen. Arbeit bedeutet mehr als Lohn. Es geht darum, das Leben zu organisieren.“

Das Netzwerk träumt dabei nicht nur davon, lokal Menschen zusammenzubringen, sondern auch global (landwirtschaftliche) Produkte zu tauschen, kollektive Ansätze von unten der kapitalistischen Produktionsweise entgegenzusetzen. Das wäre eine wirklich solidarische Ökonomie, die zuerst nur im Prozess lokal aufgebaut und dann global weitergeführt werden muss. Bei der scheinbar enorm gewachsenden Anzahl von kooperativ oder kollektiv geführten Betriebe muss jedoch kritisch gesehen werden, dass der politische Anspruch einiger weit hinterherhinkt. Eine alternative Arbeitsorganisierung innerhalb des Kapitalismus ist sinnfrei. Politische Netzwerke, bspw. im Agrarsektor, können jedoch genau dort ansetzen: der kollektiven, bewusst antikapitalistischen Produktion und Versorgung von Menschen mit Nahrungsmitteln.

von Felix Protestcu

[1] Fair Coin ist eine digitale Währung, die inzwischen weltweit von Kooperativen und anderen Kollektivbetrieben verwendet wird. Eine intensive Beschäftigung mit diesem Währungssystem steht dabei noch aus:
https://fair-coin.org

[2] TINA-Prinzip, nach Margaret Thatcher, britische Premierministerin: stellte während ihrer Amtszeit die Forcierung neoliberalisierter Wirtschaftspolitik als „alternativlos“ dar, was in eine umfassende Verarmung weiter Teile der Arbeiter*innenklasse sowie zum radikalen Rückbau von Sozialsicherungssystemen führte

[3] Andreas Kloke zeichnet bei „scharf links“die griechische Platzbesetzungsbewegung nach:
https://www.scharf-links.de/44.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=16873&cHash=b09a86b1ce

weitere Informationen zu Projekten von basispolitischen Kooperativen (in English):
https://cooperativas.gr

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